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29.

Mit großem Schmerze hatte Lothar darauf verzichten müssen, zur Beerdigung seiner lieben Großmama nach Hause reisen zu können. Er war außer sich, daß ihn gerade jetzt der Unfall an sein Lager fesselte. In der Stille seines Krankenzimmers hielt er freilich im Herzen dem Andenken der teuren Verstorbenen eine andachtsvolle Totenfeier. So recht eindringlich kam es ihm zum Bewußtsein, was sie ihm gewesen war. Sogar der Gedanke an Jonny trat etwas zurück.

Trotzdem schrieb er Jonny sofort einen langen, lieben Brief, um sie zu trösten und ihr zu sagen, daß er so schnell wie möglich nach Hause kommen würde. Dieser Brief kam jedoch nicht in Jonnys Hände, ebensowenig, als er den ihren erhalten hatte. Diese beiden Briefe lagen zusammen in Gräfin Susannes Schreibtisch, sie hatte sie einfach aus der Posttasche genommen und zurückbehalten, damit ihre Pläne nicht vereitelt würden.

Lothar wunderte sich, daß er keine Antwort von Jonny bekam. Er sagte sich jedoch, daß sie in ihrem Schmerze um den Verlust ihrer Wohltäterin nicht dazu imstande war.

Mit Ungeduld erwartete er nun die Heilung seines gebrochenen Beines. Sobald der Arzt nur irgend die Erlaubnis gäbe, wollte er nach Hause reisen. Er verlangte sehnlichst danach, Jonny in seine Arme zu nehmen, sie zu unterstützen und zu trösten.

Die Ordnung von Gräfin Theas Angelegenheit mußte er auch übernehmen, sobald er nach Hause kam. Er erinnerte sich deutlich genug jener Stunde, da sie von ihm bewußten Abschied nahm – für immer. Keines ihrer bedeutungsvollen Worte war für ihn verloren gegangen. Er ahnte, daß jene Kassette in ihrem Schreibtische das Geheimnis barg, von dem sein Vater in der Todesstunde gesprochen hatte. Auch enthielt sie wohl Großmamas letztwillige Verfügungen.

Daß seine Mutter Jonny in den Tagen der Trauer kühl und fremd wie sonst gegenüberstehen würde, wußte er. Aber nicht der leiseste Gedanke kam ihm, daß sie das junge Mädchen aus Wildenfels entfernen würde.

Täglich bestürmte er den Arzt mit Bitten und Fragen, wann er endlich heimreisen dürfe. Und endlich wurde ihm die Erlaubnis erteilt. Größte Vorsicht wurde ihm noch anempfohlen. Er versprach auch, das Bein noch sehr zu schonen, nur fort wollte er – nach Hause.

Sein Urlaubsgesuch hatte man genehmigt. Lothar war entschlossen, sein Abschiedsgesuch folgen zu lassen, denn es war ihm klar, daß er Jonny nicht monatelang mit seiner Mutter allein lassen konnte. Mochte diese denken und sagen, was sie wollte – er gab seine Laufbahn auf. Bestand sie aber darauf, daß er sein Wort hielt und das ganze Jahr in Rom aushielt, dann stand es bei ihm fest, daß er sich vorher mit Jonny verlobte.

Aufatmend, wie von einer schweren Last befreit, stieg er in den Zug, der ihn in die Heimat zurückführen sollte. Sein Kammerdiener hatte ein Abteil für ihn belegt und blieb während der ganzen Fahrt bei ihm, für den Fall, daß Lothar seines Beines wegen irgend welche Hilfe brauchte.

Lothar hatte seine Ankunft telegraphisch angemeldet. Der Wagen erwartete ihn am Bahnhofe, und der Hausmeister war selbst gekommen, um seinem jungen Herrn behilflich zu sein.

Viel zu langsam für Lothars Ungeduld fuhr der Wagen auf der Wildenfelser Landstraße dahin. Endlich sah er das Schloß vor sich liegen, die beiden Türme waren beflaggt und grüßten ihn schon von weitem.

Wenige Minuten später hielt der Wagen an der Freitreppe. Schneller, als es seinem Beine gut war, stieg Lothar aus und ging, sich leicht auf einen Stock stützend, die Treppe empor.

Unter dem Portal trat ihm seine Mutter entgegen. Das tat sie sonst nie. Er begrüßte sie mit einem Handkuß.

