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Fünfzehntes Kapitel.
Eugenetische, Notzuchts-, Minderjährigkeits-Anzeige

Wenn ich mir vorstelle, daß der eine oder andere Pfarrherr, behaglich im Lehnstuhl, in seinem geräumigen Studierzimmer sitzt und, umgeben von der Ruhe des großen Pfarrhauses, diese Abhandlung liest, von diesen Nöten seiner Volksgenossen vernimmt, die ich berichtete, wenn ich mir dies im Geiste vorstelle, dann kann ich mir nicht denken, daß er als Christ diese Menschen ohne weiteres verdammen kann, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen. Auch der Arzt als Leser muß Verständnis für die allgemeine Notlage bekommen, wenn er noch nicht ganz abgestumpft ist, und um schließlich zu dem Geistesarbeiter zu kommen, der durch seine Berufsausbildung zum einseitigsten wissenschaftlichen Denken erzogen wird: der Rechtsgelehrte! Selbst ihm muß ein mitleidsvolles Verständnis aufgehen, wenn er ein Herz in der Brust hat. Man wolle, bitte, aus diesen und ähnlichen Ausführungen nicht etwa schließen, daß ich ein Feind aller dieser geistigen Arbeiter sei. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Ich gehöre selber zu ihnen und stamme, schon in vierter Geschlechtsfolge, von Geistesarbeitern ab. Gerade weil ich den gesteigerten Wert, den diese Menschen für unser Volk haben, so klar erkenne, möchte ich ihnen die Binde von den Augen nehmen, damit sie endlich und alle die Zustände in unserem Volke so sehen lernen, wie sie wirklich sind, und nicht, wie sie glauben, daß sie sind. Und nun, ihr klugen und gebildeten Männer, die ihr mit zärtlicher Liebe an eurer Frau, an euren heranwachsenden Töchtern hängt, gestattet mir, euch drei verschiedene Möglichkeiten auszumalen, die für jeden von euch eintreten könnten. Deine Frau, lieber Kollege, hatte das Unglück, statt euch mit gesunden Kindern zu beschenken, ganz schwachsinnige zur Welt zu bringen. Nehmen wir an, dies sei bereits einige Male geschehen, drei oder vier dieser unglücklichen Geschöpfe müßten von euch in Pflegeanstalten erhalten werden. Oder: Deine fünfzehnjährige, frühentwickelte Tochter, Herr Pastor, ist durch einen Wüstling verführt und in andere Umstände gebracht worden! »Das kann uns nicht geschehen!« denkt ihr vielleicht. O doch! Ich habe solche kaum erklärbaren Fälle in gebildeten Familien miterlebt. – Ein drittes Bild! – Herr Rechtsgelehrter! – Deine einzige Tochter, ein feines zartes Mädchen, dein Augapfel, würde während eines Spazierganges von zwei aus dem Zuchthaus entsprungenen Raubmördern überfallen, genotzüchtigt und schwanger. Du weißt, daß die Schwangerschaft nicht nur den Körper, sondern auch die Seele belastet und verändert. Du weißt als erfahrener Psychologe, was von dem Kind des Verbrechers, das auch dein eigenes Blut führt, alles an Schrecklichem erwartet werden müßte, auch wenn es noch so sorgfältig erzogen würde! Es wäre im Grunde ganz gleichgültig, welchen Ständen die Unglücklichen angehörten, bei denen Ereignisse einträten, wie ich sie schilderte. Ich habe die drei Beispiele selbst auf die Gefahr hin, daß man mich geschmacklos schelten könnte, auf bestimmte höhere Kreise zugeschnitten, um denen, auf deren Gesinnungswechsel es mir ganz besonders ankommt, fest ans Herz zu greifen. Selbstverständlich ist es für mich, daß jeder Deutsche den gleichen Anspruch auf Recht und Gesetz hat. Nun beantwortet mir die Frage, ihr, die ich ansprach: Soll man nun in Fällen, wie ich sie durch drei Beispiele anzudeuten wagte, nicht unbedingt die Unterbrechung der Schwangerschaft erlauben?! Das wäre dann die sogenannte »eugenetische, Notzuchts- und Minderjährigkeits-Indikation«. Wenn ich sie für unbedingt geboten halte, so setze ich voraus, daß die Verhältnisse ganz klar lägen oder in einem sich in Tagen – nicht Wochen – zu erledigenden Verfahren geklärt würden, wenn es sich um Minderjährige oder Genotzüchtigte handelte. Es scheint sich zu erübrigen, den Beispielen, die ich gab, noch viel Worte hinzuzufügen. Wer durch sie nicht überzeugt worden ist, will sich wohl nicht überzeugen lassen, und ich kann ihm nur wünschen, daß er nicht in eine der grausamen Lagen kommen möge, die ich ausmalte.


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