Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VIII

Einen Augenblick lang vergaßen sie über dieser außerordentlichen Entdeckung ihre Sorgen und Empfindungen. Die Empfindungen des Señors Hirsch, wie er so dalag, müssen die äußersten Entsetzens gewesen sein. Durch lange Zeit weigerte er sich, ein Lebenszeichen zu geben, bis endlich Decouds Drängen und mehr noch Nostromos ungeduldige Anregung, man solle ihn, da er ja doch tot schiene, über Bord werfen, ihn dazu bestimmten, erst ein Augenlid und dann das andere zu heben.

Es ergab sich, daß sich ihm keine sichere Möglichkeit geboten hatte, Sulaco zu verlassen. Er hatte bei Anzani gewohnt, dem Inhaber des Warenhauses auf der Plaza Mayor. Beim Ausbruch des Aufstandes aber war er vor Tagesgrauen aus dem Hause seines Gastfreundes geflohen, so eilig, daß er vergessen hatte, Schuhe anzuziehen. Er war blindlings, in Socken, den Hut in der Hand, in Anzanis Garten hinausgerannt. Furcht verlieh ihm die nötige Behendigkeit, einige niedere Mauern zu überklettern; und späterhin geriet er in die überwucherte Umwallung des verfallenen Franziskanerklosters in einer der Nebenstraßen. Er zwängte sich in das dichte Gebüsch hinein, mit der Unbekümmertheit der Verzweiflung, und so erklärte es sich auch, daß sein Körper zerkratzt und seine Kleidung zerfetzt war. Er blieb den ganzen Tag in seinem Versteck liegen; die Zunge klebte ihm am Gaumen infolge des furchtbaren Durstes, zu dem sich noch die Hitze und die Angst gesellten. Dreimal drangen verschiedene Trupps ein und suchten brüllend und fluchend nach Vater Corbelàn. Gegen Abend aber, während er immer noch reglos auf seinem Gesicht im Gebüsch lag, meinte er aus Angst vor der Stille sterben zu müssen. Er vermochte nicht recht zu erklären, was ihn dazu bewogen hatte, den Ort zu verlassen; doch offenbar hatte er es getan und sich längs der verödeten Rückseite aus der Stadt hinausschleichen können. Er trieb sich in der Dunkelheit nächst der Bahnlinie herum, so irr vor Angst, daß er es nicht wagte, sich den Feuern der italienischen Arbeiter zu nähern, die die Strecke bewachten. Er hatte die unklare Absicht, im Güterbahnhof Schutz zu suchen; doch die Hunde fielen ihn bellend an, Männer begannen zu schreien, und ein Schuß wurde in seiner Richtung abgefeuert. Er floh von den Toren fort. Durch reinen Zufall schlug er dabei den Weg nach dem großen Gebäude der O. S. N. ein. Zweimal strauchelte er über die Körper von Männern, die während des Tages getötet worden waren. Doch alles Lebendige erschreckte ihn noch weit mehr. Er duckte sich, kroch, sprang, warf sich nieder, immer von einer Art tierischen Instinkts geleitet, und hielt sich dabei von jedem Lichtschein und jedem Stimmenlärm fern. Sein Gedanke war, sich Kapitän Mitchell zu Füßen zu werfen und um Unterschlupf in den Räumen der O. S. N. Gesellschaft zu bitten. Die lagen ganz dunkel da, als er auf Händen und Knien näherkroch. Doch plötzlich rief ein Wachtposten laut: »Quien vive?« Es lagen mehrere Tote herum, und er warf sich sofort neben einem kalten Leichnam flach zu Boden. Er hörte eine Stimme sagen: »Da kriecht einer der verwundeten Schufte herum. Soll ich hingehen und ihm den Garaus machen?« Eine andere Stimme erwiderte, es sei nicht ratsam, sich ohne Laterne auf einen solchen Gang zu wagen; es sei vielleicht nur so ein Negro-Liberaler, der auf eine Gelegenheit lauerte, einem ehrlichen Mann ein Messer in den Bauch zu rennen. Hirsch hielt sich nicht damit auf, mehr zu hören, kroch bis an das Ende der Landungsbrücke vor und verbarg sich dort zwischen einem Haufen leerer Fässer. Nach einer Weile kamen ein paar Leute des Wegs, redend und mit brennenden Zigaretten. Er fragte sich nicht über die Wahrscheinlichkeit, ob sie ihm etwas tun würden, sondern rannte den Kai entlang, sah einen vertäuten Leichter längsseit liegen und warf sich hinein. Im ängstlichen Bestreben, sich zu verbergen, kroch er ganz vorne hin, unter das Halbdeck, und war dort mehr tot als lebendig, von Hunger und Durst namenlos gequält und vor Entsetzen beinahe ohnmächtig, liegengeblieben, bis er zahlreiche Schritte und die Stimmen der Europäer hörte, die die mit Silber beladene und von einem Trupp Cargadores geschobene Lore begleiteten. Aus den Reden entnahm er, um was es sich handelte, verriet aber seine Gegenwart nicht, aus Angst, daß ihm das Bleiben nicht gestattet werden würde. Sein einziger Gedanke zu der Zeit, beherrschend und mächtig, war, aus diesem schrecklichen Sulaco wegzukommen. Und nun bedauerte er es sehr. Er hatte Nostromo mit Decoud reden hören und wünschte sich an Land zurück. Er hatte durchaus keine Sehnsucht, in eine verzweifelte Sache verwickelt zu werden – in eine Lage, aus der es kein Davonrennen gab. Das unwillkürliche Stöhnen, das die Angst ihm abgerungen, hatte ihn den scharfen Ohren des Capataz verraten.

Sie hatten ihn sitzend gegen die Seitenwand des Leichters gelehnt, und er fuhr im kläglichen Bericht seiner Abenteuer fort, bis ihm die Stimme brach und sein Haupt auf die Brust sank. »Wasser!« flüsterte er mühsam. Decoud hielt einen der Krüge an seine Lippen. Er belebte sich unglaublich rasch und arbeitete sich bald auf die Füße. Nostromo befahl ihm ärgerlich und drohend, in den Bug zurückzugehen. Hirsch war einer der Männer, auf die die Angst wie ein Peitschenhieb wirkt, und er mußte wohl eine wilde Vorstellung von der Grausamkeit des Capataz haben. Er entfaltete außerordentliche Behendigkeit, während er in das Dunkel voraus verschwand. Sie hörten ihn über die Persenning kriechen; dann gab es einen schweren Fall, von einem kläglichen Seufzer gefolgt. Doch gleich herrschte wieder tote Stille im Vorschiff des Leichters, als hätte sich der Mann im Sturz erschlagen. Nostromo schrie drohend:

»Lieg still dort! Rühr kein Glied! Wenn ich auch nur einen Atemzug höre, dann komm ich hin und jag dir eine Kugel durch den Kopf!«

Die bloße Gegenwart eines Feiglings, auch wenn er nichts dazu tut, bringt doch den Gedanken an Verrat in eine gefährliche Lage. Nostromos gereizte Ungeduld ging in finstere Nachdenklichkeit über. Decoud bemerkte leise, wie im Selbstgespräch, daß ja schließlich der merkwürdige Fall nicht viel ausmache. Er könne nicht begreifen, welchen Schaden der Mann wohl stiften sollte. Schlimmstenfalls würde er im Wege sein, wie ein totes, nutzloses Ding, wie ein Holzklotz zum Beispiel.

»Ich wollte es mir zweimal überlegen, bevor ich mich von einem Holzklotz trennte«, sagte Nostromo ruhig. »Unvermutet kann etwas geschehen, wobei man ihn brauchen könnte. Aber bei einer Sache wie der unsrigen müßte ein Mann wie dieser über Bord geworfen werden. Wäre er selbst tapfer wie ein Löwe, so könnten wir ihn hier doch nicht brauchen. Wir sind nicht auf der Flucht ums liebe Leben, Señor. Es ist keine Schande, wenn ein tapferer Mann sich mit Mut und List zu retten versucht. Aber Sie haben ja seine Geschichte gehört, Don Martin. Daß er hier ist, ist nur ein Wunder der Angst . . .« Nostromo hielt inne. »In diesem Leichter ist kein Platz für Angst«, fügte er dann durch die Zähne hinzu.

Decoud hatte darauf keine Antwort zu geben. Es war nicht der Augenblick zu Erörterungen oder Gefühlsduseleien. Es gab tausend Arten, auf die ein von Entsetzen befallener Mann gefährlich werden konnte. Es lag auf der Hand, daß man mit Hirsch nicht reden, daß man ihn nicht zur Vernunft bringen oder mit Gründen überzeugen konnte. Die Geschichte seiner Flucht bewies das klar genug. Decoud bedachte, wie jammerschade es sei, daß nicht die Angst den Burschen umgebracht hatte. Die Natur, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war, schien grausam berechnet zu haben, wieviel Todesangst er noch aushalten könnte, ohne wirklich daran zu sterben. Soviel Entsetzen verdient ein wenig Mitleid. Decoud, obwohl dem Mitleid durchaus zugänglich, beschloß aber doch, sich keiner Handlung zu widersetzen, die Nostromo für richtig finden würde. Aber Nostromo tat nichts, und das Schicksal des Señors Hirsch blieb in der Schwebe, inmitten der Dunkelheit des Golfs Zufällen preisgegeben, die niemand vorhersehen konnte.

