Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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XII

Nostromo war sehr langsam reich geworden. Es war eine Folge seiner Klugheit. Er konnte sich sogar da noch beherrschen, wo er aus dem Gleichgewicht gebracht war. Und es ist ein seltenes und verwirrendes Vorkommnis, mit sehenden Augen zum Sklaven eines Schatzes zu werden. Die Langsamkeit rührte aber auch zum großen Teil von der Schwierigkeit der Verwertung her. Schon die bloße Wegschaffung von der Insel, ganz allmählich und kleinweise, war durch die stete Entdeckungsgefahr erschwert. Er mußte die Große Isabelle insgeheim aufsuchen, zwischen seinen Küstenfahrten, die nach außen hin als Quelle seines Reichtums galten. Die Bemannung seines eigenen Schoners mußte er fürchten, als wäre sie vom ersten bis zum letzten Mann auf Bespitzelung des gefürchteten Kapitäns aus. Er wagte sich nicht zu lange im Hafen aufzuhalten. Sobald er seine Ladung gelöscht hatte, ging er eilig wieder in See, denn er fürchtete, selbst durch eintägigen Aufschub Verdacht zu erwecken. Manchmal, wenn er eine Woche oder länger im Hafen lag, konnte er den Schatz doch nur einmal besuchen. Und das war alles. Ein paar Barren. Er litt unter seiner Angst ebensosehr wie unter seiner Vorsicht. Die Heimlichkeit demütigte ihn. Und am meisten litt er darunter, daß er in Gedanken nicht mehr von dem Schatz loskam.

Ein Vergehen, ein Verbrechen frißt, wenn es einmal in eines Mannes Leben gekommen ist, wie ein wucherndes Geschwür, wie ein zehrendes Fieber um sich. Nostromo hatte den inneren Frieden verloren; seine Unbefangenheit war von Grund auf zerstört: Er empfand es selbst und verfluchte oft das Silber von San Tomé. Sein Mut, seine Großartigkeit, seine Zerstreuungen, seine Arbeit, alles war wie früher, nur war alles Blendwerk. Der Schatz aber war wirklich. Er klammerte sich im Geiste immer hartnäckiger daran. Doch haßte er das Gefühl, das ihm die Silberbarren beim Angreifen gaben. Manchmal, wenn er einige davon – die Frucht einer heimlichen Nachtfahrt nach der Großen Isabelle – in seiner Kabine versteckt hatte, da sah er aufmerksam seine Finger an und schien überrascht, daß das Silber keine Flecke hinterlassen hatte. Er hatte die Möglichkeit gefunden, die Silberbarren in fernen Häfen loszuwerden. Die Notwendigkeit, weit weg zu gehen, zwang ihn zu langen Reisen und machte seine Besuche bei den Violas immer seltener. Es war sein Schicksal, sich seine Frau von dort zu holen. Das hatte er einmal dem alten Giorgio selbst gesagt. Der Garibaldiner aber hatte den Gegenstand mit einer majestätischen Gebärde der Hand abgelehnt, die eine schwarzgerauchte Holzpfeife hielt. Das alles habe noch lange Zeit; er sei nicht der Mann, jemand seine Töchter aufzudrängen.

Mit den Jahren entdeckte Nostromo seine Vorliebe für die jüngere Tochter. Sie hatte die tiefe, innere Verwandtschaft, die die notwendige Vorbedingung für völliges Vertrauen und Verstehen ist, ganz gleich, welche äußerlichen Temperamentsunterschiede sonst noch durch den Gegensatz anziehend wirken mögen. Seine Frau würde einmal um das Geheimnis wissen müssen, wenn das Zusammenleben möglich sein sollte. Er fühlte sich zu Giselle hingezogen, zu Giselle mit ihrem unschuldigen Blick und dem weißen Hals, deren anschmiegendes Schweigen, unter anscheinender Teilnahmslosigkeit, die Freude am Abenteuer verbarg; Linda aber, mit ihrem leidenschaftlichen, blassen Gesicht, ganz Tatkraft, Flamme und Wort, mit Neigung zur Düsterkeit und Geringschätzung, ein echtes Reis vom alten Stamm, die wahre Tochter des weltfremden Republikaners, doch mit Teresas Stimme – Linda erfüllte ihn mit tiefgründigem Mißtrauen, überdies konnte das arme Mädchen die Liebe zu Giambattista nicht verbergen. Er sah wohl, daß diese Liebe heftig sein würde, anspruchsvoll, mißtrauisch und unerbittlich, wie ihre Seele. Giselle, mit ihrer blonden und doch heißen Schönheit, mit dem anscheinend ausgeglichenen Wesen, das Fügsamkeit versprach, mit ihrem geheimnisvollen, mädchenhaften Zauber, Giselle entzündete seine Leidenschaft und beschwichtigte seine Angst vor der Zukunft.

Er war immer lang von Sulaco abwesend. Als er einmal nach besonders langer Zeit zurückkehrte, sah er mit Steinen beladene Leichter an der Großen Isabelle liegen; oben standen Krane und ein Baugerüst; Arbeiter gingen herum, und ein kleiner Leuchtturm wuchs auf der Spitze der Klippe gerade über die Grundmauern.

Bei diesem unerwarteten, nie geträumten, erschreckenden Anblick hielt er sich für unrettbar verloren. Was konnte ihn jetzt vor der Entdeckung bewahren? Nichts. Er empfand abergläubisches Entsetzen über die merkwürdige Schicksalsfügung, die ein weitreichendes Licht auf den einzigen geheimen Fleck in seinem Leben setzte; in diesem Leben, dessen innerstes Wesen, dessen Wert und Wirklichkeit die Widerspiegelung in den bewundernden Augen der Menschen ausmachte. Sein ganzes Leben lag offen da, bis auf diesen einen Fleck, der dem allgemeinen Verständnis entrückt war; der zwischen ihm lag und der Macht, die böse Wünsche erhört und erfüllt. Der Fleck war dunkel. Nicht jedermann hatte eine solche Dunkelheit in seinem Leben. Und nun bauten sie einen Leuchtturm hin. Einen Leuchtturm! Er sah ihn sein Licht auf Elend, Armut und Verachtung werfen. Sicher mußte jemand . . . Vielleicht hatte schon jemand . . .