Sie reichte ihm den Arm.

»Stütze dich nur auf mich, mein Sohn. Es war unvorsichtig von dir, schon jetzt die Reise anzutreten. Du hättest dich noch schonen sollen,« sagte sie liebenswürdig.

Lothar sah sie überrascht von der Seite an. Es lag etwas Unsicheres in ihrem Wesen, was ihm neu war an ihr.

»Ich konnte es nicht länger aushalten, Mama, es trieb mich nach Hause. Es ist doch mancherlei zu ordnen und Großmamas letztwillige Verfügungen zu erfüllen.«

Sie hatte ihn in den kleinen Salon neben der Halle geführt. Sein Blick flog suchend umher in der Halle, ob Jonnys goldschimmerndes Köpfchen nirgends auftauchte. Nun schloß er enttäuscht die Tür des Salons hinter sich.

»Großmama hat keinerlei Testament hinterlassen, lieber Lothar,« sagte die Gräfin.

»Nicht eigentlich ein Testament, Mama, aber doch schriftliche Bestimmungen, die für mich ebenso bindend sind.«

Gräfin Susanne horchte sichtlich betroffen auf.

»Schriftliche Bestimmungen? Davon weiß ich nichts.«

»Großmama hat mir davon gesprochen bei meinem letzten Hiersein. Ich habe ihr mein Wort gegeben, alles in ihrem Sinne zu erfüllen.«

»Wo befinden sich diese Aufzeichnungen, Lothar, hier im Schlosse?« forschte seine Mutter sichtlich beunruhigt.

»Ja, in Großmamas Schreibtisch.«

»Ausgeschlossen – den habe ich bereits durchgesehen.«

»Vielleicht ist dir dabei ein kleines Geheimfach entgangen, zu dem ich allein den Schlüssel besitze. Großmama gab ihn mir. Sie ahnte, daß sie sterben würde, ehe sie mich wiedersähe. Großmama legte der Sache großen Wert bei; es müssen wichtige Aufzeichnungen sein.«

Gräfin Susannes Gesicht rötete sich.

»Gib mir den Schlüssel, Lothar – ich will gleich selbst nachsehen,« sagte sie hastig.

Lothar schüttelte den Kopf.

»Die Aufzeichnungen sind für mich bestimmt, Mama. Jedenfalls betreffen sie vor allen Dingen Jonnys Zukunft. Ich selbst werde davon Kenntnis nehmen.«

Seine Mutter zerrte nervös an ihrem Taschentuche, das sie in der Hand hielt. Ihre Augen fuhren unstät umher.

»Das ist allerdings sehr sonderbar. Ich hatte keine Ahnung, daß Großmama derartige Bestimmungen hinterlassen hatte. Das hättest du mir mitteilen müssen. Ich habe deshalb schon selbst über Fräulein Warrens Zukunft bestimmt.«

Lothar sah sie unruhig forschend an.

»Darf ich fragen, in welcher Weise?«

»Gewiß. Fräulein Warrens ist bereits seit vierzehn Tagen in das Haus einer sehr achtungswerten, gebildeten Dame übergesiedelt, die mir sehr empfohlen wurde. Diese Dame hat noch einige junge Damen in ihrer Obhut, die keine Verwandten mehr besitzen. Da Großmama meiner Ansicht nach nichts bestimmt hatte, habe ich Fräulein Warrens eine auskömmliche Rente ausgesetzt und ihr auch für den Fall ihrer Verheiratung eine Aussteuersumme von zwanzigtausend Mark zugesagt. Ich hoffe, ganz in deinem Sinne gehandelt zu haben.«

Lothar hatte eine Weile wie gelähmt dagesessen. Jetzt erhob er sich mit allen Anzeichen einer furchtbaren Erregung.

»Jonny ist fort von Wildenfels? Du hast sie in ihrem bedrückten Seelenzustand hinausgejagt in fremde Verhältnisse, in eine lieblose Umgebung?« fragte er mit verhaltenem Grimm in der Stimme.

Seine Mutter erschrak über sein drohendes Aussehen, aber sie heuchelte Gleichmut.