Der Capataz streckte die Hand aus und löschte plötzlich die Kerze. Decoud schien es, als hätte sein Gefährte durch eine einzige Bewegung die Welt der Geschehnisse, der Liebe, der Revolution zerstört, in der Decoud mit selbstgefälliger Überlegenheit alle Beweggründe und Leidenschaften, seine eigenen mit eingeschlossen, furchtlos zergliedert hatte.

Er keuchte ein wenig. Die Neuheit seiner Lage griff ihn an. Verstandesmäßig zuversichtlich, litt er darunter, sich der einzigen Waffe beraubt zu sehen, die er wirksam zu gebrauchen wußte. Kein Verstand vermochte die Dunkelheit des stillen Golfs zu durchdringen. Nur eine einzige Gewißheit blieb ihm, und das war die der maßlosen Eitelkeit seines Gefährten. Die war unmittelbar, eindeutig, schlicht und wirksam. Decoud, der den Mann benützt, hatte ihn gründlich zu verstehen gesucht. Er hatte hinter den mannigfaltigen Offenbarungen eines festgeprägten Charakters eine merkwürdige Einfalt der Beweggründe entdeckt. Darum blieb der Mann auch so erstaunlich ungekünstelt bei all dem eifersüchtigen Übermaß seiner Einbildung. Nun zeigte sich eine Verwicklung. Er war offenbar ärgerlich darüber, daß man ihm eine Aufgabe zuerteilt hatte, die soviel Möglichkeiten des Mißerfolgs aufwies. ›Ich wollte wohl wissen‹, dachte Decoud, ›wie er sich benähme, wenn ich nicht hier wäre?‹

Er hörte Nostromo wieder murmeln: »Nein! In diesem Leichter ist kein Raum für Furcht. Sogar der Mut scheint nicht gut genug. Ich habe ein gutes Auge und eine ruhige Hand; niemand kann sagen, daß er mich je müde oder unentschlossen sah; aber, por Dios, Don Martin, ich bin in diese tote Nacht zu einem Geschäft ausgeschickt worden, bei dem weder ein gutes Auge noch eine ruhige Hand noch Entschlußkraft von Nutzen sind . . .« Er ließ halblaut eine Kette spanischer und italienischer Flüche los. »Nichts als reine Verzweiflung kann hier helfen.«

Diese Worte standen in eigenartigem Gegensatz zu dem herrschenden Frieden – zu der fast greifbaren Stille des Golfs. Rings um das Boot ging mit plötzlichem Wispern ein Regenschauer nieder. Decoud nahm den Hut ab, ließ seinen Kopf naß werden und fühlte sich sehr erfrischt. Nun streichelte auch ein kleiner Luftzug seine Wange. Der Leichter bekam Fahrt, doch der Regenschauer blieb zurück. Die Tropfen fielen nicht mehr auf Decouds Kopf und Hände; das Wispern erstarb weit weg. Nostromo knurrte befriedigt, faßte die Ruderpinne und rüttelte leise daran, wie Seeleute es tun, um den Wind aufzumuntern. Während der ganzen letzten drei Tage hatte Decoud nie weniger die Notwendigkeit dessen gefühlt, was der Capataz Verzweiflung nannte.

»Ich glaube, ich höre noch einen Regenschauer auf dem Wasser«, sagte er still zufrieden. »Ich hoffe, er kommt bis zu uns.«

Nostromo hielt sofort die Ruderpinne an. »Sie hören noch einen Schauer?« fragte er zweifelnd. Die Dunkelheit schien dünner geworden; Decoud konnte nun die Umrisse der Gestalt seines Gefährten erkennen, und sogar das Segel trat wie eine viereckige Schneefläche aus der Nacht.

Das Geräusch, das Decoud entdeckt hatte, klang nun deutlich über das Wasser. Nostromo erkannte sofort, daß es sich aus einem Zischen und Plätschern zusammensetzte, wie es ein Dampfer erzeugt, der in einer ruhigen Nacht durch glattes Wasser fährt. Es konnte nur der gekaperte Transportdampfer mit den Truppen von Esmeralda sein. Er führte keine Lichter. Das Zischen des Dampfes wurde jeden Augenblick lauter, hörte manchmal ganz auf, hob plötzlich wieder an und kam bedenklich näher, als hielte das unsichtbare Schiff, dessen Lage nicht genau zu erraten war, gerade auf den Leichter zu. Dieser behielt langsam und lautlos Fahrt, vor einer so schwachen Brise, daß Decoud sich überlehnen und das Wasser durch seine Finger rinnen fühlen mußte, um sich zu überzeugen, daß sie überhaupt vom Flecke kamen. Seine Müdigkeit war vergangen. Er freute sich, daß der Leichter Fahrt machte. Nach der Totenstille wirkte das Geräusch des Dampfers überlaut und erschreckend. Es war unheimlich, ihn nicht sehen zu können. Plötzlich war alles ruhig. Der Dampfer hatte angehalten, doch so nahe bei ihnen, daß der abgeblasene Dampf sein dumpfes Schüttern gerade über ihre Köpfe wegschickte.

»Sie versuchen festzustellen, wo sie sind«, flüsterte Decoud. Wieder lehnte er sich hinaus und tauchte die Finger ins Wasser. »Wir fahren ganz schön«, sagte er zu Nostromo.

»Es scheint, daß wir vor dem Bug passieren«, meinte der Capataz. »Aber das heißt mit dem Tod Blindekuh spielen. Es hat keinen Sinn, weiterzufahren. Wir dürfen nicht gesehen oder gehört werden.«

Sein Flüstern klang rauh vor Erregung. Von seinem Gesicht war nur das Schimmern der weißen Augäpfel zu sehen. Seine Finger gruben sich in Don Martins Schulter. »Das ist der einzige Weg, um den Schatz vor diesem Dampfer voll Soldaten zu retten. Jeder andere hätte Lichter geführt. Aber Sie sehen ja, es ist nicht der kleinste Schimmer da, der uns zeigen könnte, wo der Dampfer ist.«

Decoud stand wie gelähmt; nur seine Gedanken arbeiteten wild. Im Augenblick gedachte er des trostlosen Blickes Antonias, als er sie am Lager ihres Vaters verlassen hatte, im düsteren Hause der Avellanos, dessen Fensterläden geschlossen, dessen Türen aber alle offen waren und das alle Dienstboten bis auf einen alten Neger am Tore verlassen hatten. Er erinnerte sich an die Casa Gould bei seinem letzten Besuch, die Reden, den Klang der Stimmen, die undurchdringliche Haltung von Carlos Gould, an Frau Goulds Gesicht, so gebleicht von Angst und Müdigkeit, daß ihre Augen die Farbe gewechselt zu haben schienen, so dunkel lagen sie in dem weißen Gesicht. Ganze Sätze des Aufrufs schossen ihm durch den Kopf, des Aufrufs, den Barrios von seinem Hauptquartier in Cayta aus erlassen sollte, sobald Decoud selbst dahingekommen wäre; den wahren Keim des neuen Staates, die Separatisten-Proklamation, die er vor seinem Abschied noch in Eile Don José vorzulegen versucht hatte. Gott mochte wissen, ob der alte Staatsmann, der unter dem starren Blick seiner Tochter auf seinem Lager ausgestreckt lag, die Worte noch erfaßt hatte; er war unfähig gewesen, zu sprechen, doch hatte er gewiß den Arm von der Decke erhoben; seine Hand hatte sich bewegt, als wollte sie das Zeichen des Kreuzes in die Luft machen, eine Gebärde des Segens, der Zustimmung. Decoud hatte den ersten Entwurf in der Tasche, mit Bleistift auf mehrere lose Blätter geschrieben, die den wuchtigen Aufdruck trugen: »Verwaltung der San Tomé-Mine. Sulaco. Republik Costaguana.« Er hatte ihn Seite um Seite in wilder Hast auf Carlos Goulds Tisch geschrieben. Frau Gould hatte ihm wiederholt während des Schreibens über die Schulter gesehen; aber der Señor Administrador war breitbeinig dabeigestanden und hatte nicht einmal einen Blick darauf tun wollen, als der Entwurf fertig war. Er hatte mit einer nachdenklichen Handbewegung abgewinkt. Nur Geringschätzung konnte die Ursache gewesen sein, nicht etwa Vorsicht, denn er hatte keinerlei Einspruch dagegen erhoben, daß die Briefbogen der Verwaltung zu einem so gefährlichen Schriftstück Verwendung fanden. Und das zeigte seine Mißachtung, die wahre englische Mißachtung der Alltagsklugheit – als wäre nichts außerhalb der eigenen Gedanken und Gefühle ernsthafterer Anerkennung wert. Decoud hatte ein oder zwei Sekunden Zeit gehabt, sich wütend über Carlos Gould zu ärgern, und sogar noch ein wenig über Frau Gould, in deren Obhut er, allerdings ohne Worte, Antonia gelassen hatte. Besser tausendmal zugrunde gehen, als die eigene Rettung solchen Leuten verdanken, sagte er sich böse. Nostromos Finger, die immer noch auf seiner Schulter lagen, schlossen sich fester und riefen ihn in die Gegenwart zurück.