Der unvergleichliche Nostromo, der Capataz, der geachtete und gefürchtete Kapitän Fidanza, das selbstherrliche Oberhaupt geheimer Gesellschaften, ein Republikaner wie der alte Giorgio und Revolutionär im Herzen (wenn auch auf andere Art) – Nostromo fühlte sich versucht, über Bord seines eigenen Schoners zu springen. Dieser Mann, ganz auf sich eingestellt, fast bis zum Irrsinn, faßte den Selbstmord ruhig ins Auge. Aber er verlor den Kopf nicht. Der Gedanke hielt ihn zurück, daß er seinem Schicksal nicht entgehen würde. Er malte sich aus, wie er selbst tot sein, die Schande und Schmach aber weiterdauern würde. Oder besser gesagt, er konnte es sich nicht vorstellen, daß er selbst tot wäre. Er war zu heftig vom Bewußtsein des eigenen Lebens, dieses unveränderlich Währenden, erfüllt, um ein Ende erfassen zu können. Auch die Erde dauert ewig.

Und er war mutig. Es war ein böser Mut, aber er diente seinem Zweck so gut wie ein andrer. Er fuhr nahe an die Große Isabelle hin und warf von Deck aus einen forschenden Blick auf die Mündung der Schlucht, die unberührt unter den wuchernden Büschen dalag. Er fuhr so nahe vorbei, daß er mit den Arbeitern Zurufe tauschen konnte, die oben am Steilrand der Klippe unter dem mächtigen Kranschnabel standen und sich die Augen mit den Händen beschatteten. Nostromo stellte fest, daß keiner der Arbeiter Gelegenheit hatte, sich der Schlucht, wo das Silber verborgen lag, auch nur zu nähern, geschweige denn dort einzudringen. Im Hafen erfuhr er, daß niemand auf der Insel schlief. Die Arbeiter kehrten jeden Abend in den Hafen zurück und sangen im Chor in den leeren Leichtern hinter dem Hafenschlepper. Für den Augenblick hatte er nichts zu befürchten.

Später aber? Später aber? fragte er sich. Später, wenn ein Wärter das Häuschen bezog, das etwa hundertfünfzig Meter vom Leuchtturm und vierhundert von der dunklen, schattigen, überwachsenen Schlucht weg gebaut wurde – von dieser Schlucht, die das Geheimnis seiner Sicherheit barg, seines Einflusses, seiner Prachtliebe; das Geheimnis, das ihm über die Zukunft Gewalt gab, das ihn jedem Mißgeschick, jedem möglichen Verrat durch reich oder arm trotzen ließ – was dann? Er konnte den Schatz nie mehr loswerden. Seine Kühnheit, größer als die andrer Männer, hatte den Silberstrom in sein eigenes Leben geleitet. Und das Gefühl ängstlicher, glühender Unterwerfung, das Gefühl seiner Sklaverei – so unwiderstehlich und endgültig, daß er sich oft in Gedanken mit den sagenhaften Gringos verglich, die, weder tot noch lebendig, an die widerrechtlich erworbenen Schätze auf Azuera gekettet sind –, dieses Gefühl lastete schwer auf dem unabhängigen Kapitän Fidanza, dem Eigner und Schiffer eines Küstenschoners, dessen schmuckes Aussehen und fabelhaftes Geschäftsglück längs der Westküste eines großen Erdteils so gut bekannt waren.

Das kräftige Ebenmaß seiner mächtigen Glieder verlor sich nun in einem gewöhnlichen braunen Stoffanzug, der von Londoner Heimarbeitern gemacht und in der Konfektionsabteilung der Anzanigesellschaft gekauft war; so konnte man Kapitän Fidanza, würdig, mit schneidigem Backenbart, etwas weniger geschmeidig in Gang und Haltung, in den Straßen von Sulaco sehen, wo er auch nach jener Reise die gewohnten Geschäfte erledigte. Und wie gewöhnlich sorgte er dafür, daß es sich herumsprach, er habe an seiner Ladung schwer verdient. Es war eine Ladung von Salzfischen gewesen, und die Fastenzeit stand vor der Türe. Man sah ihn in der Straßenbahn zwischen der Stadt und dem Hafen hin und her fahren; er sprach in einem oder zwei Cafés zu ein paar Leuten in sehr gemessener, ruhiger Art. Kapitän Fidanza wurde bemerkt. Die Generation, die von dem berühmten Ritt nach Cayta nichts mehr wissen sollte, war noch nicht geboren.

Nostromo, der zu Unrecht so genannte Capataz de Cargadores, hatte sich unter seinem richtigen Namen abermals eine Stellung in der Öffentlichkeit geschaffen, die aber durch die neuen Lebensbedingungen eingeschränkt, weniger malerisch und schwieriger durchzuhalten war, angesichts des Aufschwungs und der gemischten Bevölkerung Sulacos, der blühenden Hauptstadt der Westlichen Republik.

Kapitän Fidanza, nicht mehr malerisch, doch immer noch ein wenig geheimnisvoll, wurde unter dem hohen Glas- und Eisendach des Bahnhofs von Sulaco zur Genüge bemerkt. Er nahm einen Lokalzug und stieg in Rincon aus, wo er die Witwe des Cargadors besuchte, der (beim Morgenrot der neuen Ära, wie Don José Avellanos) im Innenhof der Casa Gould seinen Wunden erlegen war. Er ließ sich herbei, in der Hütte niederzusitzen und ein Glas kühler Limonade zu trinken, während die Frau vor ihm stand und ihn mit einer Flut von Worten überschüttete, denen er kaum zuhörte. Er ließ ihr, wie gewöhnlich, etwas Geld. Die verwaisten Kinder, die herangewachsen waren und gute Schulen durchgemacht hatten, nannten ihn Onkel und baten um seinen Segen. Auch diesen gab er; an der Türe der Hütte blieb er einen Augenblick stehen und sah mit leichtem Stirnrunzeln nach der flachen Kuppe des San Tomé-Berges. Diese leichten Falten auf seiner bronzefarbenen Stirn – die seinem sonst so verschlossenen Gesicht den Ausdruck unverkennbarer Strenge gaben – wurden noch bei seinem nachfolgenden Besuch in der Loge bemerkt, verschwanden aber vor dem Bankett. Er trug sie wieder bei der Vereinigung einiger guter Kameraden zur Schau, Italiener und Eingeborener, die sich ihm zur Ehre versammelt hatten, unter dem Vorsitz eines kränklichen, kümmerlichen, leicht buckligen Photographen mit weißem Gesicht und hochgemuter Seele (welch letztere durch den blutdürstigen Haß gegen alle Kapitalisten und Bedrücker der beiden Halbkugeln purpurrot gefärbt war). Der heldenhafte Giorgio Viola, der alte Revolutionär, hätte von des Photographen Eröffnungsrede nichts verstanden; und Kapitän Fidanza hielt überhaupt keine Rede und beschränkte sich darauf, wie gewöhnlich ein paar arme Genossen freigebig zu beschenken. Er hatte mit gerunzelter Stirn zugehört, in Gedanken weit fort, und war schließlich gegangen, unnahbar, schweigsam, wie ein Mann mit vielen Sorgen.

Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, als er früh am nächsten Morgen die Maurer zur Großen Isabelle hinausfahren sah, in Leichtern voll mit soviel Steinquadern, wie zur Aufsetzung einer neuen Schicht auf den Leuchtturm nötig waren. Die verlangte Arbeitsleistung war eine Schicht im Tage.

Und Kapitän Fidanza grübelte. Die Anwesenheit Fremder auf der Insel mußte ihn völlig von dem Schatz abschneiden. Vorher schon war es schwierig und gefährlich genug gewesen. Er fürchtete sich und war ärgerlich. Seine Gedanken hatten zugleich die Entschlossenheit eines Herrn und die kriechende List eines Sklaven. Dann ging er an Land.

Er war klug und erfinderisch; und wie gewöhnlich war der Ausweg, den er in einem kritischen Augenblick fand, danach angetan, die Lage von Grund auf zu ändern. Er hatte die Gabe, gerade aus der Gefahr Sicherheit herzuleiten, dieser unvergleichliche Nostromo, dieser »Bursche unter tausend«. War einmal Giorgio auf die Große Isabelle gesetzt, so brauchte es kein Versteckspiel mehr. Dann konnte er offen, bei Tageslicht, hinfahren, um die Töchter – eine der Töchter – zu besuchen und sich bis spätabends mit dem alten Garibaldiner zu unterhalten. Dann, im Dunkeln . . . Nacht um Nacht . . . Nun würde er es wagen, schneller reich zu werden. Er gierte danach, diesen Schatz zu fassen, zu umfangen, ihn ganz und völlig in Besitz zu nehmen, diesen Schatz, der seinen Sinn, sein Tun und noch seinen Schlaf beherrscht hatte.

Er ging seinen Freund Kapitän Mitchell besuchen – und es wurde so gemacht, wie Doktor Monygham es Frau Gould erzählt hatte. Als man dem Garibaldiner den Vorschlag unterbreitete, da huschte etwas wie der leichte Abglanz, der ferne Schatten eines alten, alten Lächelns unter dem ungeheuren weißen Schnurrbart des alten Königs- und Ministerhassers hervor. Seinen Töchtern galt seine nächste Sorge. Besonders der jüngeren. Linda, mit der Stimme der Mutter, hatte mehr den Platz der Mutter eingenommen. Ihr tiefes, kindliches: »Wie, Padre?« schien, bis auf die veränderte Anrede, geradezu das Echo des leidenschaftlichen, vorwurfsvollen: »Wie, Giorgio?« der armen Signora Teresa. Er war der festen Meinung, die Stadt sei nicht der rechte Ort für seine Mädchen. Der verdrehte und dabei doch arglose Ramirez war der Gegenstand seiner tiefsten Abneigung; in ihm sah er die Sünden dieses Landes verkörpert, dessen Männer blind waren, feig, Esclavos.

Bei der Rückkehr von seiner nächsten Reise fand Kapitän Fidanza die Violas im Wärterhäuschen beim Leuchtturm eingerichtet. Seine Kenntnis von Giorgios Abneigungen hatte ihn nicht betrogen. Der Garibaldiner hatte es abgelehnt, den Plan eines andern Gefährten, außer seinen Mädchen, auch nur zu erörtern. Und Kapitän Mitchell, ängstlich bemüht, seinem armen Nostromo gefällig zu sein, hatte in einer der glücklichen Eingebungen, deren nur echte Zuneigung fähig ist, Linda Viola in aller Form zur zweiten Wärterin des Isabellen-Leuchtturms ernannt.

»Der Leuchtturm ist Privateigentum«, pflegte er zu erklären. »Er gehört meiner Gesellschaft. Ich bin ermächtigt, zu ernennen, wen ich will, und es soll Viola sein. Es ist so ziemlich das einzige, worum Nostromo – ein Mann, der sein Gewicht in Gold wert ist, wohlverstanden – mich je für sich gebeten hat.«

Unmittelbar nachdem sein Schoner dem neuen Zollamt gegenüber vor Anker gegangen war (das sich als griechischer Tempel gebärdete, mit flachem Dach und einem Säulengang), ruderte Kapitän Fidanza in seinem kleinen Boot aus dem Hafen hinaus, auf die Große Isabelle zu, ganz unbekümmert, im Abendlicht, vor aller Leute Augen und im Gefühl, das Schicksal gemeistert zu haben. Er mußte eine einwandfreie Lage schaffen. Er wollte nun den Alten um seine Tochter bitten. Während des Ruderns dachte er an Giselle. Linda liebte ihn, vielleicht, aber der alte Mann würde wohl froh sein, seine Älteste behalten zu können, die die Stimme seiner Frau hatte.

Er hielt nicht auf den schmalen Sandstreifen zu, wo er mit Decoud und später, bei seinem ersten Besuch bei dem Schatz, allein gelandet war, sondern auf den Strand am anderen Ende und ging den gleichmäßig ansteigenden Hang des keilförmigen Eilands hinan. Giorgio Viola, den er von weitem auf einer Bank vor dem Wärterhäuschen sitzen sah, hob auf seinen lauten Anruf leicht den Arm. Er ging auf ihn zu. Keines der Mädchen zeigte sich.

»Es ist gut hier«, sagte der alte Mann in seiner schlichten, nachdenklichen Art.

