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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Rivals Unglück.

Sie saßen beide in des Doktors Zimmer. Durch das Fenster erblickte man die schöne Herbstlandschaft und hinter den entlaubten Bäumen den alten Dorfkirchhof mit seinen hinfälligen, schiefen Kreuzen.

»Du bist niemals dort drüben gewesen?« fragte Herr Rivals, auf den Kirchhof deutend, »sonst hättest Du wohl mitten im Gestrüpp einen weißen Stern mit der Inschrift »Magdalene« bemerkt. Meine Tochter, Cäciliens Mutter, liegt dort begraben. Sie wollte abseits ruhen und nur den Vornamen auf ihrem Grabstein haben, weil sie sich für unwürdig hielt, ihres Vaters Namen zu tragen. Das teure Kind! So stolz und ehrenhaft! Und doch verdiente sie diese Verbannung nicht, denn wenn jemand Strafe verdiente, so war ich alter Narr es, dessen unbegreiflicher Leichtsinn unser ganzes Unglück verschuldet hat.

Vor achtzehn Jahren wurde ich an einem Novembertage wie heute bei einem Jagdunglück zu Hilfe gerufen, wie es bei den großen Jagden im Sénartwalde drei oder vier Male im Jahre vorkommt. Einer der Jäger hatte die ganze Ladung eines Lefaucheux ins Bein bekommen. Bei Archambaulds fand ich den Verwundeten, einen hübschen, stattlichen Mann von dreißig Jahren, mit hellen, nordischen Augen. Er ließ sich geduldig ein Schrotkorn nach dem andern entfernen und dankte mir nach beendeter Operation im reinsten Französisch, aber mit fremdartiger, singender Aussprache. Ich erfuhr, daß er ein vornehmer Russe sei. »Graf Nadine« hatten ihn seine Jagdgenossen genannt.

Trotz der ziemlich gefährlichen Verletzung war Nadine dank seiner Jugendfrische bald wieder wohlauf, nur das Gehen verursachte ihm noch Schwierigkeiten, und um ihn vor der Langeweile und der wortkargen Gesellschaft Vater Archambaulds zu retten, holte ich ihn oft mit meinem Wagen ab; er aß dann bei uns und blieb bei schlechtem Wetter wohl auch über Nacht. Ich muß gestehen, ich betete den Schuft förmlich an. Er wußte aber auch überall Bescheid, hatte gedient, eine Reise um die Welt gemacht, kannte das Kriegs- und Seewesen. Meiner Frau gab er heimische Rezepte und meiner Tochter lehrte er russische Volkslieder. Wenn ich abends, von Wind und Regen zerzaust, heimkehrte, freute ich mich schon darauf, ihn am behaglichen Feuer zu finden. Nur meine Frau theilte die allgemeine Begeisterung nicht ganz, doch war dies wohl nur eine Eigentümlichkeit ihres Charakters.

Indessen erholte sich unser Patient mehr und mehr, ja er hätte schon längst nach Paris zurückkehren können, aber er blieb noch immer.

Da sagte mir eines Tages meine Frau:

»Höre, Rivals, entweder muß sich Herr Nadine erklären, oder er darf unser Haus nicht mehr so oft besuchen; man spricht über ihn und Magdalene.«

»Magdalene, wieso denn?«

Ich hatte mir eingebildet, daß der Graf nur meinetwegen in Etiolles blieb, ich Dummkopf! Ich hätte lieber meine Tochter beobachten sollen, wenn er eintrat, wie sie die Farbe wechselte und sich über ihre Stickerei beugte; nun mußte ich mich durch den Augenschein überzeugen, denn Magdalene hatte der Mutter gestanden, daß sie sich liebten. Ich begab mich also sogleich zum Grafen, um eine Erklärung zu fordern. Nun, er erklärte sich auch mit einer Offenheit, die mein Herz gefangen nahm. Er liebte meine Tochter und hielt um sie an, ohne mir indessen zu verschweigen, daß seine adelsstolze Familie dieser Verbindung Hindernisse in den Weg legen würde. Er fügte hinzu, daß er auf die Einwilligung seiner Eltern verzichten und von seinen Einkünften bescheiden lebe wolle. Seine leichte Art, diese Angelegenheit zu ordnen, bestach mich, kurz ... er wurde als Schwiegersohn aufgenommen. Dennoch fühlte ich, daß die Sache nicht ganz in Ordnung war, aber das Glück meines Kindes ließ keine ernsten Gedanken aufkommen, sodaß ich auf den Vorschlag meiner Frau, doch Erkundigungen einzuziehen, nur über ihr beständiges Mißtrauen spottete. Dennoch fragte ich einen der Jagdpächter nach dem Grafen.