»Die Dunkelheit ist unser Freund«, murmelte ihm der Capataz ins Ohr. »Ich werde nun das Segel streichen und unsere Rettung der Schwärze des Golfs anvertrauen. Kein Auge kann uns sehen, wenn wir mit nacktem Mast stilliegen. Ich will es gleich tun, bevor uns der Dampfer noch näher kommt. Das leise Knirschen eines Blocks könnte uns und den Schatz der San Tomé-Mine verraten.«

Er bewegte sich lautlos wie eine Katze. Decoud hörte keinen Ton; und nur aus dem Verschwinden der schimmernden, rechteckigen Fläche entnahm er, daß das Segel niedergefiert war, so vorsichtig, als wäre es aus Glas gewesen. Im nächsten Augenblick hörte er Nostromos ruhige Atemzüge neben sich.

»Sie rühren sich am besten nicht vom Fleck, Don Martin«, riet der Capataz eindringlich. »Sie könnten straucheln oder an etwas stoßen, das Lärm machen würde. Die Ruder und die Bootshaken liegen noch herum. Rühren Sie sich nicht, so lieb Ihnen Ihr Leben ist, por Dios, Don Martin«, flüsterte er, immer noch freundlich, aber mit wildem Unterton. »Ich bin so verzweifelt, daß ich Ihnen ohne weiteres das Messer ins Herz stoßen könnte, wüßte ich nicht, daß Euer Gnaden ein mutiger Mann und imstande sind, stockstill stehenzubleiben, was immer auch geschieht.«

Grabesstille herrschte um den Leichter. Es war schwer zu glauben, daß in nächster Nähe ein Dampfer voll Menschen lag, mit vielen Augenpaaren, die von der Brücke aus die Nacht nach einem Schimmer von Land durchspähten. Das Abblasen des Dampfes hatte aufgehört, und der Dampfer hielt immer noch, offenbar zu weit weg, als daß ein anderes Geräusch den Leichter hätte erreichen können.

»Vielleicht wären Sie dazu imstande, Capataz«, hob Decoud leise an. »Aber Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Es gibt anderes als die Furcht vor Ihrem Messer, um mein Herz ruhig zu halten. Ich werde Sie nicht verraten. Nur haben Sie vergessen . . .«

»Ich habe offen zu Ihnen gesprochen, als zu einem Mann, der gleich verzweifelt ist wie ich«, erklärte der Capataz. »Das Silber muß vor den Monteristen gerettet werden. Ich habe Kapitän Mitchell dreimal gesagt, ich wollte lieber allein gehen. Auch Don Carlos habe ich es gesagt. Es war in der Casa Gould. Sie hatten nach mir geschickt. Die Damen waren da, und als ich zu erklären versuchte, warum ich Sie nicht mit mir haben wollte, da haben sie mir, beide, eine hohe Belohnung für Ihre Sicherheit versprochen. Merkwürdig genug, so etwas einem Mann zu sagen, den man gerade in einen fast sicheren Tod hinausschickt. Die Herrschaften scheinen nicht Verstand genug zu haben, um zu begreifen, was sie einem aufgeben. Ich sagte ihnen, daß ich nichts für Sie tun könnte. Bei dem Banditen Hernandez wären Sie sicherer gewesen. Sie hätten ganz gut aus der Stadt hinausreiten können, ohne mehr zu riskieren, als daß Ihnen im Dunkeln ein Schuß nachgeschickt worden wäre. Aber es war ja, als wären sie alle taub. Ich mußte versprechen, daß ich Sie unter dem Hafentor erwarten würde. Ich wartete. Und nun sind Sie, weil Sie ein tapferer Mann sind, so sicher wie das Silber; nicht mehr und nicht minder.«

Im selben Augenblick, wie in Zustimmung zu Nostromos Worten, fuhr der unsichtbare Dampfer wieder an, doch nur mit halber Kraft, wie man aus den langsamen Schlägen der Schraube gut erkennen konnte. Das Geräusch wanderte merklich, ohne aber näherzukommen. Es entfernte sich sogar ein wenig, recht dwars vom Leichter, und hörte dann wieder auf.

»Sie versuchen die Isabellen zu sichten«, murmelte Nostromo, »um dann gerade auf den Hafen zuhalten und das Zollamt mit dem Schatz darin überrumpeln zu können. Haben Sie jemals Sotillo gesehen, den Kommandanten von Esmeralda? Ein hübscher Kerl mit weicher Stimme. Als ich herkam, sah ich ihn oft in der Calle mit den Señoritas an den Fenstern der Häuser plaudern und dabei unaufhörlich seine weißen Zähne zeigen. Doch einer meiner Cargadores, der früher Soldat war, hat mir erzählt, daß er einmal weit weg im Campo, wohin er als Werbeoffizier geschickt war, einen Mann hat lebend schinden lassen. Es ist ihm nie in den Kopf gekommen, daß die O. S. N. Gesellschaft einen Mann haben könnte, der imstande wäre, ihm das Spiel zu verderben.«

Die murmelnde Beredsamkeit des Capataz bestürzte Decoud wie ein Zeichen der Schwäche. Und doch mag beredte Entschlossenheit so echt sein wie grimmiges Schweigen.

»Sotillos Spiel ist noch lange nicht verdorben«, sagte er. »Haben Sie den Narren da vorne vergessen?«

Nostromo hatte Señor Hirsch nicht vergessen. Er machte sich bittere Vorwürfe, daß er vor der Abfahrt vom Kai den Leichter nicht durchsucht hatte. Er machte sich Vorwürfe, daß er Hirsch nicht erdolcht und über Bord geworfen hatte, im Augenblick der Entdeckung, ohne ihm nur ins Gesicht zu sehen. Das hätte gut zu dem verzweifelten Unternehmen gepaßt. Doch was immer auch geschah, Sotillo hatte schon verspielt; sogar wenn der Tropf dort vorne, der sich so totenstill verhielt, irgend etwas tat, um die Anwesenheit des Leichters zu verraten, so war doch Sotillo – falls er es war, der die Truppen an Bord befehligte – immer noch um seine Beute gebracht.

»Ich habe ein Beil in der Hand«, flüsterte Nostromo grimmig, »mit dem ich in drei Hieben den Bootsboden durchhacken könnte, überdies hat ja auch jeder Leichter im Heck einen Pfropfen, und ich weiß genau, wo er ist. Ich fühle ihn unter der Fußsohle.«

Decoud hörte aus dem hastigen Murmeln die echte Entschlossenheit und die wütende Erregung des berühmten Capataz heraus. Bevor der Dampfer, von einem oder zwei Schreien gelenkt (denn mehr würden es nicht sein, sagte Nostromo und knirschte hörbar mit den Zähnen), den Leichter finden konnte, würde er übergenug Zeit haben, den Schatz, den man ihm um den Hals gehängt hatte, zu versenken.

Die letzten Worte zischte er Decoud ins Ohr. Decoud sagte nichts. Er war völlig überzeugt. Die gewohnte, kennzeichnende Ruhe des Mannes war dahin. Sie paßte nicht zu dem Bilde, das er sich von der Sache gemacht hatte. Und darunter war etwas Tiefes zum Vorschein gekommen, etwas, das niemand erwartet hätte. Decoud zog mit vorsichtigen Bewegungen seinen Rock aus und entledigte sich der Schuhe. Er sah die Ehrenpflicht nicht ein, etwa mit dem Schatz unterzugehen. Sein Ziel war, zu Barrios zu gelangen, nach Cayta, wie der Capataz sehr wohl wußte. Und auch er dachte, auf seine Art, an den Versuch alle die Verzweiflung zu wenden, deren er fähig war. Nostromo murmelte: »Richtig, richtig. Sie sind ein Politiker, Señor. Gehen Sie zum Heere und bringen Sie eine neue Revolution in Gang.« Immerhin gab er zu bedenken, daß zu jedem Leichter ein kleines Beiboot gehörte, das zwei Mann, wenn nicht mehr, gut aufnehmen konnte. Das ihre schleppten sie nach.