Nostromo nickte und fragte nach einem kurzen Schweigen:

»Du hast meinen Schoner vor knapp zwei Stunden einfahren sehen? Weißt du, warum ich hier bin, bevor mein Anker, sozusagen, richtig in diesem Hafen von Sulaco Grund gefaßt hat?«

»Du bist willkommen wie ein Sohn«, sagte der alte Mann ruhig und sah weit weg über die See.

»Oh! Dein Sohn! Ich weiß. Ich bin, was dein Sohn gewesen wäre. Gut. Viejo! Ein schöner Willkomm. Höre, ich bin gekommen, um dich . . .«

Eine plötzliche Angst befiel den furchtlosen und unbestechlichen Nostromo. Er wagte den Namen nicht auszusprechen, der ihm im Sinn lag. Die kurze Pause gab dem veränderten Schluß des Satzes nur noch mehr Gewicht.

»Um dich um meine Frau zu bitten!« . . . Sein Herz schlug heftig. »Es ist Zeit, daß du . . .«

Der Garibaldiner gebot ihm mit ausgestreckter Hand Schweigen. »Es stand bei dir, das zu beurteilen.«

Er stand langsam auf. Sein Bart, seit Teresas Tod nicht geschoren, wallte dicht und schneeweiß über seine mächtige Brust. Er wandte den Kopf nach der Türe und rief mit lauter Stimme:

»Linda!«

Die Antwort kam hell und deutlich aus dem Hause; und Nostromo, der bestürzte Nostromo, stand gleichfalls auf, schwieg aber und sah nach der Türe. Er fürchtete sich. Er fürchtete sich nicht, weil man ihm das Mädchen versagte, das er liebte – keine einfache Absage konnte sich zwischen ihn und eine Frau stellen, die er begehrte –, aber das Strahlengespenst des Schatzes erhob sich vor ihm und gemahnte ihn an seine Lehenspflicht, in einem Schweigen, dem nicht zu widersprechen war. Er fürchtete sich, weil er, weder tot noch lebendig, wie die Gringos auf Azuera, mit Leib und Seele seiner verbrecherischen Kühnheit verfallen war. Er fürchtete sich, man könnte ihm die Insel verbieten. Er fürchtete sich – und sagte nichts.

Als sie die zwei Männer nebeneinander stehen sah, hielt Linda in der Türe an. Nichts konnte die leidenschaftliche Blässe ihres Gesichts verändern. Aber ihre schwarzen Augen schienen alles Licht der niedergehenden Sonne glühend in ihren dunklen Tiefen zu sammeln und mit einem Senken der Lider zu bedecken.

»Sieh hier deinen Gatten, Herrn und Wohltäter.« Die Stimme des alten Viola dröhnte so gewaltig, daß sie den ganzen Golf zu erfüllen schien.

Linda trat mit fast geschlossenen Augen vor, wie eine Schlafwandlerin in einem seligen Traum.

Nostromo machte eine übermenschliche Anstrengung. »Es ist Zeit, Linda, daß wir uns verloben«, sagte er ruhig, in seinem gleichgültigen, nachlässigen Ton.

Sie legte ihre Hand in seine dargebotene Rechte und senkte den Kopf mit dem erzschimmernden Haar, auf das sich kurz ihres Vaters Hand legte.

»Und so ist die Seele der Toten befriedigt.«

Das hatte Giorgio Viola gesagt, und er sprach eine Zeitlang weiter von seiner toten Frau; unterdessen saßen die beiden nebeneinander, ohne sich anzusehen. Dann verstummte der alte Mann; und Linda begann zu sprechen, ohne sich zu rühren:

»Seitdem ich begriffen hatte, daß ich in der Welt lebe, habe ich nur für dich allein gelebt, Giambattista. Und das wußtest du! Du wußtest es . . . Battistino.«

Sie sprach den Namen genau im Tonfall ihrer Mutter aus. Nostromo fühlte, wie ihm ein Grabeshauch ins Herz drang.

»Ja. Ich wußte es«, sagte er.

Der heldenhafte Garibaldiner saß auf der gleichen Bank mit ihnen und beugte sein silbriges Haupt. Seine alte Seele weilte bei seinen Erinnerungen, zärtlich und heftig, furchtbar und traurig, einsam auf der menschenreichen Erde.

Und Linda, seine heißgeliebte Tochter, sagte: »Ich habe dir gehört, seit ich denken kann. Ich brauchte nur an dich zu denken, und die Erde wurde leer vor meinen Augen. Wenn du da warst, konnte ich niemand sonst sehen. Ich war dein. Nichts hat sich geändert. Die Welt gehört dir, und du läßt mich darin leben« . . . Sie dämpfte ihre leise, zitternde Stimme noch mehr und fand noch anderes zu sagen – quälend für den Mann an ihrer Seite. Ihr heiseres, schnelles Murmeln dauerte an. Sie schien ihre Schwester nicht zu sehen, die mit einem Altartuch, an dem sie stickte, in der Hand herauskam und an ihnen vorüberging – still, frisch, blond, mit einem raschen Blick und leisen Lächeln, um sich etwas entfernt an Nostromos andere Seite zu setzen.

Der Abend war still. Die Sonne schien an der Grenze des purpurnen Ozeans zu versinken; und der weiße Leuchtturm hob sich hell gegen den Hintergrund der Wolken ab, die in der Mündung des Golfs lagerten, und schickte sein rotes Licht hinaus – wie die Glut eines am Himmelsbrand entflammten Kohlenfeuers. Giselle, scheinbar unbeteiligt, hob von Zeit zu Zeit das Altartuch an den Mund, um ein nervöses Gähnen zu verstecken, wie das eines jungen Panthers.