»Mein Gott – weshalb denn so tragische Worte? Es war doch das Einfachste. Was soll das Mädchen noch hier in Wildenfels? Die Marotte deiner Großmutter soll doch durch uns nicht noch fortgesetzt werden? Für Fräulein Warrens war es höchste Zeit, daß sie wieder in ihr gebührende Verhältnisse kam. Großmama hatte sie unglaublich verwöhnt. Ich habe in weitgehendster Weise für sie gesorgt, damit ist diese Angelegenheit wohl endgültig abgetan.«

Jonny fort! Seine liebe, kleine Jonny hinausgestoßen in die Fremde, mit ihrem Herzen voll Jammer und Leid. Und das hatte ihm seine Mutter getan? Es war ihm, als müsse er ersticken. Nur mit Aufbietung aller Kraft zwang er sich zur Ruhe.

»Du irrst dich sehr, Mama, wenn du diese Angelegenheit für abgetan hältst. Du hast sehr unrecht und unbarmherzig an dem armen Kinde gehandelt. Das ist so wenig in Großmamas Sinne, wie in dem meinen. Bitte, sage mir sofort, wo sich Jonny befindet. Noch heute suche ich sie auf und bringe sie nach Wildenfels zurück.«

Gräfin Susanne erhob sich nun ebenfalls. Sie war ganz ruhig geworden. »Das wirst du nicht tun,« sagte sie kalt.

»Doch, das werde ich gewiß tun. Nimmermehr leide ich, daß Jonny wie eine Verstoßene bei fremden Leuten lebt. Hier gehört sie her und hier soll sie bleiben,« antwortete er fest.

»Nein, sie gehört nicht hierher und ich leide nicht, daß sie zurückkehrt. Deshalb sage ich dir auch nicht, wo sich Jonny befindet. Ich habe diese Szene vorausgesehen und meine Maßnahmen getroffen. Du sollst keine Unklugheit begehen, so lange ich es hindern kann. Was geht dich im Grunde dieses Mädchen an? Nichts. – Es wird nicht lange dauern, dann heiratest du. Was soll dann Fräulein Warrens in Wildenfels, in welcher Eigenschaft soll sie deiner künftigen Frau gegenüber stehen?«

Lothar rang mühsam nach Fassung.

»Mama – ich verlange sofort von dir Jonnys Aufenthalt zu wissen.«

»Nein, von mir erfährst du ihn nie.«

»Was veranlaßt dich zu dieser grausamen Handlungsweise gegen ein hilfloses Geschöpf?« fragte er heiser vor Erregung.

Gräfin Susanne richtete sich stolz auf.

»Das will ich dir sagen, mein Sohn. Ich will verhüten, daß dieses Fräulein Warrens weiter mit dir kokettiert und dich in ihre Netze zieht. Denkst du, ich weiß nicht schon längst, daß du verliebt in sie bist und wohl gar mit dem Gedanken liebäugelst, sie zur Gräfin Wildenfels zu machen? Deine ganze Art und Weise, dich zu ihrem Ritter aufzuwerfen, hat mir alles verraten. Ich dulde aber nicht, daß du so schmählich die Traditionen unseres Hauses vergißt. Du sollst würdig bleiben deiner Abstammung aus einem der edelsten Geschlechter des Landes. Danke es mir, daß ich meine Hand über dich hielt und das Aergernis aus dem Wege räumte. Ich verbiete dir, dich weiter um das Mädchen zu kümmern.«

Lothar hatte die Stirn in düstere Falten gezogen. Um seinen Mund lag jener Ausdruck unbeugsamer Willensstärke, den sie schon oft gesehen hatte.

»Ebenso leicht könntest du mir verbieten, zu existieren,« sagte er mit harter, klingender Stimme. »Da du selbst davon sprichst, will ich es dir nicht verhehlen. Ja – ich liebe Jonny Warrens mit aller Kraft und Innigkeit meines Herzens und sie soll meine Frau werden, wenn sie mir angehören will. Stolz und glücklich werde ich sein, wenn dieses edle und hochsinnige Mädchen Gräfin Wildenfels werden will. Mit den törichten Vorurteilen unseres Standes kannst du nicht unterdrücken, was Gott selbst mir ins Herz gelegt hat. So sehr du dich dagegen wehrst, Jonny als deine Schwiegertochter willkommen zu heißen, wird es dir doch nichts helfen. Mein Entschluß ist unabänderlich, Jonny wird meine Frau.«

Sie starrte ihn fassungslos an. Daß er so offen eingestand, was sie im geheimen gefürchtet hatte, übertraf ihre schlimmsten Ahnungen.

»Bist du von Sinnen?« rief sie außer sich vor Angst und Empörung.