Das hatte Decoud nicht gewußt. Natürlich war es zu finster, als daß er es hätte sehen können, und erst als Nostromo ihm die Fangleine in die Hand drückte, die achtern an einer Klampe festgemacht war, kam ihm das Gefühl der Erlösung voll zum Bewußtsein. Der Gedanke, im Wasser herumzuschwimmen, in tiefer Nacht, ohne zu wissen wohin, wahrscheinlich im Kreis herum, bis er aus Erschöpfung versank: der Gedanke war furchtbar. Vor der nackten, grausamen Sinnlosigkeit eines solchen Endes hielt sein angenommener, gleichgültiger Pessimismus nicht stand. Im Vergleich dazu schien die Möglichkeit, in einem Boot hintreiben zu müssen, dem Durst, dem Hunger, der Entdeckung, Einkerkerung, Hinrichtung ausgesetzt, geradezu erfreulich und wohl wert, mit einiger Selbstverachtung bezahlt zu werden. Er nahm Nostromos Vorschlag, sofort in das Beiboot zu gehen, nicht an. »Es kann uns unvermutet etwas zustoßen, Señor«, bemerkte der Capataz, versprach aber zugleich getreulich, er wolle die Fangleine augenblicklich loswerfen, wenn die Notwendigkeit einträte.

Doch Decoud versicherte ihm leichthin, er gedenke erst im allerletzten Augenblick ins Beiboot zu gehen und nur dann, wenn auch der Capataz mitkäme. Die Dunkelheit des Golfs erschien ihm nicht mehr als das Ende aller Dinge. Sie gehörte der lebenden Welt an; während man sie durchfuhr, konnte man ja Mißerfolg und Tod neben sich fühlen. Zugleich bot sie auch Zuflucht; er freute sich der undurchdringlichen Finsternis. »Wie eine Mauer, wie eine Mauer!« flüsterte er vor sich hin.

Einzig nur der Gedanke an Señor Hirsch erschütterte seine Zuversicht. Es erschien Decoud nun als die Höhe leichtfertiger Torheit, daß der Mann nicht gefesselt und geknebelt worden war. Solange der elende Bursche die Möglichkeit hatte, einen Schrei auszustoßen, waren sie in ständiger Gefahr. Nun machte ihn das maßlose Entsetzen stumm, doch niemand konnte wissen, wann es sich in Gebrüll Luft machen würde.

Gerade die wahnsinnige Angst, die sowohl Decoud wie Nostromo aus den wilden, irren Augen und aus dem ständigen Zucken des Mundes gelesen hatten, gerade sie hatte Señor Hirsch vor den grausamen Notwendigkeiten dieser verzweifelten Sache bewahrt. Der Augenblick, ihn für immer stumm zu machen, war vorbei, weil es, wie Nostromo auf Decouds Bedauern erwiderte, zu spät dazu war! Es konnte nun nicht mehr ohne Lärm geschehen, um so weniger, da man die genaue Lage des Mannes nicht kannte. Wo immer er auch sich zitternd verkrochen haben mochte – es war zu gefährlich, ihm in die Nähe zu kommen. Er würde wahrscheinlich um Gnade zu heulen beginnen. Es war viel besser, ihn in Frieden zu lassen, da er sich so ruhig verhielt. Diesem Schweigen aber vertrauen zu müssen, fiel Decoud mit jedem Augenblick schwerer aufs Herz.

»Ich wollte, Capataz, du hättest den rechten Augenblick nicht vorübergehen lassen«, murmelte er.

»Was! Ihn für immer stumm zu machen! Ich hielt es für richtig, erst zu hören, wie er hierhergekommen ist. Es war zu merkwürdig. Wer hätte sich vorstellen können, daß es blanker Zufall war? Und nachher, Señor, als ich sah, wie Sie ihm Wasser zu trinken gaben, da konnte ich es nicht mehr tun. Nicht, nachdem ich gesehen hatte, wie Sie ihm den Wasserkrug an die Lippen hielten, als wäre er Ihr Bruder, Señor. Notwendigkeiten dieser Art darf man nicht zu lange überlegen. Und doch wäre es keine Grausamkeit gewesen, ihm sein jämmerliches Leben zu nehmen. Es ist ja nichts als Angst. Damals hat ihn Ihr Mitleid gerettet, und jetzt ist es zu spät. Es könnte nicht ohne Lärm geschehen.«

In dem Dampfer war alles völlig ruhig, und die Stille war so tief, daß Decoud das Gefühl hatte, der leiseste Laut müßte ungehemmt und hörbar bis ans Ende der Welt dringen. Wenn nun Hirsch hustete oder nieste? Sich einer so törichten Nichtigkeit ausgeliefert zu sehen, war zu schlimm, als daß man noch darüber hätte spotten mögen. Auch Nostromo schien unruhig zu werden. War es möglich, fragte er sich, daß dem Dampfer die Nacht zu schwarz wäre und er auf dem Fleck bis zum Tagesanbruch liegenbleiben würde? Er begann zu denken, daß hierin letzten Endes die wirkliche Gefahr läge. Er fürchtete, daß die Dunkelheit, die jetzt sein Schutz war, ihn schließlich verderben würde.

Sotillo war, wie Nostromo vermutet hatte, der Befehlshaber des Truppentransports. Die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden in Sulaco waren ihm nicht bekannt, noch auch wußte er, daß der Telegraphist in Esmeralda es fertiggebracht hatte, seinen Kollegen in Sulaco zu warnen. Wie viele Offiziere der Provinzgarnisonen war Sotillo bewogen worden, sich der Sache der Ribieristen anzuschließen, im Glauben, daß dahinter der ungeheure Reichtum der Gould-Konzession stünde. Er hatte seinerzeit in der Casa Gould verkehrt, dort seine Blanco-Überzeugungen und seinen Eifer, für Reformen vor Don José Avellanos entwickelt und dabei freimütige, ehrliche Blicke zu Frau Gould und Antonia hinübergeschickt. Man wußte, daß er einer guten Familie angehörte, die während Guzman Bentos Gewaltherrschaft verfolgt und in Armut gestürzt worden war. Die Ansichten, die er äußerte, erschienen für einen Mann seiner Abstammung und seiner Vorgeschichte natürlich und angemessen. Und er spielte durchaus nicht Komödie; es kam ihm ganz von Herzen, erhabene Gefühle zu beteuern, während all sein Sinnen auf eine Erkenntnis gerichtet war, die ihm damals gesund und vernünftig erschien – die Erkenntnis, daß der Gatte der Antonia Avellanos naturgemäß ein vertrauter Freund der Gould-Konzession sein müßte. Das hob er sogar einmal Anzani gegenüber hervor, als er in dem düsteren, feuchten Raum hinter dem Laden unter den Arkaden über das sechste oder siebente kleine Darlehen verhandelte. Er wies den Warenhausbesitzer auf seine ausgezeichneten Beziehungen zu der emanzipierten Señorita hin, die wie eine Schwester zu der englischen Dame stand. Er schob einen Fuß vor, kreuzte die Arme und bot sich stolzen Blickes Anzanis Betrachtung dar.

»Sieh, elender Krämer! Wie kann ein Mann wie ich bei einer Frau Pech haben, und noch dazu bei einem überspannten Mädel, das in der törichtesten Ungebundenheit lebt?« schien er zu sagen.

Sein Gehaben in der Casa Gould war natürlich wesentlich anders – frei von aller Überhebung und sogar ein wenig bedrückt. Wie die meisten seiner Landsleute ließ er sich durch den Klang schöner Worte fortreißen, besonders, wenn er selbst es war, der sie aussprach. Er war von durchaus nichts überzeugt, außer von der unwiderstehlichen Macht seiner persönlichen Vorzüge. Diese Überzeugung aber war so wurzelecht, daß ihn nicht einmal Decouds Auftauchen in Sulaco und dessen enger Verkehr mit den Goulds und Avellanos beunruhigte. In Gegenteil, er versuchte sich mit diesem reichen Costaguanero aus Europa zu befreunden, in der Hoffnung, von ihm allmählich eine starke Summe zu entleihen. Der einzige Leitgedanke seines Lebens war es, Geld zur Befriedigung seiner kostspieligen Neigungen aufzutreiben, denen er hemmungslos nachgab, da ihm jede Beherrschung fehlte. Er hielt sich für einen Meister der Ränke, doch war seine Verderbtheit so einfach wie ein tierischer Instinkt. Zu Zeiten, in der Einsamkeit, hatte er Wutanfälle, wie auch bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel, wenn er mit Anzani allein in einem Zimmer war, um ein Darlehen zu erwirken.

Seine Reden hatten ihm den Oberbefehl über die Garnison von Esmeralda eingetragen. Dieser kleine Hafen hatte seine Bedeutung als Endstation des größten Unterseekabels, das die Westliche Provinz mit der Außenwelt verband, und als Zweigstelle für die Linie nach Sulaco. Don José Avellanos hatte ihn vorgeschlagen, und Barrios hatte mit bärbeißigem Spott gemeint: »O ja, laßt nur Sotillo gehen. Er ist gerade der Mann, um das Kabel zu bewachen, und die Damen von Esmeralda wollen doch auch an die Reihe kommen.« Barrios, ein fraglos tapferer Mann, hatte keine hohe Meinung von Sotillo.