Plötzlich stürzte sich Linda auf ihre Schwester, faßte ihren Kopf und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Nostromos Hirn kochte. Endlich ließ Linda die Schwester los; Giselle saß wie betäubt von den heftigen Liebkosungen, mit den Händen im Schoß. Und der Sklave des Schatzes hatte das Gefühl, als könnte er das Weib erschießen. Der alte Giorgio erhob sein Löwenhaupt. »Wohin gehst du, Linda?«

»Zu den Lampen, padre mio.«

»Si, si, zu deiner Pflicht.«

Er stand gleichfalls auf und sah seiner ältesten Tochter nach; dann sagte er – und der festliche Klang der Worte schien ein Echo aus der Nacht aller Zeiten:

»Ich will etwas kochen gehen. Aha! Sohn! Der alte Mann wird auch noch eine Flasche Wein zu finden wissen.«

Er wandte sich mit ruhiger Zärtlichkeit an Giselle:

»Und du, Kleine, bete nicht zu dem Gott der Priester und Sklaven, aber zu dem Gott der Waisen, der Bedrückten, der Armen, der kleinen Kinder, daß er dir einen Mann wie diesen zum Gatten gebe.«

Seine Hand legte sich einen Augenblick lang schwer auf Nostromos Schulter; dann ging er ins Haus. Der ewige Sklave des San Tomé-Silbers fühlte, wie ihm bei diesen Worten die Giftzähne der Eifersucht tief ins Herz bissen. Er war bestürzt durch die Neuheit des Erlebnisses, durch seine Kraft und körperliche Eindringlichkeit. Ein Gatte! Ein Gatte für sie! Und doch war es natürlich, daß Giselle jetzt oder später einen Gatten haben mußte. Das hatte er sich nie zuvor klargemacht. Bei dem Gedanken, daß ihre Schönheit einmal einem anderen gehören könnte, hatte er das Gefühl, als könnte er auch diese Tochter des alten Giorgio töten. Er murmelte finster:

»Man sagt, du liebst Ramirez.«

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. Ein kupfriges Leuchten überlief ihr reiches, blondes Haar. Ihre glatte Stirn hatte den reinen, weichen Glanz einer unschätzbaren Perle im Dämmerlicht, in dem sich das Dunkel des bestirnten Raumes, das Purpurrot der See und das Scharlachrot des Himmels in erhabener Ruhe mengten.

»Nein«, sagte sie langsam. »Ich habe ihn nie geliebt. Ich glaube, daß ich niemals . . . Er liebt mich – vielleicht.«

Ihre verführerische, leise Stimme verklang in der Luft, und ihre erhobenen Augen blieben ins Leere gerichtet, scheinbar gleichgültig und gedankenlos.

»Hat Ramirez dir gesagt, daß er dich liebt?« fragte Nostromo und versuchte, sich zu beherrschen.

»Ach! Einmal – eines Abends . . .«

»Der Elende . . . Ha!«

Er sprang auf, wie von einer Bremse gestochen, und stand vor ihr, stumm vor Wut.

»Misericordia Divina! Auch du, Giambattista! Oh, ich armes Mädchen«, jammerte sie. »Ich habe es Linda gesagt, und sie hat gescholten. Soll ich blind, taub und stumm leben in dieser Welt? Und sie hat es Vater gesagt, der sein Gewehr vom Nagel genommen und geputzt hat. Armer Ramirez! Nun bist du gekommen, und sie hat es dir gesagt!«

Er sah sie an. Er bohrte seine Augen in die Höhlung am Ansatz ihres weißen Halses, der so unwiderstehlich bezaubernd wirkte wie alles, was jung, zart und lebensprühend ist. War dies das Kind, das er gekannt hatte? War es möglich? Es dämmerte ihm auf, daß er während dieser letzten Jahre wirklich recht wenig von ihr gesehen hatte – gar nichts im Grunde. Nichts. Sie war wie ein unbekanntes Etwas in die Welt getreten. Sie hatte ihn überrumpelt. Sie war eine Gefahr. Eine furchtbare Gefahr. Die unwillkürliche, wütende Entschlußkraft, die ihn während der Gefahren nie zuvor im Stich gelassen hatte, gesellte sich nun zu der Heftigkeit seiner Leidenschaft. Giselle fuhr fort, mit einer Stimme, die ihn an rieselndes Wasser gemahnte, an das Läuten eines silbernen Glöckchens.

»Und ihr drei habt mich im Einverständnis hierhergebracht, in diese Gefangenschaft zwischen Himmel und Wasser. Nichts sonst. Himmel und Wasser. Oh, Santissima Madre! Mein Haar wird grau werden auf dieser schrecklichen Insel! Ich könnte dich hassen, Giambattista!«

Er lachte laut auf. Ihre Stimme umfing ihn wie eine Liebkosung. Sie beklagte ihr Geschick und strömte dabei Verführung aus, unbewußt, so, wie eine Blume ihren Duft durch die Abendkühle schickt. War es ihre Schuld, daß nie jemand Linda bewundert hatte? Sie erinnerte sich, daß, als sie noch klein waren und mit der Mutter zur Messe gingen, nie jemand Linda beachtet hatte, die furchtlos war, und daß alle lieber sie, die Schüchterne, mit Aufmerksamkeiten erschreckt hatten. Es mußte wohl an ihrem goldenen Haar liegen, meinte sie.

Er brach los:

»Dein Haar wie Gold, deine Augen wie Veilchen und deine Lippen wie die Rosen; deine runden Arme, dein weißer Hals . . .«

Unbeirrbar in ihrer gleichgültigen Haltung, errötete sie doch bis zu den Haarwurzeln. Sie war nicht eitel. Sie war sich ihrer selbst nicht mehr bewußt als eine Blume. Aber sie war erfreut. Und vielleicht haben es ja auch die Blumen gerne, gelobt zu werden. Er sah auf sie hinunter und fügte ungestüm hinzu:

»Deine kleinen Füße!«

An die rauhe Steinwand des Hauses gelehnt, schien sie sich sehnsüchtig zu sonnen in der Glut ihres Errötens. Nur die gesenkten Blicke richteten sich auf ihre kleinen Füße.

»Und nun wirst du schließlich doch unsere Linda heiraten. Sie ist furchtbar. Oh! Nun wird sie vielleicht manches besser verstehen, seit du ihr gesagt hast, daß du sie liebst. Sie wird nicht so unerbittlich sein.«

»Chica!« sagte Nostromo. »Ich habe ihr gar nichts gesagt.«

»Dann beeile dich. Komm morgen. Komm und sag es ihr, damit ich ein wenig Ruhe habe vor ihrem Schelten und – vielleicht – wer weiß . . .«

»Ramirez erhören darfst, wie? Ist es das? Du . . .«

»Barmherziger Gott! Wie heftig du bist, Giovanni«, sagte sie unbewegt. »Wer ist Ramirez . . . Ramirez . . . Wer ist das?« wiederholte sie verträumt, in der düsteren Dämmerung des umwölkten Golfs. Im Westen lag ein dunkelroter Streifen, wie eine glühende Eisenbarre vor einer höhlenartig finstern Welt, in der der prachtliebende Capataz der Cargadores seine Eroberungen an Liebe und Reichtum verborgen hatte.