»Nein, Mama. Ich bin bei vollem Verstande und so ruhig, als ich unter den obwaltenden Umständen sein kann. Ich betrachte Jonny schon jetzt als meine Braut, da ich hoffe, daß sie mich wiederliebt. Und Großmama, die herrlichste, gütigste Frau, die mir im Leben begegnet ist, eine echte Gräfin Wildenfels, hat mir ihren vollen Segen gegeben zu diesem Bunde.«

Gräfin Susanne lachte hart und schneidend auf.

»Ah – dachte ich es doch! Deine Großmutter wußte also um diese törichte Liebschaft.«

Lothar fuhr auf.

»Bitte, wähle deine Worte besser. Von einer Liebschaft kann hier keine Rede sein. Jonny weiß nichts von meinen veränderten Gefühlen, auf Großmamas Wunsch habe ich sie nicht damit beunruhigt. Aber ich liebe sie mit einer reinen, tiefen Liebe, und du sollst mich nicht hindern, ihr mein Herz und meine Hand anzubieten.«

Sie sah ihn mit höhnisch funkelnden Augen an.

»Vielleicht doch!« rief sie schneidend. Und ruhiger und gemessener werdend, fuhr sie fort: »Ich hoffe, du kommst zur Vernunft, wenn du dir die Sache ruhig überlegt hast. Um eine Liebelei wirft man nicht geheiligte Traditionen beiseite. Du wirst einsehen, daß ich dein Bestes wollte. Ehe du nicht vernünftig geworden bist und mir dein Ehrenwort gibst, diese törichte Idee aufzugeben, wirst du von mir Fräulein Warrens Aufenthalt nicht erfahren. Und ich habe dafür gesorgt, daß du ihn auch nicht von anderer Seite erfährst. Ich bin zum Aeußersten entschlossen, um den Namen Wildenfels von jedem Makel rein zu halten. Mein Sohn soll nicht der Erste des Hauses sein, der um eine Liebelei vergißt, was er seinem Namen schuldig ist.«

Sie ging erregt einige Male im Zimmer auf und ab. Lothar war an den Kamin getreten und stützte seinen Arm auf den Sims. Sein Kopf ruhte mit düsterem Ausdrucke auf der Hand. Er hielt gewaltsam an sich, um die Herrschaft über sich selbst nicht zu verlieren. In seinem Herzen lebte jetzt vor allen Dingen die Angst und Sorge um Jonny. Was mußte sie alles erduldet haben, seit ihre gütige Beschützerin die Augen für immer geschlossen hatte!

Nach einer Weile blieb seine Mutter in stolzer Haltung vor ihm stehen.

»Ich will nicht mit verdeckten Karten spielen. Du sollst wissen, daß ich Briefe von dir und Fräulein Warrens zurückhielt, um sie nicht an ihre Adresse gelangen zu lassen. Sie liegen in meinem Schreibtische verwahrt. Ebenso habe ich Fräulein Warrens untersagt, an dich zu schreiben. Und wenn diese an jemand hier im Schlosse ihre Adresse gelangen lassen wollte, wäre das vergebliches Bemühen – denn ihre Briefe gehen durch meine Hand. Ich gebe dir mein Wort, daß ich in anständigster Weise für Fräulein Warrens sorge. Aber wiedersehen wirst du sie mit meinem Willen nicht, bevor du vernünftig geworden bist. So, mein Sohn – nun weißt du, daß ich zu allem entschlossen bin, um die Schmach einer unebenbürtigen Heirat von dir abzuwenden.«

Lothar sah seine Mutter an, als sähe er sie heute zum ersten Male.

»Ist das dein letztes Wort, Mama? Gilt dir mein Glück nichts – gar nichts?«

»Es ist mein letztes Wort,« sagte sie fest. »Du weißt jetzt in deiner blinden Verliebtheit nicht, was dein Glück ist. Später wirst du mir danken, daß ich dich vor diesem sogenannten Glücke behütete!«

Lothar richtete sich auf. Seine Augen blitzten entschlossen.