Nur durch das Esmeralda-Kabel konnte die San Tomé-Mine in steter Verbindung mit dem großen Finanzmann bleiben, dessen schweigende Zustimmung die Stärke der Ribieristenbewegung ausmachte. Diese Bewegung hatte sogar dort ihre Gegner. Sotillo herrschte in Esmeralda mit strengen Gegenmaßnahmen, bis ihm der widrige Verlauf der Ereignisse auf dem fernen Schauplatz des Bürgerkrieges die Überzeugung aufdrängte, daß die Silbermine letzten Endes ja doch dem Sieger in die Hände fallen mußte. Doch war Vorsicht geboten. Er begann damit, der treu ribieristischen Gemeindevertretung von Esmeralda gegenüber eine düstere, geheimnisvolle Haltung zu zeigen. Später, auf die Nachricht hin, daß der Kommandant mitten in der Nacht Offiziersversammlungen abhielt (die Kunde davon war irgendwie durchgesickert), fühlten sich die Herren bewogen, ihre öffentlichen Pflichten ganz zu vernachlässigen und sich in ihren Häusern eingesperrt zu halten. Eines Tages wurden alle Briefe, die der Überlandbote aus Sulaco gebracht hatte, von einem Trupp Soldaten aus dem Postamt in die Kommandantur geschafft, ohne alle Heimlichkeit, Erklärung oder Entschuldigung. Sotillo hatte über Cayta von der endgültigen Niederlage Ribieras erfahren.

Dies war das erste offene Anzeichen eines Wechsels in seinen Überzeugungen. Sofort konnte man auch bekannte Demokraten, die bis dahin in ständiger Angst vor Verhaftung, Fußeisen und sogar Durchpeitschung gelebt hatten, durch das große Tor der Kommandantur ein und aus gehen sehen, wo die Pferde der Ordonnanzen unter schweren Sätteln dösten, während die Männer in zerlumpten Uniformen und spitzen Strohhüten sich auf einer Bank rekelten und ihre nackten Füße in die Sonne hinausstreckten; oben auf den Stufen stand eine Schildwache in rotem, an den Ellbogen zerrissenem Friesrock und sah hochmütig über das gemeine Volk weg, das im Vorübergehen die Hüte zog.

Sotillos eigene Gedanken reichten über die Sorge um seine persönliche Sicherheit und die Möglichkeit, die ihm anvertraute Stadt zu plündern, nicht hinaus; doch fürchtete er, daß ein so verspäteter Beitritt bei den Siegern nur auf geringe Dankbarkeit stoßen würde. Er hatte gerade einen Augenblick zu lange an die Macht der San Tomé-Mine geglaubt. Die beschlagnahmten Briefschaften hatten ihm eine frühere Nachricht bestätigt, daß nämlich eine große Menge Silberbarren im Zollamt zu Sulaco lag. Diese in Besitz zu nehmen, mußte eine eindeutig monteristische Tat sein; ein Dienst, der auf gewissen Lohn rechnen konnte. Hatte er das Silber in Händen, so konnte er für sich und seine Soldaten Bedingungen stellen. Er wußte weder von dem Aufstand, noch von der Flucht des Präsidenten nach Sulaco und der harten Verfolgung durch Monteros Bruder, den Guerillero. Das Spiel schien fest in seinen Händen. Seine ersten Züge waren es, das Telegraphenamt zu besetzen und den Regierungsdampfer zu beschlagnahmen, der im Hafen von Esmeralda, einer engen Bucht, lag. Diese letztgenannte Unternehmung wurde ohne Schwierigkeit von einer Kompanie: Soldaten ausgeführt, die unvermutet über die Laufplanken stürmte, während der Dampfer am Kai lag. Der Leutnant aber, der den Auftrag bekommen hatte, den Telegraphisten zu verhaften, hielt sich unterwegs; vor dem Café in Esmeralda auf, verteilte dort einigen Brandy an seine Leute und erfrischte sich selbst auf Kosten des Besitzers, eines bekannten Ribieristen. Die ganze Abteilung wurde schwer berauscht, zog johlend ihres Weges fort und feuerte gelegentliche Schüsse auf die Fenster längs der Straße. Diese kleine Festlichkeit, die sich für das Leben des Telegraphisten hätte gefährlich erweisen können, gab ihm schließlich doch die Möglichkeit, seine Warnung nach Sulaco abzuschicken. Der Leutnant, der mit gezogenem Säbel die Stiegen hinauf gestolpert war, küßte bald darauf den Beamten auf beide Wangen, in einem der unvermittelten Stimmungsumschläge, die bei einem gewissen Grad von Trunkenheit so häufig sind. Er nahm den Telegraphisten innig um den Hals und versicherte ihm, daß alle Offiziere der Garnison von Esmeralda zu Obersten gemacht werden sollten, und dabei strömten Tränen der Glückseligkeit über sein aufgedunsenes Gesicht. So geschah es, daß der Platzmajor, als er später des Wegs kam, die ganze Abteilung auf den Stiegen und in den Gängen schlafend und den Telegraphisten (der die Gelegenheit zur Flucht nicht benützt hatte) eifrig mit dem Sendehebel beschäftigt fand. Der Major führte ihn barhäuptig, mit auf den Rücken gebundenen Händen, davon, verheimlichte aber die Wahrheit vor Sotillo, der so in Unkenntnis der nach Sulaco geschickten Warnung blieb.

Der Oberst war nicht der Mann, es zu leiden, daß sich gegen die geplante Überrumpelung ein Zweifel erhob. Der Plan schien ihm todsicher; er hatte mit ungebärdiger, kindischer Ungeduld sein Herz darangehängt. Schon seit dem Augenblick, da der Dampfer um die Punta Mala in die tiefe Dunkelheit des Golfs eingebogen, war er inmitten einer Gruppe von Offizieren, die nicht minder aufgeregt waren als er selbst, auf der Brücke geblieben. Eingeschüchtert durch das Drängen und die Drohungen Sotillos und seines Stabes, hatte der bedauernswerte Kapitän des Dampfers diesen so vorsichtig, wie man es ihm erlauben wollte, in Fahrt gehalten. Einige der Herren hatten fraglos schwer getrunken, aber die Aussicht, die Hand auf solche Reichtümer legen zu können, machte sie töricht tollkühn und zugleich auch sehr ängstlich. Der alte Major des Bataillons, ein dummer, mißtrauischer Mensch, der nie in seinem Leben zu Schiff gefahren war, zeichnete sich aus, indem er plötzlich das Kompaßlicht löschte, das einzige, das an Bord, der Navigation wegen, erlaubt war. Er konnte nicht begreifen, wieso es dazu dienen sollte, den Weg zu finden. Zu der heftigen Widerrede des Kapitäns stampfte er mit dem Fuß und schlug auf den Griff seines Degens. »Aha! Hab' ich dich entlarvt!« frohlockte er. »Nun raufst du dir das Haar, aus Verzweiflung über meine Schlauheit! Bin ich ein Kind, daß ich glauben sollte, ein Licht in der Messingbüchse da könnte dir anzeigen, wo der Hafen ist? Ich bin ein alter Soldat, das bin ich. Ich kann einen Verräter meilenweit riechen! Du wolltest, daß das Licht deinem Freunde, dem Engländer, unser Kommen anzeigen sollte! Ein Ding wie das hier – dir den Weg zeigen! Was für eine elende Lüge! Que picardia! Ihr Leute von Sulaco seid alle im Sold dieser Fremden. Du verdientest es, daß ich dir meinen Degen durch den Leib rennte.« Andere Offiziere eilten hinzu und versuchten seine Entrüstung zu dämpfen, durch die wiederholte Erklärung: »Nein! Nein! Das ist ein Werkzeug der Seeleute, Major. Es ist kein Verrat!« Der Schiffskapitän warf sich mit dem Gesicht nach unten auf die Brücke hin und weigerte sich, aufzustehen. »Macht gleich ein Ende mit mir«, wiederholte er mit erstickter Stimme. Sotillo mußte eingreifen.

Der Lärm und der Aufruhr auf der Brücke wurden so groß, daß der Steuermann das Rad verließ. Er suchte im Maschinenraum Zuflucht und alarmierte die Ingenieure, die, trotz den Drohungen der zu ihrer Bewachung aufgestellten Soldaten, die Maschinen stoppten und erklärten, sie wollten sich lieber erschießen lassen, als Gefahr laufen, da unten zu ertrinken.

Dies war das erstemal, daß Nostromo und Decoud den Dampfer anhalten hörten. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt und das Kompaßlicht neu angezündet war, fuhr er weiter und passierte den Leichter weit weg, auf der Suche nach den Isabellen. Die Inselgruppe war nicht auszunehmen, und auf die klägliche Vorstellung des Schiffskapitäns hin erlaubte Sotillo, daß die Maschinen nochmals gestoppt wurden, um abzuwarten, daß die Wolkenbank über dem Golf sich wieder einmal höbe und die Dunkelheit sich vorübergehend lichtete.

