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31.

Seit drei Tagen weilte Lothar nun in Wildenfels, ohne das Geringste über Jonny ermittelt zu haben. Jeden Tag sah er die Postsachen durch. Er hoffte, Jonny werde wenigstens an Grill ihre Adresse schreiben. Daß Jonny dies schon wenige Tage nach ihrer Abreise getan hatte, wußte er nicht. Gräfin Susanne hatte den Brief einfach an Jonny zurückgehen lassen mit dem Bemerken, daß sie ihr einen Briefwechsel mit Bewohnern des Schlosses nicht gestatte.

So aufmerksam Lothar auch die Postsachen kontrollierte, er fand nichts, was ihm einen Fingerzeig gegeben hätte.

Am vierten Tage saß er allein im Speisesaal beim Frühstück, als Schiffler wie jeden Morgen eintrat und ihm die Posttasche vorlegte. Nachdem der Hausmeister sich zurückgezogen hatte, öffnete Lothar die Tasche mit dem Schlüssel, den er sich hatte anfertigen lassen. Einige Briefe und Drucksachen lagen darin. Lothar sah sie erst nur flüchtig durch, weil er nach Jonnys Handschrift suchte. Langsam legte er einen nach dem anderen wieder hinein mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck. Zuletzt hielt er noch ein geschäftsmäßiges Kuvert in der Hand, welches an seine Mutter adressiert war. Schon wollte er es zu den anderen legen, als er bemerkte, daß durch das dünne Kuvert die Schriftzüge des einliegenden Briefes durchschimmerten. Mechanisch näherte er es seinen Augen und plötzlich setzte er sich mit einem Rucke aufrecht und sah scharf und angestrengt auf das Kuvert. Ganz deutlich erkannte er nun oben in der Ecke einige Worte.

»Jena – Pension Brinkmann.«

Diese drei Worte übten eine überraschende Wirkung auf ihn aus. Er sprang auf und schwang den Brief wie eine Siegestrophäe in der Luft. An das Fenster tretend, prüfte er noch einmal, das Kuvert fest auflegend, ob er richtig gelesen hatte.

Nun prüfte er den Poststempel. Es stimmte – der Brief war in Jena zur Post gegeben worden. Einen Moment schwankte er, ob er den Brief öffnen sollte. Aber dann warf er ihn doch uneröffnet in die Posttasche zurück, verschloß sie und gab sie dem herbeigerufenen Hausmeister wieder zurück. Dabei sah er nach der Uhr.

»So, Schiffler, die Posttasche kann dann meiner Mutter übergeben werden, wenn sie danach verlangt. Aber reinen Mund halten, verstanden?«

»Sehr wohl, Herr Graf.«

»Und dann einen Wagen – ich fahre zur Stadt.«

Schiffler zog sich zurück und Lothar eilte hinauf. Endlich konnte er handeln, endlich wußte er, wo er seine liebe, kleine Jonny suchen konnte. Heiß und unruhig jagte das Blut durch seine Adern, seine Augen blitzten und die alte Elastizität und Spannkraft machte sich in seinen Bewegungen bemerkbar.

Schnell kleidete er sich um und gab seinem Kammerdiener Befehl, ihm etwas Nachtzeug in eine kleine Handtasche zu packen, da er wahrscheinlich in der Stadt übernachten würde. Dann schickte er den Kammerdiener mit einem Auftrag fort.

Während er sich fertig machte, hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Unten hörte er den Wagen vorfahren. Er sah nach der Uhr. Es blieb ihm noch genügend Zeit, seine Vorkehrungen zu treffen. Zuerst studierte er im Kursbuch. Inzwischen hatte er den Hausmeister rufen lassen. Als dieser eintrat, ging ihm Lothar entgegen.

»Schiffler – ich habe eine kleine Reise vor, wünsche aber nicht, daß jemand im Schlosse etwas davon merkt. Angeblich fahre ich nur zur Stadt. Im Hotel steige ich ab und schicke den Wagen zurück. Meiner Mutter melden Sie, daß ich zur Stadt gefahren bin, um mit einigen befreundeten Herren zusammenzutreffen. Es sei möglich, daß ich, da ich heute Abend das Kasino besuchen will, in der Nacht nicht nach Hause komme. Haben Sie das verstanden?«

»Sehr wohl, Herr Graf.«

»Gut. Ich werde aber wahrscheinlich auch morgen noch nicht zurück sein. Deshalb melden Sie morgen im Laufe des Tages meiner Mutter, daß ich einen Boten geschickt hätte mit der Nachricht, daß ich auch die nächste Nacht noch in der Stadt bleiben würde, da ich allerlei Geschäftliches zu erledigen hätte. Sie müssen natürlich eine Zeit abwarten, in der meine Mutter den Boten unmöglich hätte sehen und sprechen können – etwa, wenn sie ihre Mittagsruhe hält. Verstehen Sie – mir liegt vor allen Dingen daran, daß meine Mutter nichts von meiner Reise merkt. Es handelt sich um eine Ueberraschung.«

Schiffler verneigte sich mit unbewegtem Gesicht. Er merkte sehr wohl, daß etwas zwischen Lothar und seiner Mutter vorging. Die Angelegenheit mit der Posttasche hatte ihm schon zu denken gegeben. Aber er enthielt sich natürlich jeder Aeußerung und richtete sich genau nach Lothars Befehlen, denn dieser war jetzt in Wildenfels die höchste Instanz.