»So höre auch mein letztes Wort. Ich werde nach Jonny suchen – und wenn ich die ganze Welt durchforschen müßte. Und ich werde sie finden – trotz deiner Gegenmittel. Ganz umsonst bin ich ja nicht Diplomat gewesen. Und wenn ich sie gefunden habe, wird sie meine Frau – gleichviel ob mit oder gegen deine Einwilligung. Du kannst unsere Verbindung hinauszögern, aber nicht verhindern.«

»Wenn ich sie nur solange hinauszögern kann, bis du zu Verstand gekommen bist. Dein Urlaub wird ja bald zu Ende sein. Dann gehst du nach Rom zurück und ich wette, wenn das Jahr vorbei ist, denkst du nicht mehr an Fräulein Warrens.«

»Die Wette würdest du verlieren,« sagte er kalt, »denn ich werde nicht nach Rom zurückgehen. Noch heute reiche ich mein Abschiedsgesuch ein.«

Sie fuhr auf.

»Das dulde ich nicht.«

»Du wirst es dulden müssen, denn ich habe jetzt nur ein Ziel – Jonny zu finden. Wenn du mir ihren Aufenthalt nicht verraten willst, gehe ich auch nicht nach Rom zurück. Deine Handlungsweise entbindet mich meines Versprechens.«

»Du wagst es, meinem Willen zu trotzen?«

»Ich erkenne keinen Willen mehr an, als den meinen. Hier bin ich der Herr,« sagte er mit klingender Stimme.

»Lothar!« rief sie drohend.

Er gab ihren Blick ruhig zurück.

»Verzeih – aber du hast selbst jede Zusammengehörigkeit zwischen uns zerschnitten. Liebe – echte Mutterliebe habe ich nie von dir erfahren. Du hättest mich darben und hungern lassen nach Liebe, wenn Großmama sich meiner nicht erbarmt hätte. Sie ist meine wahre Mutter gewesen. Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht. Auch jetzt soll es kein Vorwurf sein, nur eine Feststellung der Tatsachen. Du konntest nicht Liebe geben, weil du sie nicht empfunden hast – nicht für mich – nicht für meinen Vater. Aber mir graut, wenn ich daran denke, daß ich eine Frau nach deinem Sinne heiraten müßte – eine seelenlose Puppe wie die Komtesse Liebenau – mir graut vor einer Ehe in deinem Sinne – in der meine Kinder an Liebe darben müßten.«

Gräfin Susanne stand mit starrem, farblosem Gesichte vor ihm. Seine Worte klagten sie an, aber sie wehrte sich dagegen.

»Du glaubst nicht an meine Liebe, weil ich sie dir nicht in schwächlicher Sentimentalität zeigte, wie das deine Großmutter getan hat.«

»So beweise mir jetzt deine Liebe und sage mir, wo ich Jonny finde, und segne unsern Bund. Dann will ich – ach, nur zu gern – daran glauben, denn mein Leben ist ohne Jonny nur Stückwerk. Erst ihr Besitz wird meines Seins Vollendung bedeuten.«

Er sah sie flehend an. Aber sie warf den Kopf zurück.

»Niemals,« antwortete sie schroff und herb. »Du weißt, was ich dir in Rom geschworen habe, an meinem Schwur halte ich fest.«

Da wandte er sich zum Gehen.

»Gestatte, daß ich mich jetzt zurückziehe – wir haben uns wohl für den Augenblick nichts mehr zu sagen.«

Sie neigte nur stumm das Haupt.

Ohne sein Zimmer aufzusuchen, betrat Lothar oben Gräfin Theas Gemächer. Grill saß gewohnheitsgemäß an ihrem Fensterplatz, obwohl sie jetzt nicht mehr hier gebraucht wurde. Sie sprang auf, als Lothar eintrat. Ihr kummervolles Gesicht rötete sich vor Freude.

»Der gnädige Herr Graf sind nun endlich wieder gesund,« stammelte sie und sah in sein blasses, zerquältes Gesicht. Sie ahnte, was die tiefe Falte auf seiner Stirn zu bedeuten hatte.

»Ja, Grill – ich bin nun endlich da. Geht es Ihnen gut?«

»Untertänigsten Dank. So gut es einer alten Frau gehen kann, die zu nichts mehr nütze ist.«

»Sagen Sie das nicht, Grill. Aber ich weiß – Ihr treues Herz hat auch einen schweren Verlust erlitten.«

Grill wischte hastig die Tränen mit dem Schürzenzipfel fort.

»Das weiß Gott, Herr Graf. Der Tod hat mir meine geliebte, selige Herrin genommen, und – nun – und Fräulein Jonnychen ist nun auch fort.«

Lothar trat dicht an sie heran und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Grill – wissen Sie nicht, wo man Fräulein Jonny hingebracht hat?«

Grill schüttelte betrübt den Kopf.