Sotillo, auf der Brücke, murmelte dem Kapitän von Zeit zu Zeit ein ärgerliches Wort zu. Der andere ersuchte in kläglichem, entschuldigendem Ton su merced den Obersten, die Grenzen zu bedenken, die die Finsternis der Nacht den menschlichen Fähigkeiten auferlegte. Sotillo platzte fast vor Wut und Ungeduld. Das Glück seines Lebens stand auf dem Spiel.

»Wenn dir deine Augen zu nichts weiter nutze sind, dann will ich sie dir ausstechen lassen«, fuhr er auf.

Der Kapitän des Dampfers gab keine Antwort, denn eben tauchte nach dem Vorüberziehen einer Regenbö die Masse der Großen Isabelle dunkel auf und verschwand wieder, wie weggewischt von einer Woge tiefer Finsternis, die einem neuen Regenschauer voranging.

Das genügte ihm. Mit der Stimme eines Mannes, der dem Leben wiedergegeben ist, teilte er Sotillo mit, sie würden in einer Stunde am Kai von Sulaco liegen. Dann wurde der Dampfer mit voller Kraft auf den Kurs gebracht, und unter den Soldaten auf Deck begannen mit großem Eifer die Vorbereitungen zur Landung.

Decoud und Nostromo konnten es deutlich hören. Der Capataz erfaßte auch die Bedeutung. Sie hatten die Isabellen gesichtet und hielten nun gerade auf Sulaco zu. Seiner Meinung nach mußten sie in nächster Nähe passieren; doch dachte er, der Leichter würde nicht zu sehen sein, wenn er so mit niedergefiertem Segel stillag. »Nein! Nicht einmal, wenn sie uns streifen«, murmelte er.

Der Regen begann wieder zu fallen; erst wie ein nasser Nebel, dann etwas dichter, schließlich in scharfen, geraden Strähnen; und das Zischen und Pochen des anfahrenden Dampfers kam bedenklich nahe. Decoud, die Augen voll Wasser, den Kopf gesenkt, fragte sich eben, wie lange es brauchen würde, bis der Dampfer vorbei wäre, als er unerwartet einen Stoß fühlte. Eine Schaumwelle schlug klatschend über das Heck, unter gleichzeitigem Krachen von Holz und einer dumpfen Erschütterung. Decoud hatte den Eindruck, eine ärgerliche Hand hätte den Leichter gepackt und schleppte ihn nun der Vernichtung zu. Der Stoß hatte ihn natürlich niedergeworfen, und er fand sich inmitten einer Wasserpfütze auf dem Bootsboden wieder. Ein heftiges Wetzen längsseit hielt an; über ihm rief eine fremde, erstaunte Stimme irgendwas durch die Nacht. Er hörte einen durchdringenden Hilfeschrei von Señor Hirsch. Er hielt die ganze Zeit über die Zähne fest aufeinandergebissen. Es war ein Zusammenstoß!

Der Dampfer hatte den Leichter schräg von der Seite angerannt, daß dieser halb mit Wasser vollgeschlagen war, hatte ihm ein paar Spanten eingedrückt und ihn schließlich parallel zum eigenen Kurse gedreht. An Bord des Dampfers war der Stoß kaum wahrnehmbar. Seine ganze Heftigkeit wurde, wie gewöhnlich, nur an Bord des kleineren Fahrzeugs empfunden. Sogar Nostromo dachte, daß dies wohl das Ende seines verzweifelten Abenteuers sein müßte. Ihn selbst hatte ein Schlag der langen Steuerpinne niedergeworfen, die durch die Erschütterung in Bewegung geraten war. Nachdem der Dampfer den Leichter so aus dem Weg geschoben hatte, wäre er wohl weitergefahren und hätte es dem Leichter überlassen, zu schwimmen oder unterzugehen, ohne auch nur seine Umrisse gesichtet zu haben. Nur hatte der Dampfer, schwer mit Waren beladen und mit soviel Leuten an Bord, solchen Tiefgang, daß der Anker tief genug hing, um sich in eine der Wanten des Leichters einhaken zu können. Ein oder zwei keuchende Atemzüge lang hielt das neue Drahtseil die plötzliche Beanspruchung aus. Dies war es, was Decoud den Eindruck gab, der Leichter würde gepackt und der Vernichtung zugeschleppt. Die Ursache natürlich konnte er nicht begreifen; alles kam so plötzlich, daß ihm keine Zeit zum Nachdenken blieb. Aber alle seine Eindrücke waren völlig klar; er war ganz bei Sinnen; tatsächlich kam ihm die eigene Ruhe sogar noch in dem Augenblick angenehm zum Bewußtsein, als er Hals über Kopf über den Heckbalken flog und rücklings in einer Wasserlache landete. Den Hilfeschrei des Señors Hirsch hatte er gehört und erkannt, während er sich aufrappelte; dabei hielt das unheimliche Schleppen durch die Finsternis immer noch an. Kein Wort, kein Schrei entfuhr ihm, er hatte keine Zeit, etwas zu sehen; und während er noch dem verzweifelten Hilfeschrei lauschte, hörte die Schleppbewegung so plötzlich auf, daß er taumelte und mit ausgebreiteten Armen gegen die aufgestapelten Silberkisten fiel. Er klammerte sich unwillkürlich daran, in der unbestimmten Furcht, nochmals herumgeschleudert zu werden. Und unmittelbar darauf hörte er nochmals eine Reihe von Hilfeschreien, langgezogen, verzweifelt, gar nicht nahe, sondern unerklärlich weit weg vom Leichter, als äffte ein Nachtgespenst das Entsetzen und die Verzweiflung des Señors Hirsch nach.

Dann war alles still – so still, wie wenn man in seinem Bett in einem dunklen Zimmer aus einem wilden Traum aufwacht. Der Leichter schaukelte leise; der Regen fiel immer noch. Von rückwärts faßten zwei tastende Hände nach Decouds schmerzendem Rücken, und die Stimme des Capataz flüsterte ihm ins Ohr: »Still! Bei Ihrem Leben! Still! Der Dampfer hat gestoppt.«

Decoud horchte. Der Golf war ruhig. Er fühlte das Wasser fast bis zu den Knien. »Sinken wir?« fragte er kaum hörbar.

»Ich weiß es nicht«, hauchte ihm Nostromo zu. »Señor, machen Sie nicht das kleinste Geräusch.«

Hirsch war, als ihn Nostromo nach vorne geschickt hatte, nicht in sein erstes Versteck zurückgekehrt. Er war nahe beim Mast niedergefallen und hatte die Kraft zum Aufstehen nicht gefunden; überdies fürchtete er sich auch, sich zu rühren. Er hatte sich totgestellt, doch nicht aus klarer Überlegung. Es war nur ein grausames, entsetzliches Gefühl. Sooft er nachzudenken versuchte, was aus ihm werden würde, begannen seine Zähne heftig zu klappern. Er war viel zu sehr in den Abgründen seiner Angst befangen, um irgend etwas zu beachten.

Obwohl er fast erstickte unter dem Segel des Leichters, das Nostromo unwissentlich auf ihn niedergelassen, hatte er doch nicht gewagt, auch nur den Kopf herauszustrecken, bis zu dem Augenblick, da der Dampfer sie anrannte. Dann allerdings war er mit einem Satz aufgesprungen, zu neuen, wunderbaren Körperleistungen gespornt durch die neue Gefahr. Als der Leichter krängte und das Wasser hereinschlug, fand er die Sprache wieder. Sein Schrei »Rettet mich!« war für die Leute an Bord des Dampfers das erste Anzeichen des Zusammenstoßes. Im nächsten Augenblick riß das Drahtseil, und der befreite Anker schwang über das Vorschiff des Leichters. Er kam hart an Señor Hirschs Brust vorbei, und dieser packte einfach zu, ohne im geringsten zu ahnen, was es sein konnte, klammerte sich aber mit Armen und Beinen an den Teil oberhalb der Flügel, mit unbesiegbarer, unvernünftiger Hartnäckigkeit. Der Leichter trieb weit ab, und der Dampfer nahm im Weiterfahren den Señor Hirsch mit, der sich anklammerte und um Hilfe brüllte. Es verging einige Zeit, bis seine Lage entdeckt wurde, nachdem der Dampfer gestoppt hatte. Sein anhaltendes Hilfegeschrei schien von jemand zu kommen, der im Wasser schwamm. Schließlich gingen ein paar Mann über den Bug hinaus und holten ihn an Bord. Er wurde geradewegs vor Sotillo auf die Brücke geführt. Sein Verhör bestätigte die Vermutung, daß man ein Fahrzeug überrannt und in Grund gebohrt hatte. Doch war es in einer so finsteren Nacht untunlich, nach dem tatsächlichen Beweis, treibenden Wracktrümmern etwa, Ausschau zu halten. Sotillo hatte es nun eiliger als je, ohne Zeitverlust den Hafen zu erreichen. Der Gedanke, daß er das Hauptziel seiner Unternehmung zerstört habe, war zu unerträglich, um Geltung zu finden. Dies Gefühl ließ ihm die Geschichte, die er gehört hatte, um so unglaubwürdiger erscheinen. Señor Hirsch wurde ein wenig geprügelt, weil er Lügen erzählt hatte, und in den Navigationsraum gestoßen. Aber er wurde nur ein wenig geprügelt. Seine Erzählung hatte Sotillos Stab den Mut genommen, obwohl alle rings um den Anführer wiederholten: »Unmöglich, unmöglich!« mit Ausnahme des alten Majors, der düster frohlockte.