»Höre, Giselle«, sagte er gemessen. »Ich werde zu deiner Schwester kein Wort von Liebe reden. Willst du wissen, warum?«

»O weh! Ich könnte es vielleicht nicht verstehen, Giovanni. Vater sagt, du seist nicht wie andere Männer; nie habe dich jemand recht verstanden. Und die Reichen würden noch einmal überrascht sein . . . Oh! Heilige im Himmel, ich bin müde.«

Sie hob ihre Stickerei, um die untere Hälfte ihres Gesichts zu verbergen, und ließ sie dann wieder sinken. Das Licht war gegen das Land zu abgeblendet, doch sahen sie aus der dunklen Säule des Turms das strahlende Bündel, von Linda geschürt, weit hinauswandern und sich in der letzten Glut des erlöschenden Horizonts verlieren.

Giselle Viola lehnte mit halbgeschlossenen Augen den Kopf gegen die Hauswand, hielt die kleinen Füße in weißen Strümpfen und schwarzen Pantoffeln übereinandergeschlagen und schien sich, ruhig und gefaßt, dem andrängenden Dämmern zu ergeben. Die Anmut ihres Körpers, ihre geheimnisvolle, vielversprechende Gleichgültigkeit teilten sich der Nacht des Stillen Golfs mit, wie ein betäubender Duft. Der unbestechliche Nostromo nahm in tiefen Atemzügen ihren verführerischen Liebreiz auf. Vor dem Verlassen des Hafens hatte er die Landkleidung des Kapitäns Fidanza abgelegt, um beim Hinausrudern zu der Insel weniger behindert zu sein. Nun stand er vor ihr, im gewürfelten Hemd mit roter Schärpe, wie er sie seinerzeit auf dem Kai getragen hatte – ein mittelländischer Matrose, der an Land gekommen war, um in Costaguana sein Glück zu versuchen. Das dunkle Rot der Dämmerung umhüllte auch ihn – weich, tief, eng, wie es kaum fünfzig Meter von diesem Fleck sich Abend um Abend um Don Martin Decouds Zweifelsucht gesammelt hatte, um sie schließlich aus leidenschaftlicher Sehnsucht zu einem Tod in Einsamkeit zu leiten.

»Du sollst es hören«, begann Nostromo endlich, völlig beherrscht. »Ich werde kein Wort von Liebe zu deiner Schwester reden, mit der ich von heute abend an verlobt bin – weil du es bist, die ich liebe. Du bist es!« . . .

Das Dämmerlicht zeigte ihm noch, wie unwillkürlich ein zärtliches, wollüstiges Lächeln auf ihre Lippen kam, die für Liebe und Küsse geformt schienen und sich alsbald in bleichem Entsetzen verzerrten. Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Während sie seiner Annäherung auswich, streckten sich ihre Arme ihm entgegen, königlich ungehemmt, in hingebendem Schenken. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und bedeckte das emporgewandte Gesicht, das in purpurnem Widerschein leuchtete, mit schnellen Küssen. Zärtlich und wissend nahm er behutsam sein Eigentum in Besitz und merkte, daß sie weinte. Da fand der unvergleichliche Capataz, der Held so vieler gleichgültiger Liebschaften, linde Zartheit, wie eine Frau vor einem unbekümmerten Kind. Er flüsterte ihr liebreich zu. Er setzte sich neben sie und zog ihren blonden Kopf an seine Brust. Er nannte sie seinen Stern und seine kleine Blume.

Es war dunkel geworden. Aus dem Wohnraum des Wärterhauses, wo Giorgio, einer der unsterblichen Tausend, sein heldenhaftes Löwenhaupt über ein Kohlenfeuer beugte, drangen das Brutzeln von Fett und der Duft einer künstlerischen Frittura.

In dem Aufruhr der Gefühle, die wie ein Wirbelsturm losgebrochen waren, behielt sie in ihrem Frauenkopf noch einen Rest von Besinnung. Der Mann war in der stillen Glut ihrer Umarmung für die Welt verloren. Doch sie flüsterte ihm ins Ohr:

»Barmherziger Gott! Was wird nun aus mir werden – hier – zwischen diesem Himmel und diesem Wasser, die ich hasse? Linda, Linda – ich sehe sie! . . .« Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien, deren Griff sich bei der Nennung dieses Namens plötzlich lockerte. Aber niemand näherte sich ihren dunklen Gestalten, die sich vor dem lichten Hintergrund der Hausmauer umschlungen hielten. »Linda! Arme Linda! Ich zittere! Ich werde sterben, aus Angst vor meiner armen Schwester Linda, die sich heute mit Giovanni verlobt hat – meinem Liebsten! Giovanni, du mußt wahnsinnig gewesen sein. Ich kann dich nicht verstehen; du bist nicht wie andere Männer! Ich werde dich niemand lassen – niemand – nur Gott selbst! Aber warum hast du das getan, so blind, verrückt, grausam, schrecklich?«

Sobald sie sich frei fühlte, beugte sie den Kopf und ließ die Hände sinken. Das Altartuch lag, wie von einem Windstoß verweht, weit weg von ihnen und leuchtete auf dem schwarzen Boden.

»Aus Angst, alle Hoffnung auf dich zu verlieren«, sagte Nostromo.

»Du wußtest, daß meine Seele dir gehörte! Du weißt alles! Sie war für dich geschaffen. Wer konnte sich zwischen dich und mich stellen? Was? Sage es mir!« wiederholte sie ohne Ungeduld, herrlich selbstsicher.

»Deine tote Mutter«, sagte er leise.

