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Zehntes Kapitel.
Frauenwelt und § 218

Es konnte nicht unterbleiben, daß in einer Frage, die genau genommen vorwiegend das weibliche Geschlecht betrifft, tapfere Frauen aller Länder in Wort und Schrift sich für eine Verbesserung der bestehenden Gesetze einsetzen. Es ragen da zwei in englischer Sprache erschienene Bücher hervor, das eine aus der Feder Doktor Marie Stopes »married love« (Liebe in der Ehe) und »Die neue Mutterschaft« (Geburtenregelung als Kulturproblem) von Margaret Sanger, letzteres von Regine Deutsch übersetzt. »Married love« ist in über 500 000 Exemplaren in England verkauft worden, und der ungeheure Widerhall, den Margaret Sangers »Neue Mutterschaft« fand, zeigt doch, daß weite Kreise aufzuwachen beginnen. Man muß den Ausführungen rechtgeben, die von »einer brennendsten Frauenfrage, die eine Menschheitsfrage und für die Arbeiterschaft einfach die Lebensfrage sei,« sprechen. Das Ziel, durch bessere Löhne, kürzere Arbeitszeit ein neues System des Aufstiegs der Arbeiterschaft zu erlangen, bedeutet, ihre Zahl vermindern. Wir wollen nicht auf Krieg, Hungersnot, Epidemien warten, die dies bewirken. »Wir wollen nicht mehr unerwünschte Kinder zur Welt bringen, die, nur zum Leiden geboren, unsere Bürde vergrößern und dann sterben.« Der innere Zusammenhang von Bevölkerungszunahme und Krieg wird klar aufgezeichnet und gipfelt in dem Satz: »Die Schuld Deutschlands am Kriege war seine zu große Geburtenzahl.« Eine klarere, ehrlichere Verneinung der gehässigen »Kriegsschuldlüge« ist bisher vom früher feindlichen Lager aus noch nie erfolgt! Andauernde Wohnungsnot, gesteigerte Tuberkulose, allgemeine Schwächung der körperlichen, geistigen und sittlichen Volkskraft, – das sind die Aussichten, die sich bei der Fortdauer der heutigen Zustände eröffnen. Daß Margaret Sanger, daß der Malthusianismus, dessen begeisterte Vorkämpferin sie ist, sich auf dem richtigen Wege befinden, das beweist die Abnahme der Säuglings- und der allgemeinen Sterblichkeit in den Ländern wie Holland und Australien, die klinische Unterweisung über Empfängnisverhütung eingeführt haben. M. Sanger stellt dann weiter fest: »Noch befinden sich die sogenannten Kulturvölker in ungehemmtem Wachstum. Deutschland schwoll von 41 Millionen im Jahre 1871 auf 67 Millionen im Jahre 1914, die auf demselben Bodenareal ernährt werden sollen. Ähnlich liegen die steigenden, immer steigenden Ziffern überall. Japan hat jährlich dreiviertel Million Zuwachs, wird in fünfzig Jahren ein Hundertmillionenvolk sein. Es muß also aus Not des Menschenüberflusses in andere Länder entweder kriegerisch oder als billiges Arbeiterheer eindringen; jedes andere Land muß das gleiche tun. Die Konsequenzen sind gegenwärtiges und noch mehr künftiges Elend der Menschheit. Aus ungehemmten Geburten folgert das Wachstum gesundheitlich geschwächter, schnell degenerierender Massen. Denn die gehobenen Schichten haben längst in allen Kulturländern die Beschränkung ihrer Kinderzahl; es wird also ein quantitatives Anschwellen der Menschheit bei Abnahme der körperlichen – und brauchen wir zu zweifeln? – der geistigen Qualitäten vor sich gehen.«

»Das ist die heutige Perspektive, in die die Kinder hineinwachsen. Mangel an Lebensmöglichkeiten, immer schwereres und immer knapperes Brot für die große Mehrzahl der Menschen, Tuberkulose, permanentes Wohnungselend sind der Teufelsschwanz. Die Einbildungskraft erlahmt bei der Vorstellung, wie es in hundert Jahren auf der Welt aussehen soll. Immer wütender, neidischer, erbarmungsloser muß sich der Daseinskampf abspielen, – wenn nicht die Frauen in die volle Verantwortung gegenüber allem Lebenden einzutreten wissen und die Künftigen wie sich selber vor dem alles erstickenden Riesenwachstum schützen. Bisher galt Kenntnis des eigenen Körpers und seiner wichtigsten Funktionen für Frauen unschicklich; Unwissenheit in sexuellen Fragen als ehrenvoll. Die Folgen sind schrecklich genug: in Deutschland werden die jährlichen Abtreibungen auf eine halbe Million geschätzt. (Anmerkung des Verfassers: Diese Schätzung ist nicht nur meiner Meinung nach viel zu gering! Wenn man alles erführe, was vorgeht, würde die doppelte Zahl herauskommen. Es sterben ja allein wenigstens 25 000 Frauen an den Folgen der Schwangerschaftsunterbrechung. Wie ungeheuer groß diese Zahl ist, wird einleuchten, wenn wir uns vor Augen halten, daß im Jahr nur 31 000 Menschen in Deutschland an Tuberkulose sterben. Dabei beherrscht die Tuberkulosefrage doch eigentlich völlig die Gedankenwelt der Hüter der Volksgesundheit. Und was geschieht in der uns bewegenden Frage? Hier, wo es sich um wertvolle Menschen, Frauen im besten Alter, Familienmütter, die als nahezu unersetzbar anzusehen sind, handelt, hält man starr an mittelalterlichen Einstellungen fest. Der preußische Staat setzt allerdings für die Unterstützung schwangerer Mütter als Ausgabe im Haushaltsplan eine knappe halbe Million Mark ein. Das ist aber gewiß nicht viel, wenn man erfährt, daß für Zuchthengste jährlich das reichlich Zwölffache, nämlich 6 Millionen, ausgeworfen werden. Dies beweist, wie wenig der Wert einer gebärfähigen Frau an manchen Stellen erkannt wird.)