»Ich habe es euch gesagt, ich habe es euch gesagt«, knurrte er. »Ich konnte einen Verrat, eine Diableria, eine Meile weit riechen!«

Unterdessen hatte der Dampfer weiter auf Sulaco zugehalten, wo ja der wahre Sachverhalt allein festgestellt werden konnte. Decoud und Nostromo hörten die lauten Schläge des Propellers schwächer werden und ersterben; dann schickten sie sich ohne unnütze Worte an, auf die Isabellen zuzuhalten. Der letzte Regenschauer hatte eine schwache, aber stetige Brise gebracht. Die Gefahr war noch nicht vorüber, und es war keine Zeit zum Reden. Der Leichter leckte wie ein Sieb. Sie wateten bei jedem Schritt im Wasser. Der Capataz drückte Decoud den Griff der Pumpe in die Hand, die im Achterteil angebracht war, und Decoud begann sofort, ohne eine Frage oder ein Wort, zu pumpen, nur von dem Wunsch besessen, den Schatz flottzuerhalten. Nostromo hißte das Segel, sprang zur Pinne zurück, riß wie toll an der Schot. Das kurze Aufflammen eines Streichhölzchens (die waren in einer wasserdichten Büchse trocken geblieben, obwohl der Mann ganz durchweicht war) zeigte dem emsigen Decoud des andern erregtes Gesicht, das mit gespanntem Blick über den Kompaß gebeugt war. Er wußte nun, wo er war, und hoffte, den sinkenden Leichter in einer seichten Bucht auf Strand setzen zu können, wo eine tiefe, überwachsene Schlucht den hohen, klippenartigen Rand der Großen Isabelle in zwei gleiche Teile teilt.

Decoud pumpte ohne Aufhören. Nostromo steuerte, ohne den hartgespannten Blick vom Kompaß zu lassen. Jeder von ihnen schien völlig allein bei seiner Aufgabe. Es fiel ihnen nicht ein, zu sprechen. Sie hatten nichts gemeinsam als die Gewißheit, daß der beschädigte Leichter langsam und unausbleiblich sinken mußte. Diese Gewißheit schien sie, wie eine Feuerprobe auf ihr Wünschen, einander völlig entfremdet zu haben, als hätten sie in der Erschütterung des Zusammenstoßes entdeckt, daß der Verlust des Leichters für sie beide nicht das gleiche bedeuten würde. Die gemeinsame Gefahr brachte die Verschiedenheit ihrer beider Ziele, Anschauungen, Wesen und Stellung jedem einzelnen klar zum Bewußtsein. Es gab kein Band der Überzeugung, einer gemeinsamen Idee; sie waren nur zwei Abenteurer, die jeder seinem eigenen Abenteuer nachgingen, beide der gleichen Todesgefahr preisgegeben. Darum hatten sie einander nichts zu sagen. Diese Gefahr aber, diese einzige und unwiderlegbare Wahrheit, die sie teilten, schien ihre geistigen und körperlichen Kräfte zu befeuern.

Gewiß grenzte es ans Wunderbare, wie der Capataz auf die Bucht zuhielt, ohne andere Richtpunkte als die schattenhaften Umrisse der Insel und ein gelegentliches Aufschimmern sandigen Strandes. Wo sich die Schlucht zwischen den Klippen auftut und ein kleines Bächlein sich aus den Büschen windet, um sich in die See zu verlieren, wurde der Leichter auf Strand gesetzt; und die beiden Männer begannen schweigsam, mit ungehemmter Tatkraft, die kostbare Ladung zu löschen; sie trugen jeden der Koffer aus Ochsenhaut zu dem Ufer des Baches oberhalb der ersten Büsche, bis zu einer Höhle hinauf, die unter den Wurzeln eines großen Baumes ausgewaschen worden war. Der mächtige, glatte Stamm lehnte wie eine stürzende Säule hoch über dem Wasserlauf, der über die Steine plätscherte. Einige Jahre zuvor hatte Nostromo, ganz allein, einen ganzen Sonntag damit zugebracht, die Insel zu erforschen. Das setzte er Decoud auseinander, nachdem ihre Arbeit getan war und sie, müde an allen Gliedern, die Beine über den Uferrand hängen ließen, den Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, wie zwei Blinde, die voneinander wie von ihrer Umgebung nur durch einen unerklärlichen sechsten Sinn wissen.

»Jawohl, jawohl«, wiederholte Nostromo, »ich vergesse nie einen Ort, den ich mir einmal genau angesehen habe.« Er sprach langsam, fast träge, als läge ein ganzes müßiges Leben vor ihm, anstatt der zwei knappen Stunden bis zum Tagesanbruch. Das Dasein dieses Schatzes, kaum verborgen an diesem unwahrscheinlichen Ort, belastete jeden überlegten Schritt, jede künftige Maßnahme mit schwerem Geheimnis. Nostromo empfand die enge Beziehung zwischen dem teilweisen Mißerfolg dieser verzweifelten Sache und dem großen Ruf, den er sich zu schaffen gewußt hatte. Immerhin war es ja auch ein teilweiser Erfolg. Seine Eitelkeit war halb befriedigt. Seine Erregung hatte sich gelegt.

»Man weiß nie, wozu etwas nutz sein kann«, fuhr er mit der gewohnten Ruhe in Stimme und Haltung fort. »Ich habe einen ganzen jämmerlichen Sonntag damit zugebracht, diese Handbreit Land zu erforschen.«

»Ein menschenfeindlicher Zeitvertreib«, murmelte Decoud boshaft. »Sie hatten wohl kein Geld, nehme ich an, um es zu verspielen oder in Ihren Stammlokalen an die Mädel zu verschleudern.«

»E' vero!« rief der Capataz in seiner Muttersprache, so sehr hatte ihn der Scharfblick des andern überrascht. »Ich hatte keins! Darum wollte ich nicht unter das Bettelvolk gehen, das an meine Freigebigkeit gewöhnt ist. Man erwartet sie von den Capataz de Cargadores, die reiche Leute sind, die Caballeros sozusagen, unter dem gemeinen Volk. Ich mag Karten nur zum Zeitvertreib, und was gar die Mädels angeht, die sich rühmen, mir auf mein Pochen die Türe aufgetan zu haben, so müssen Sie wissen, daß ich keine von ihnen auch nur ein zweites Mal ansehen wollte, wäre es nicht wegen des Geredes der Leute. Die sind eigen, die guten Leute von Sulaco, und ich habe viel Nützliches erfahren, einfach, indem ich geduldig das Geschwätz der Frauen anhörte, in die ich, wie alle Welt glaubte, verliebt war. Die arme Teresa konnte das nie verstehen. An jenem besonderen Sonntag, Señor, schalt sie so, daß ich aus dem Hause ging und schwur, ich wollte nie wieder ihre Türe verdunkeln, außer um meine Hängematte und meine Kleiderkiste fortzuholen. Señor, es gibt nichts Aufreizenderes, als wenn eine Frau, die Sie achten, Ihren guten Ruf angreift, noch dazu, wenn Sie gerade nicht einmal eine Kupfermünze in der Tasche haben. Ich machte eines der kleinen Boote los und ruderte aus dem Hafen hinaus. Ich hatte nichts weiter als drei Zigarren bei mir, um mir über den Tag auf dieser Insel forthelfen zu können. Aber das Wasser des Baches, den Sie da unten hören können, schmeckt kalt, süß und gut, Señor, sowohl vor wie nach dem Rauchen.« Er schwieg eine Weile und fügte dann nachdenklich hinzu: »Das war der erste Sonntag, nachdem ich den englischen Rico mit dem weißen Backenbart vom Gebirge heruntergebracht hatte, ganz oben vom Paramo beim Entrada-Paß – und im Wagen noch dazu! Seit Menschengedenken war keine Kutsche diese Bergstraße hinauf- oder hinuntergegangen, Señor, bis ich diese hinunterbrachte, mit fünfzig Peons, die unter meiner Anleitung wie ein Mann mit Seilen, Pickeln und Hebestangen arbeiteten. Das war der reiche Engländer, der, wie die Leute sagen, uns diese Eisenbahn bezahlt. Er war sehr zufrieden mit mir. Aber mein Gehalt war erst Ende des Monats fällig.«

Er ließ sich plötzlich das Ufer hinuntergleiten. Decoud hörte seine plätschernden Schritte im Wasser flußabwärts. Seine Gestalt verlor sich zwischen den Büschen, bis er den Sandstreifen unterhalb der Klippe erreichte. Wie es im Golf oft geschieht, wenn die Regenschauer während des ersten Teiles der Nacht häufig und schwer gewesen sind, hatte sich die Dunkelheit gegen Morgen zu ziemlich gelichtet, obwohl noch nichts von der Dämmerung zu merken war.