»Garnichts weiß ich. Fräulein Jonny wollte mir gleich schreiben – aber ich habe noch keine Zeile von ihr und ängstige mich so sehr. Ich weiß nur, daß die Dame, die sie abholte, Frau Doktor Brinkmann hieß. Kein Mensch im ganzen Schlosse weiß, wo die Reise hingegangen ist. Aber totunglücklich ist sie gewesen, daß sie fort mußte.«

»Hat sie Ihnen nichts für mich aufgetragen?« fragte er erregt.

Grill seufzte.

»Ach du lieber Gott – das hat sie wohl nicht gewagt, weil doch – aber ich weiß nicht, ob ich das sagen darf.«

»Alles sollen Sie mir sagen, Grill, ich bitte Sie herzlich darum.«

Grill sah ihn mit ängstlichem Forschen an, als sie zögernd sagte:

»Nun – weil doch der gnädige Herr Graf sich bald mit Komtesse Liebenau verloben.«

Lothar zuckte zusammen.

»Wer hat ihr das gesagt?«

»Die Frau Gräfin Mutter, Herr Graf.«

»Und das hat sie geglaubt?«

Grill hätte vor Freuden beinahe den schuldigen Respekt vergessen, als sie aus seinen Worten hörte, daß diese Verlobung doch wohl nicht feststand.

»Ja, gewiß, Fräulein Jonny mußte das wohl glauben – weil es doch Frau Gräfin Mutter selbst gesagt haben – und daß nun kein Platz mehr im Schlosse sei für Fräulein Jonnychen. Aber arg unglücklich ist sie gewesen. Als sie herüber kam von Frau Gräfin – da fand ich sie gleich darauf in ihrem Zimmer auf dem Fußboden liegend – als ob sie sterben müsse. So elend und verzweifelt war sie – mir hat es beinahe das Herz gebrochen. Und dann wollte sie immer tapfer sein und sich zusammennehmen. Aber lieber Gott – das ging nicht so leicht. Und als sie dann mit der fremden Dame fortfuhr – da –« Grill brach in Tränen aus – »da hat sie noch einmal zu mir heraufgesehen, als ginge es nun in den Tod.«

Lothar wandte sich ab, um sein zuckendes Gesicht zu verbergen. Er ballte die Hände zu Fäusten und seine Brust rang mühsam nach Atem. Endlich hatte er sich wieder in der Gewalt und wandte der alten Frau sein blasses Gesicht zu.

»Ich danke Ihnen, Grill. Wissen Sie, welchen Zug die beiden Damen benutzt haben?«

»Ja, Herr Graf. Um 11,30 Uhr ist er abgegangen.«

»Und sonst konnten Sie nichts in Erfahrung bringen?«

»Nein, die Fahrkarten hat die fremde Dame selbst gelöst, hat auch das Gepäck selbst aufgegeben. Ich fragte schon den Kutscher und den Diener, die mit zum Bahnhofe gefahren sind.«

»Nun gut, Grill – wenn Sie noch irgend etwas in Erfahrung bringen, so melden Sie es mir gleich.«

»Sehr wohl, gnädiger Herr Graf.«

Er nickte ihr zu und ging in Gräfin Theas Wohnzimmer.

Müde ließ er sich dort in den Sessel am Schreibtische niederfallen und zog den Schlüssel hervor, den er von seiner Großmutter erhalten hatte. Er schloß das Fach auf und zog eine Kassette heraus. Nachdem er sie geöffnet hatte, nahm er das Kuvert heraus. Sinnend las er die Aufschrift. Dann schnitt er das Kuvert auf. Das versiegelte Dokument legte er beiseite und las erst das andere Schriftstück. Es lautete:

 

»Mein lieber Lothar! Hältst Du diesen Brief in den Händen, dann bin ich für immer von Dir gegangen. Abschied will ich auf alle Fälle von Dir nehmen, ehe Du nach Rom gehst, denn ich fühle es fast mit Gewißheit, daß ich Dich nicht wiedersehe. Was ich Dir noch zu sagen habe, steht hier aufgezeichnet. Zuerst: Sorge gut für meine Leute – hauptsächlich meine alte, treue Grill, lege ich Dir ans Herz. Sie soll, ganz nach Wunsch und Gefallen, in Wildenfels ihr Leben beschließen und niemand mehr gehorchen müssen, als Dir allein und soll bis an ihr Ende das doppelte Gehalt beziehen als bisher, damit sie sich auch Extrawünsche erfüllen kann.