»Ja, mein lieber Rivals, den Grafen Nadine kenne ich kaum, ich würde mich an Ihrer Stelle an die russische Gesandtschaft wenden.«

Du glaubst wohl, mein lieber Jack, daß ich nun nichts Eiligeres zu tun hatte, als mich bei der Gesandtschaft zu erkundigen? Nein, dazu war ich zu sorglos, und als mich meine Frau beständig mit diesen Erkundigungen quälte, log ich ihr etwas vor: »Jawohl, ich bin dort gewesen, eine ausgezeichnete Familie das, und steinreich dazu.«

Der Winter verging über all' diesen Verhandlungen. Die Papiere des Grafen blieben aus; seine Eltern verweigerten die Einwilligung. Endlich kam ein Packet unleserlicher Hieroglyphen, Taufscheine und Militärpapiere. Am meisten belustigte uns ein Bogen, der ganz mit den Titeln und Namen unseres zukünftigen Schwiegersohnes angefüllt war.

»Hast Du wirklich so viel Namen?« fragte ihn lachend meine arme Tochter, die einfach ›Magdalene Rivals‹ hieß.

O, der Schuft hatte noch viel mehr.

Es war die Rede davon, die Hochzeit mit großer Pracht in Paris zu feiern, dann besann sich aber Nadine wieder, daß es thöricht wäre, der elterlichen Gewalt offenen Widerstand zu leisten, und so fand die Feier in der schlichten Dorfkirche von Etiolles statt. Es war ein schöner Tag! Ich sehe die Beiden noch glückstrahlend im Wagen sitzen, als sie nach der Trauung ihre Hochzeitsreise antraten. Die Briefe, die wir aus Florenz und Pisa erhielten, strahlten von Glück und Sonnenschein. Unterdessen sorgten wir für unsere Kinder, richteten ihnen ein Häuschen neben dem unsrigen ein und suchten Tapeten und Möbel aus; in der nächsten Zeit wurden unsere Reisenden zurückerwartet.

Eines Abends kam ich sehr spät von meinen Besuchen heim und saß noch allein beim Essen, während meine Frau schon schlief. Da hörte ich hastige Schritte im Garten, auf der Treppe, die Thür ging auf – meine Tochter trat ein. Es war nicht mehr die hübsche, junge Frau, die ich vor einem Monat hatte abreisen sehen, sondern ein elendes, bleiches Geschöpf in ärmlicher Kleidung.

»Da bin ich.«

»Mein Gott, was ist denn geschehen, wo ist Nadine?«

Sie antwortete nicht, sondern schließt die Augen und zittert. Du kannst Dir meine Angst vorstellen!

»Um Gotteswillen, sprich, mein Kind, wo ist Dein Mann?«

»Ich habe keinen, ... habe nie einen gehabt.«

Und plötzlich setzte sie sich dicht neben mich und erzählt mir leise, ohne aufzusehen, ihre entsetzliche Geschichte ...

Er war kein Graf Nadine, sondern ein kleinrussischer Jude Namens Rösch. Er war schon in Riga und Petersburg verheiratet.

Seine Papiere waren gefälscht, und seine Geldmittel verdankte er nur seiner Geschicklichkeit, russische Banknoten nachzumachen; in Turin hatte man ihn festgenommen; sie war geflohen, hatte ihre Kleider und Schmucksachen, die der Elende ihr geschenkt, im Hotel zurückgelassen. Nun befand sie sich in sicherer Hut und konnte zum ersten Male seit dem entsetzlichen Ereignis weinen.

Am nächsten Morgen teilte ich meiner Frau alles mit. Sie machte mir nicht den geringsten Vorwurf.

»Ich wußte,« sagte sie nur, »daß diese Heirat mit einem Unglück enden würde.«

Aber noch war das Unglück nicht zu Ende, unser Haus blieb still und einsam; und wenige Tage, nachdem sie uns die kleine Cäcilie geschenkt hatte, starb Magdalene. Unter ihren Kopfkissen fanden wir einen zerknitterten, von Thränen halbverlöschten Brief Nadines; sie mag ihn oft gelesen haben, und ich bin überzeugt, sie hat den Elenden bis zuletzt geliebt.