»Herr Graf können unbesorgt sein, ich werde alles nach Wunsch erledigen,« sagte er devot.

Lothar nickte.

»Es ist gut, Schiffler, ich verlasse mich auf Sie. Nun sind Sie so freundlich und tragen Sie meine Tasche hinunter in den Wagen. Warten Sie unten, bis ich komme, ich habe Ihnen vielleicht noch etwas aufzutragen.«

Der Hausmeister entfernte sich mit der Handtasche und Lothar ging schnell hinüber in die Zimmer seiner Großmutter. Wie er erwartet hatte, traf er Grill im Vorzimmer.

»Grill, fühlen Sie sich wohl und kräftig genug, eine Reise zu unternehmen?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Eine Reise, Herr Graf?«

»Jawohl – eine Reise in meinem Auftrage.«

Grill nickte lebhaft.

»Aber gewiß. Der Herr Graf brauchen nicht zu denken, daß ich schwach und hinfällig bin. Ih bewahre – wenn der Herr Graf wünschen, reise ich noch nach Afrika.«

Lothar lächelte.

»Ganz so weit soll es nicht gehen, Grill. Aber immerhin ist es vielleicht etwas anstrengend für Sie.«

»Ach – das ist nicht schlimm, ich habe jetzt faule Zeit genug gehabt. Der Herr Graf brauchen nur zu befehlen.«

»Gut, Grill. Also geben Sie mal gut acht. Sie reisen heute nachmittag um 4 Uhr 16 Minuten nach Berlin. Gegen 8 Uhr abends treffen Sie dort ein. In Berlin übernachten Sie in einem Hotel. Sie wissen ja dort Bescheid, nicht wahr?«

»Gewiß, gewiß!«

»Schön! Morgen früh um acht Uhr fahren Sie mit dem D-Zug nach Weimar, vom Anhalter Bahnhofe ab. In Weimar sind Sie gegen elf Uhr. Dort erkundigen Sie sich nach dem nächsten Zuge, der nach Jena fährt. Den benutzen Sie. In Jena suchen Sie das Hotel auf, welches ich Ihnen hier notiert habe. Es wird ein Zimmer für Sie bereit sein. Und dort warten Sie auf weitere Nachrichten von mir. Die Züge habe ich Ihnen zur Vorsicht aufnotiert. Sind Sie nun im klaren?«

»Vollständig – der Herr Graf brauchen sich keine Sorge zu machen. Ich kenne schon ungefähr die Reise, denn ich war mit der hochseligen Frau Gräfin vor Jahren einmal in Friedrichsroda.«

»Desto besser, Grill, dann wissen Sie Bescheid. Aber nun hören Sie weiter, nehmen Sie sich für einige Wochen Sachen mit, oder nein, packen Sie dieselben nur, ich schicke sie Ihnen später nach. Jetzt nehmen Sie nur Nachtzeug mit in einer Handtasche. Sie erzählen der Dienerschaft, daß Sie Verwandte besuchen wollen. Sie haben doch Verwandte?«

»Ja, eine Cousine von mir wohnt in Wittenberg.«

»Schön – angeblich reisen Sie nach Wittenberg, um Ihre Cousine zu besuchen. Ich habe Ihnen die Erlaubnis dazu erteilt. Verstehen Sie – niemand darf ahnen, wohin Sie reisen.«

Grill nickte bedächtig und überhörte sich selbst noch einmal den ganzen Auftrag.

»Herr Graf dürfen unbesorgt sein.«

»Abgemacht, Grill – in Jena sehen wir uns wieder. Aber kein Wort verlauten lassen – ich baue auf Ihre Verschwiegenheit – es handelt sich um Fräulein Jonny.«

Grills Augen strahlten.

»Ach, du lieber Gott – ach, dun lieber Gott,« sagte sie mit zitternder Stimme.

»Still – nicht so laut, Grill. Also Sie wissen genau Bescheid. Hier ist Geld und stecken Sie den Zettel gut ein. Morgen mittag sind Sie in Jena.«

»Es soll alles recht gemacht werden; Herr Graf sollen zufrieden sein.«

Lothar nickte ihr zu und ging hinaus. Wenige Minuten später saß er im Wagen und fuhr davon. Dem Hausmeister hatte er noch gesagt, daß Frau Grill sich Urlaub erbeten habe, um Verwandte zu besuchen. Er möge dafür sorgen, daß sie zur rechten Zeit nach dem Bahnhofe gefahren würde.

Wie er geplant hatte, stieg Lothar in der Stadt im Hotel ab und schickte den Wagen nach Hause. Dann verließ er jedoch das Hotel gleich wieder und begab sich zum Bahnhofe.

Aufatmend warf er sich kurze Zeit darauf in die Ecke seines Abteils. Er hatte alle Vorsichtsmaßregeln angewandt, um bei seiner Mutter keinen Verdacht zu erwecken. Sonst hätte sie wohl dieser Frau Doktor Brinkmann Verhaltungsmaßregeln depeschiert oder sonst etwas getan, ihm das Auffinden Jonnys unmöglich zu machen. Er hatte sich ausgerechnet, daß er gegen 7 Uhr abends in Jena eintreffen werde. Dann konnte er am Abend noch rekognoszieren. In einer so kleinen Stadt wie Jena konnte es nicht schwer sein, die Pension der Frau Doktor Brinkmann ausfindig zu machen. Und morgen früh konnte er dann schon Jonny gefunden haben.

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