»Oh! . . . Die arme Mutter, sie hat immer . . . Sie ist nun eine Heilige im Himmel, und ich kann dich ihr nicht lassen. Nein, Giovanni! Nur Gott allein. Du warst wahnsinnig – aber es ist nun geschehen. Oh! Was hast du getan? Giovanni, mein Liebster, mein Leben, mein Herr, laß mich nicht hier in diesem Wolkengrab. Du kannst mich nun nicht verlassen! Du mußt mich fortnehmen – gleich – in diesem Augenblick – in dem kleinen Boot! Giovanni, nimm mich heute nacht mit, rette mich vor der Angst vor Lindas Augen, bevor ich sie wiedersehen muß!«

Sie schmiegte sich eng an ihn. Der Sklave des San Tomé-Silbers fühlte ein Gewicht wie von Ketten an seinen Gliedern, einen Druck wie von einer eisigen Hand auf seinen Lippen. Er wehrte sich gegen den Spuk.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Noch nicht. Es steht noch etwas zwischen uns und der freien Welt.«

Sie drängte sich enger an ihn, in einem kindlich unbewußten Versuch zur Verführung.

»Du redest irr, Giovanni – mein Liebster!« flüsterte sie lockend. »Was kann es sein? Nimm mich mit fort – in deinen Händen – zu Doña Emilia – fort von hier. Ich bin nicht sehr schwer.«

Es schien, als erwartete sie, daß er sie sofort auf beiden Händen hochheben würde. Sie hatte den Blick für jede Unmöglichkeit verloren. Alles konnte geschehen in dieser Nacht der Wunder. Als er sich nicht regte, schrie sie fast:

»Ich sage dir, daß ich mich vor Linda fürchte!« Und immer noch regte er sich nicht. Sie wurde ruhig und listig. »Was kann es sein?« schmeichelte sie.

Er fühlte sie in seinem Arm, warm, atmend, lebendig, zitternd. Im frohlockenden Bewußtsein seiner Kraft und im Übermaß seiner jubelnden Erregung nahm er einen Anlauf zur Befreiung:

»Ein Schatz!« sagte er. Alles blieb still. Sie verstand ihn nicht. »Ein Schatz. Ein Silberschatz, um ein goldenes Diadem für deine Stirne zu kaufen.«

»Ein Schatz«, wiederholte sie leise, als spräche sie aus tiefem Traum. »Was sagst du da?«

Sie machte sich zärtlich los. Er stand auf, sah auf sie hinunter und umfaßte in diesem Blick ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Lippen, die Grübchen in den Wangen; der ganze Zauber ihrer Persönlichkeit stand ihm in der dunklen Nacht des Golfs so klar vor Augen wie am hellen Mittag. Ihre nachlässige, verführerische Stimme zitterte vor staunender Ehrfurcht und unbezähmbarer Neugierde.

»Ein Silberschatz!« stammelte sie und fuhr dann schnell fort: »Was? Wo? Wie kamst du dazu, Giovanni?«

Noch einmal kämpfte er gegen den Zauberbann seines Sklaventums. Es war wie ein Heldenstreich, als er nun die Worte hervorstieß:

»Wie ein Dieb!«

Die tiefste Schwärze des Stillen Golfs schien sich auf sein Haupt niederzusenken. Er konnte das Mädchen nicht mehr sehen. Sie war wie in einen Abgrund des Schweigens versunken, aus dem nun nach einer Weile ihre Stimme wiederkehrte, zugleich mit dem leisen Schimmer ihres Gesichts.

»Ich liebe dich! Ich liebe dich!«

Diese Worte gaben ihm ein ungewohntes Gefühl von Freiheit; sie schlugen ihn stärker noch in Bann als der Schatz mit seinem verruchten Zauber; sie verwandelten seine müde Unterwerfung unter das tote Ding in ein überquellendes Kraftbewußtsein. Er wollte ihr, so sagte er, ein Leben bereiten, noch glänzender als das der Doña Emilia. Die Reichen lebten von den Schätzen, die sie dem Volk raubten; er aber habe den Reichen nichts genommen – nichts, was ihnen nicht durch ihre Torheit und ihren Verrat ohnedies schon verloren gewesen wäre. Denn er sei verraten worden, sagte er – verraten und versucht. Sie glaubte ihm . . . Er habe den Schatz in der Absicht aufbewahrt, daß er zur Rache dienen sollte; nun aber liege ihm nichts weiter daran. Er denke nur an sie. Er wolle ihre Schönheit in einen Palast versetzen, auf einem Hügel zwischen Olivenbäumen – einen weißen Palast über einer blauen See. Dort wolle er sie hüten wie ein Juwel in einem Schrein. Er wolle Land für sie kaufen – ihr eigenes Land, fruchtbar an Wein und Korn – und ihre kleinen Füße sollten darauf treten. Er küßte sie . . . Er hatte schon für all das gezahlt mit der Seele einer Frau und dem Leben eines Mannes . . . Der Capataz der Cargadores genoß den höchsten Rausch seiner Freigebigkeit. Er warf den Schatz, dessen Herr er gewesen war, großartig vor ihre Füße in der undurchdringlichen Finsternis des Golfs, einer Finsternis, die, wie die Menschen sagten, Gottes Weisheit wie die List des Teufels zuschanden machte. Nur das eine verlangte er: sie müsse ihn vorher langsam reich werden lassen.

Sie hörte wie im Traume zu. Ihre Finger wühlten in seinem Haar. Er erhob sich von den Knien, taumelnd, schwach, leer, als hätte er seine Seele fortgegeben.

»Dann beeile dich aber«, sagte sie. »Beeile dich, Giovanni, mein Liebster, mein Herr, denn ich will dich niemand lassen außer Gott. Und ich fürchte mich vor Linda.«

Er erriet ihr Schaudern und schwur, er wolle sein Bestes tun. Er vertraue dem Mut ihrer Liebe. Sie versprach, tapfer zu sein, damit er sie immer lieben könne – weit weg in einem weißen Palast, auf einem Hügel über der blauen See. Dann flüsterte sie eindringlich, mit schüchternem Locken:

»Wo ist der Schatz? Wo? Sag' mir das, Giovanni!«

Er öffnete den Mund und stand schweigend da, wie vom Donner gerührt.

»Nicht das! Nicht das!« keuchte er endlich hervor, atemlos bestürzt darüber, daß der Bann des Schweigens, der ihn gegen so viele Menschen stumm gemacht hatte, sich nun mit unverminderter Kraft wieder auf seine Lippen legte. Auch ihr, auch ihr nicht durfte er vertrauen. Es war zu gefährlich. »Ich verbiete dir, zu fragen«, fuhr er sie an und versuchte dabei nach Möglichkeit, den Zorn in seiner Stimme zu dämpfen.