Ich glaube, wenn wir die kleine Cäcilie nicht gehabt hätten, so wäre meine Frau mit ihrer Tochter gestorben. Aber das Kind mußte erzogen werden, ohne daß es das traurige Geheimnis seiner Geburt erfuhr. Eine schwierige Aufgabe! Vor dem Vater waren wir ja sicher, da dieser wenige Monate nach seiner Verurteilung starb; aber unglücklicher Weise kannten zwei oder drei Personen im Dorfe die ganze Geschichte. Es handelte sich also darum, Cäcilie vor müßigem Geschwätz zu bewahren. Du weißt, wie einsam die Kleine lebte, ehe sie Dich kennen lernte. Dank dieser Vorsicht weiß sie noch heute nicht, unter welch' traurigen Verhältnissen sie geboren wurde.

Dennoch beunruhigte mich die Zukunft. Meine Enkelin konnte nicht für immer in Unwissenheit über ihre Herkunft bleiben. Und was sollte geschehen, wenn sie einen Mann liebgewann, und dieser sich zurückzog, wenn er die Wahrheit erfuhr, daß sie die Tochter eines Fälschers sei?

»Sie wird nicht heiraten, sondern stets bei uns bleiben,« meinte die Großmutter. Und wenn wir nicht mehr waren, sollte sie dann einsam, ohne Beschützer in der Welt zurückbleiben? Da kam Deine Mutter hierher; man hielt sie für d'Argentons Frau, aber Mutter Archambauld klärte mich bald über das Verhältnis auf; nun ward es auf einmal hell um mich her. Als ich Dich sah, sagte ich mir »das ist ein Gatte für Cäcilie,« und von dem Augenblick an, betrachtete ich Dich als meinen Enkel und begann Dich zu erziehen, zu unterrichten. Ich hatte mir im Geiste schon alles ausgemalt; ich sah Euch als erwachsenes Paar zu mir kommen: »Großvater, wir lieben uns,« dann hätte ich geantwortet: »Ich glaube, daß Ihr Euch gut seid, Ihr armen Ausgestoßenen ... Ihr werdet einander alles sein müssen.« Deshalb geriet ich auch so in Zorn, als jener Mann einen Arbeiter aus Dir machen wollte.

Nun höre mich an, Jack: Du liebst mein Kind, nicht wahr? Du möchtest sie Dir erringen? Ich habe Dich zwei Monate lang beobachtet, physisch und moralisch geht es Dir gut. Nun höre: versuche Arzt zu werden, dann sollst Du meine Praxis hier in Etiolles übernehmen. Ich wollte Dich erst hier behalten, aber Du brauchst vier Jahre, um Heilgehülfe zu werden, was ja hier auf dem Lande genügt, aber ich will nicht, daß Deine Anwesenheit die alten Geschichten wieder hervorruft; außerdem bedrückt es einen ehrlichen Menschen, wenn er sich seinen Lebensunterhalt nicht selbst erwerben kann. In Paris kannst Du tagsüber arbeiten und Abends bei Dir oder in der Klinik studieren. Sonntags erwarten wir Dich hier, ich will Deine Arbeit beaufsichtigen, Dir helfen, und Cäciliens Anblick wird Dir Kraft geben. Du wirst Dein Ziel schon erreichen, Nelpeau und andere haben es gethan. Cäcilie ist der Lohn für diese Anstrengung.«

Jack war so bewegt und gerührt, daß er, ohne ein Wort zu sagen, dem trefflichen Manne um den Hals fiel.

Nur ein Zweifel blieb ihm noch. Empfand Cäcilie mehr als schwesterliche Freundschaft für ihn, würde sie vier Jahre lang warten wollen?

»Ach was, mein Junge,« versetzte Herr Rivals vergnügt, »für ihre persönliche Meinung stehe ich nicht ein, aber ich erlaube Dir, Dich selbst davon zu überzeugen. Sie ist oben, rede mit ihr.« –

Cäcilie schrieb in der Apotheke. Niemals war sie Jack so schön vorgekommen, selbst nicht am ersten Tage. Aber auch mit ihm war eine Veränderung vorgegangen, seine Züge waren schön und lebhaft, die schüchternen, unbeholfenen Bewegungen waren verschwunden.

»Cäcilie,« begann er, »ich reise ab.«

Sie erblaßte und erhob sich.

»Ich nehme meine schwere Arbeit wieder auf, aber ich habe jetzt ein Ziel vor mir. Ihr Großvater hat mir erlaubt, Ihnen zu gestehen, daß ich Sie liebe, und daß ich versuchen will, Sie zu erringen.«

Er sprach mit so leiser, zitternder Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte, aber Cäcilie verstand ihn. Anstatt zu erröten oder das Gesicht mit den Händen zu bedecken, wie es wohlerzogene, junge Mädchen zu thun pflegen, blieb das sonderbare Geschöpf hochaufgerichtet vor ihm stehen.

»Jack,« antwortete sie und reichte ihm treuherzig die kleine Hand, »ich will auf Dich warten.«


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