Und nun zu meinem Herzenskind Jonny. Du liebst sie und willst sie zu deiner Frau machen. Mein Segen soll Euch begleiten. Aber Deine Mutter ist eine stolze Frau, ich sehe schlimme Kämpfe für Dich voraus. Und da ich Dir vielleicht nicht mehr beistehen kann, will ich Dir für den schlimmsten Fall ein Mittel in die Hand geben, mit welchem Du ihren Widerstand besiegen kannst. Sie ist so stolz auf den Namen Wildenfels, daß sie es als Schmach betrachten wird, wenn ihm der schlichte Namen Warrens beigesellt wird. Ich habe lange geschwankt, ob ich Dir ein Geheimnis preisgeben soll, das einen Schatten auf das Leben Deines Vaters, meines inniggeliebten Sohnes, wirft. Gern hätte ich es mit ins Grab genommen, ich hätte es tun dürfen, wenn ich mein Werk hätte vollenden können. Aber ich weiß, es ist im Sinne Deines Vaters, daß ich Dir und Deiner Mutter das Geheimnis preisgebe, wenn ich damit Dein Lebensglück erkaufen und zu gleicher Zeit mein Werk zur Vollendung führen kann. Und deshalb mein lieber Lothar – wenn Du keinen Ausweg mehr weißt, wenn Du den Widerstand Deiner Mutter, in Eure Verbindung zu willigen, nicht anders brechen kannst, dann öffne das beiliegende Dokument, lies es und lege es Deiner Mutter vor. Es wird ihrem Stolze einen harten Schlag versetzen – und Dir wird es vielleicht das Bild Deines Vaters trüben. Aber bedenke dann: Kein Mensch ist ohne Schuld und Fehler. Ich habe meinen Sohn nicht weniger darum geliebt und Du wirst den Vater auch nicht weniger lieben. In seiner Sterbestunde gab er mir dies Dokument mit der Bitte, seine Schuld zu sühnen. Mein Leben war seit jener Stunde nur diesem Zwecke geweiht. Und wenn Du mit Jonny vereint und glücklich bist, dann ist das Ziel erreicht, wonach ich strebte.

Jonny soll nicht mit leeren Händen Deine Frau werden. Ich setze ihr auf alle Fälle die Hälfte meines Vermögens als Erbteil aus. Und dann soll das Halsband, welches Du in der Kassette findest, mein Hochzeitsgeschenk für sie sein.

Nun bin ich zu Ende. Ich grüße Euch noch ein letztes Mal, meine beiden, lieben Kinder. Gottes reichster Segen sei mit Euch!

Und wenn Ihr Euch angehört, dann vernichte das Dokument und weihe Deinem Vater ein ebenso liebevolles Andenken als

Deiner treuen Großmutter.«

 

Lange saß Lothar und sah auf die Zeilen nieder. Dann hob er den Blick zum Bilde seines Vaters.

»Welche Schuld dich auch bedrückt haben mag – ich habe nicht darüber zu richten und nichts soll meine kindliche Liebe zu dir erschüttern, denn du hattest mich lieb – und wer Liebe säet, wird Liebe ernten,« dachte er bewegt.

Er wog das Schriftstück in der Hand, das seines Vaters Schuldbekenntnis enthielt und blickte die Siegel an. Würde er sie öffnen müssen?

Wenn er es konnte, dann wollte er es vermeiden, dann sollte dies Dokument uneröffnet verbrannt werden. Erst wenn er alles andere versucht hatte, wollte er zu diesem letzten Mittel greifen, denn nicht nur seine Augen, auch die scharfen kalten Blicke der Mutter mußten dann dies Schuldbekenntnis lesen. Noch einmal las er das Schreiben seiner Großmutter durch. Dann steckte er es zu sich. Das Dokument legte er zu dem Halsband in die Kassette und trug diese hinüber in sein Arbeitszimmer, wo er sie in seinem Schreibtisch verschloß.

Nachdem er sich mit Hilfe seines Kammerdieners umgekleidet und einen Imbiß zu sich genommen hatte, ließ er sich seiner Mutter melden.

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