Er hatte seine Freiheit nicht wiedergewonnen. Das Gespenst des verbotenen Schatzes erhob sich neben dem Mädchen wie eine Gestalt aus Silber, erbarmungslos und verschlossen, einen Finger über die bleichen Lippen gelegt. Seine Seele starb in ihm, als er sich selbst sah, wie er die Schlucht entlang kroch, den Geruch von Erde, von feuchtem Blattwerk in der Nase – wie er hineinkroch, zu einem Vorhaben entschlossen, das ihm das Herz abdrückte, und wieder herauskroch, mit Silber beladen, gespannt auf jedes Geräusch horchend. Es mußte noch in dieser selben Nacht getan werden – dieses elende Sklavenwerk!

Er beugte sich tief, drückte den Saum ihres Kleides an die Lippen und flüsterte dabei befehlend:

»Sag' ihm, daß ich nicht bleiben wollte.« Damit war er plötzlich verschwunden, schweigend, ohne daß in der dunklen Nacht auch nur ein Schritt zu hören gewesen wäre.

Sie saß still da, das Haupt nachlässig gegen die Wand gelehnt und die kleinen Füße in weißen Strümpfen und schwarzen Pantoffeln übereinandergeschlagen. Der alte Giorgio schien, als er herauskam, von der Botschaft nicht so sehr überrascht, wie sie es wohl gefürchtet hatte. Denn sie war nun voll unerklärlicher Angst – Angst vor allem und jedem, außer vor ihrem Giovanni und seinem Schatz. Doch das war unglaublich.

Der heldenhafte Garibaldiner nahm Nostromos plötzlichen Weggang mit weiser Nachsicht auf. Er gedachte seiner eigenen Gefühle und durchschaute mit männlichem Scharfblick die wahre Sachlage.

»Va bene. Laß ihn gehen. Haha! Wenn auch die Frau noch so schön ist, es brennt immer ein wenig. Freiheit, Freiheit. Es gibt mehr als eine Art. Er hat das große Wort ausgesprochen, und der Sohn Giambattista ist nicht zahm.« Er schien die unbewegliche, erschreckte Giselle unterweisen zu wollen: »Ein Mann soll nicht zahm sein«, orakelte er von der Türe aus weiter. Ihr regloses Schweigen schien ihm zu mißfallen. »Gib nicht dem Neide nach um der Schwester Los!« ermahnte er sie, sehr ernst, mit seiner tiefen Stimme.

Gleich darauf mußte er nochmals in die Türe treten, um seine jüngste Tochter ins Haus zu rufen. Es war spät. Er rief sie dreimal beim Namen, bevor sie auch nur den Kopf wandte. Allein gelassen, war sie in hilfloses Staunen verfallen. Sie ging wie im Tiefschlaf in das Zimmer, das sie mit Linda teilte. Der Eindruck war so zwingend, daß sogar der alte Giorgio seine bebrillten Augen von der Bibel erhob und den Kopf schüttelte, als sie die Türe hinter sich schloß.

Sie durchquerte das Zimmer, ohne nach rechts oder links zu sehen, und setzte sich zum offenen Fenster. Linda, die sich in ihrem jubelnden Glück vom Turm heruntergestohlen hatte, fand die Schwester, wie sie, eine brennende Kerze hinter sich, in die schwarze Nacht hinaussah – eine richtige Nacht im Golf, mit pfeifenden Windstößen und dem Lärm ferner Regenschauer, zu finster für Gottes Weisheit wie für des Teufels List. Giselle wandte beim Öffnen der Türe den Kopf nicht.

In dieser Unbeweglichkeit lag etwas, das Linda in den Tiefen ihres Paradieses erreichte. Die ältere Schwester riet ärgerlich: das Kind denkt an den verwünschten Ramirez. Linda sehnte sich nach einem Gespräch. So sagte sie mit ihrer herrischen Stimme: »Giselle!« und erhielt nicht die kleinste Bewegung zur Antwort.

Das Mädchen, das in einem Palast leben und den eigenen Boden treten sollte, war daran, vor Entsetzen zu sterben. Um keinen Preis der Welt hätte sie den Kopf gewandt, um ihrer Schwester ins Gesicht zu sehen. Ihr Herz jagte wild. Sie warf hastig hin:

»Sprich nicht zu mir. Ich bete.«

Die enttäuschte Linda ging leise hinaus. Und Giselle saß ungläubig da, verloren, betäubt, geduldig, als wartete sie auf die Bestätigung des Unglaublichen. Auch die hoffnungslose Finsternis der Wolken schien zu einem Traum zu gehören. Sie wartete.

Sie wartete nicht vergebens. Der Mann, dessen Seele erstorben war, hatte, als er mit Silber beladen aus der Schlucht herauskroch, das erleuchtete Fenster bemerkt und sich nicht enthalten können, nochmals zurückzugehen.

Gegen diesen undurchdringlichen Hintergrund, der die Umrisse des Hochgebirges an der Küste auslöschte, sah sie, wie durch ein Wunder, den Sklaven des San Tomé-Silbers. Sie nahm seine Rückkehr hin, als könnte von nun an die Welt in alle Ewigkeit keine Überraschung mehr für sie bergen.

Sie erhob sich, starr gespannt, und begann zu sprechen, lange bevor das Licht aus dem Zimmer auf das Gesicht des näherkommenden Mannes fiel.

»Du bist zurückgekommen, um mich mitzunehmen. Das ist gut! Öffne deine Arme, Giovanni, mein Liebster. Ich komme.«

Sein leiser Schritt hielt an, und mit wildglitzernden Augen sagte er heiser:

»Noch nicht. Ich muß langsam reich werden . . .« Ein drohender Unterton schlich sich in seine Stimme. »Vergiß nicht, daß du einen Dieb zum Liebsten hast.«

»Ja. Ja!« flüsterte sie hastig. »Komm näher! Höre! Verlaß mich nicht, Giovanni! Niemals, niemals! Ich will geduldig sein! . . .«

Ihre Gestalt beugte sich tröstend über die niedrige Brüstung dem Sklaven des verwunschenen Schatzes zu. Das Licht im Zimmer erlosch, und, mit Silber beladen, umschlang der prachtliebende Capataz in der Dunkelheit des Golfs ihren weißen Hals, wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert.

 


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