In Amerika, wo ein seit 1873 bestehendes Gesetz die Verbreitung der empfängnisverhütenden Mittel verbietet, steht die Zahl der Abtreibungen an der Spitze aller Völker. »Unzählige geschwächte, gequälte, oft lebenslang kranke Frauen schleppen in allen Ländern die Last unerwünschter Geburten, bringen Leben zur Welt, dessen Dasein das Elend ihrer Familien vermehrt oder beladen ihr Gemüt mit einer vom Innersten stets als verwerflich und niedrig empfundenen Handlung. Männliche Reaktionäre aller Lager, die sich als Verwalter der mittelalterlichen Reste unseres öffentlichen Lebens fühlen, werden protestieren und den – »geheiligten Naturwillen« – oder »Gottes Willen« hervorholen. Wann und wo hätte ihnen sonst dieser »heilige Willen« Respekt abverlangt? Bei der Tötung der zwölf Millionen bester und kräftigster Männer im Weltkriege? Oder werden die Leben gewogen, die stündlich, minutlich in Industrie, Verkehr, Bergbau vorzeitig zugrunde gehen? Wir sehen an allen Enden der Kulturmenschheit eine wahnsinnige Vergeudung und Geringschätzung des Menschenlebens, des allzu billigen.« Margaret Sanger spricht von der Unmoral, die in der Schaffung großer Familien liegt; sie fordert Heiligung des Lebens durch bewußte Geburtenregelung, durch das Verantwortungswissen aller Eltern, die Lebensmöglichkeit und Lebensgenuß ihrer Kinder erst sichern, ehe sie ihnen das Dasein geben. Das Amt ist wesentlich Frauenamt. Man wird es ihnen (den Frauen) mit manchen Mitteln zu verleiden und zu erschweren suchen, nur die logischen Mittel werden schwach sein. Gibt es trotzdem noch einen Zweifel, daß dieser Weg der freien Entschlüsse zu Kindern in zehn, – – in längstens zwanzig Jahren allgemein begangen sein wird?«

Kollwitz: Kneipe

Wenn ich erwähnte, daß tapfere und kluge Frauen sich mutig im Kampf gegen den Abtreibeparagraphen einsetzten, darf ich die deutsche Ärztin Dr. Hermine Heusler-Edenhuizen nicht vergessen. Im B. T. vom 14. April 1927 hat sie unter dem Titel »Ändert § 218!« einen leidenschaftlichen Aufsatz veröffentlicht.

Auf die Dauer kann ein Gesetz doch nur dann existieren, wenn es vom Willen des Volkes getragen wird. Das kann man vom § 218 des Gesetzes wirklich nicht mehr sagen. Wie himmelweit Volksempfinden und Gesetz auseinandergehen können, mag eine Zeitungsnotiz erhellen, die ich ohne jede Bemerkung bringe, wie sie in diesem Jahre erschienen ist (wohlgemerkt in keinem sozialistischen Blatte).

Massenprotest gegen § 218. Es ist keine sensationelle Nachricht, wenn man liest, daß in Rheydt (Rheinland) zwei praktische Ärzte auf Grund des berüchtigten § 218 StGB, wegen Verbrechens gegen das keimende Leben zu einem Jahr bzw. zehn Monaten Gefängnis verurteilt wurden; von Prozessen dieser Art hört man leider oft genug. Aber gelegentlich dieses Falles begab sich etwas ganz Neues, gewissermaßen Unerhörtes: am Tage, ehe die Verteidiger plädierten, protestierte in Rheydt eine nach Tausenden zählende Versammlung öffentlich gegen eine Verurteilung der beiden Angeklagten und ehrte sie als ihre Wohltäter durch Erheben von ihren Sitzen. Zum ersten Male ist es geschehen, daß das Volk selbst zwei »Verbrecher« gegen den § 218 freisprach, die das Gericht – im Namen des Volkes! – verurteilte. Selten hat ein Abtreibungsprozeß so deutlich wie dieser klargemacht, daß sich der § 218 vor allem gegen die unbegüterten Schichten des Volkes richtet, gegen die breite Masse des Volkes.

Es darf übrigens nicht verschwiegen werden, daß auch bei den Staatsregierungen hier und da Flämmchen eines fortschrittlichen Geistes aufzucken. Dieser Geist prägt sich zum Beispiel in der besonderen Erklärung aus, die der Hamburgische Reichsratsvertreter aus Anlaß der Beratung der Strafrechtsreform abgegeben hat. Diese Erklärung ging dahin, daß Hamburg beabsichtige zu beantragen, dem Abtreibeparagraphen eine besondere Bestimmung einzufügen, die die soziale Indikation für straffrei erklären soll.


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