Der Leichter, seiner kostbaren Ladung ledig, schaukelte leise, halb flott, den Vordersteven im Sande. Ein langes Tau lief wie ein schwarzer Zwirnsfaden über den hellen Streifen des Strandes bis zu dem Dregganker, den Nostromo an Land getragen und um den Stamm eines baumartigen Busches am Eingang der Schlucht gehakt hatte.

Für Decoud gab es nichts anderes, als auf der Insel zu bleiben. Er empfing aus Nostromos Händen den ganzen Proviant, der sich dank Kapitän Mitchells Umsicht an Bord fand, und brachte ihn vorerst in dem kleinen Beiboot unter, das sie bei der Ankunft auf den Strand heraufgezogen und im Buschwerk verborgen hatten. Auch das Beiboot sollte ihm gelassen werden. Die Insel sollte ein Versteck sein, kein Gefängnis. Er konnte zu einem vorbeifahrenden Schiff hinausrudern. Die Postdampfer der O. S. N. Gesellschaft gingen hart an den Inseln vorbei, wenn sie vom Norden her nach Sulaco kamen. Doch die Minerva, die den Expräsidenten mitgenommen, hatte wohl auch die Nachricht von den Unruhen in Sulaco nach Norden getragen. Es war möglich, daß der nächste südwärts gehende Dampfer Befehl bekommen würde, den Hafen gar nicht anzulaufen, da die Stadt, soviel die Offiziere der Minerva wußten, zeitweilig in den Händen des Pöbels war. Das hätte bedeutet, daß nun monatelang kein Dampfer vom Norden zu erwarten sein würde, soweit wenigstens die Paketlinie in Betracht kam. Doch damit hatte sich Decoud abzufinden. Die Insel bot ihm den einzigen Unterschlupf vor der Ächtung, die über seinem Kopfe hing. Der Capataz natürlich ging zurück. Der unbeladene Leichter leckte weit weniger, und er hoffte, ihn bis zum Hafen flott erhalten zu können.

Während er längsseit bis zum Knie im Wasser stand, reichte er Decoud einen der beiden Spaten hinüber, die zur Ausrüstung eines jeden Leichters gehörten, für das Beladen der Schiffe mit Ballast. Wenn er damit, sobald es erst halbwegs hell geworden war, vorsichtig arbeitete, dann konnte Decoud oberhalb der Höhle, in der sie den Schatz geborgen hatten, eine Masse von Erdreich und Steinen locker machen, so daß es wie ein Erdrutsch aussehen würde. Das würde dann nicht nur die Höhle verdecken, sondern auch alle Spuren ihrer Arbeit, die Fußtapfen, die vom Fleck gerückten Steine und sogar das zerstampfte Buschwerk.

»Abgesehen davon – wer würde es sich einfallen lassen, Sie oder den Schatz hier zu suchen?« fuhr Nostromo fort, als könnte er sich nicht losreißen. »Ich wüßte nicht, wer hierherkommen sollte. Was sollte ein Mann auf dieser Krume Land wollen, solange er noch auf dem Festland Platz für seine Füße hat! Die Leute hier sind nicht neugierig. Es gibt nicht einmal Fischer in der Nähe, die Euer Gnaden belästigen könnten. Die ganze Fischerei, soweit davon im Golf die Rede ist, wird dort drüben bei Zapiga ausgeübt. Señor, wenn Sie sich gezwungen sehen, diese Insel zu verlassen, bevor etwas für Sie getan werden kann, dann versuchen Sie nicht, auf Zapiga zuzuhalten. Das ist eine Niederlassung von Dieben und Matreros, wo man Ihnen augenblicklich die Gurgel abschneiden würde, wegen Ihrer goldenen Uhr mit der Kette. Und, Señor, überlegen Sie es sich zweimal, bevor Sie sich jemand anvertrauen, wer es auch sei; trauen Sie nicht einmal den Schiffsoffizieren auf den O. S. N. Dampfern, wenn Sie je an Bord eines solchen kommen. Ehrlichkeit allein ist noch keine Gewähr für Sicherheit. Verschwiegenheit und Vorsicht sind es, auf die Sie bei den Leuten achten müssen. Und bevor Sie die Lippen zu einem Geständnis auftun, bedenken Sie immer, Señor, daß dieser Schatz hier ruhig hundert Jahre liegenbleiben kann. Die Zeit ist auf seiner Seite, Señor, und Silber ist ein unverderbliches Metall, von dem man gewiß sein kann, daß es ewig seinen Wert behält. Ein unverderbliches Metall«, wiederholte er, als machte ihm der Einfall besonderen Spaß.

»Wie man es auch von gewissen Männern behauptet«, orakelte Decoud, während der Capataz, der dabei war, den Leichter mit einer Holzkelle auszuschöpfen, fortfuhr, mit gleichmäßigen Bewegungen das Wasser über die Bordwand zu schleudern. Decoud, unverbesserlich in seiner Zweifelsucht, überlegte, nicht gerade zynisch, doch mit unverkennbarer Befriedigung, daß diesen Mann seine ungeheure Eitelkeit unbestechlich machte, diese verfeinerte Form des Egoismus, die den Anschein jeder Tugend zu erwecken vermag.

Nostromo hörte mit dem Schöpfen auf und warf, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, die Kelle klappernd in den Leichter.

»Haben Sie irgendeine Botschaft zu bestellen?« fragte er leise. »Bedenken Sie, man wird mir Fragen stellen!«

»Du mußt die hoffnungsvollen Worte finden, die den Leuten in der Stadt gesagt werden müssen. Ich verlasse mich darin auf deine Klugheit und deine Erfahrung, Capataz. Verstanden?«

»Si, Señor . . . für die Damen.«

»Ja, ja«, sagte Decoud hastig. »Dein wunderbarer Ruf wird sie bestimmen, deinen Worten großen Wert beizulegen; darum sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Ich sehe«, fuhr er fort und empfand dabei das leise Gefühl von Selbstverachtung, das seinem zwiespältigen Wesen so vertraut war, »ich sehe einem glücklichen und glorreichen Gelingen meiner Aufgabe entgegen. Hörst du, Capataz? Gebrauche die Worte glücklich und glorreich, wenn du mit der Señorita sprichst. Unsere eigene Aufgabe ist glücklich und glorreich vollendet. Du hast ganz zweifellos das Silber der Mine gerettet. Nicht nur dies hier, sondern wahrscheinlich all das Silber, das je aus der Mine kommen wird.«

Nostromo entdeckte den spöttischen Unterton. »Das kann ich wohl sagen, Señor Don Martin«, meinte er verdrießlich. »Es gibt ganz wenige Dinge, denen ich nicht gewachsen wäre. Fragen Sie die fremden Signori. Ich, ein Mann aus dem Volke, der nicht immer verstehen kann, was Sie meinen. Was aber den Haufen angeht, den ich hierlassen muß, so will ich Ihnen sagen, daß ich ihn für besser aufgehoben hielte, wenn ich Sie überhaupt nicht mit mir gehabt hätte.«

Decoud entfuhr ein Ausruf, und dann trat ein kurzes Schweigen ein. »Soll ich mit dir nach Sulaco zurückgehen?« fragte er ärgerlich.

»Soll ich Sie da auf dem Fleck mit meinem Messer erstechen?« gab Nostromo verächtlich zurück. »Es käme auf das gleiche heraus, wie wenn ich Sie nach Sulaco nehmen wollte. Was denn, Señor –. Ihr Ruf kommt von der Politik, und der meine ist an das Schicksal dieses Silbers gebunden. Kann es Sie wundern, daß ich wollte, kein anderer Mann teilte mein Wissen? Ich habe niemand mit mir haben wollen, Señor.«

»Ohne mich hättest du den Leichter nicht flotthalten können«, brüllte Decoud beinahe. »Du wärst samt ihm untergegangen.«

»Ja«, meinte Nostromo langsam. »Allein.«

Da war also ein Mann, überlegte Decoud, der es scheinbar vorgezogen hätte, zu sterben, als die vollendete Form seiner Eigenliebe beeinträchtigt zu sehen. Ein solcher Mann war sicher. Schweigend half er dem Capataz den Dregganker an Bord schaffen. Nostromo kam mit einem Stoß des schweren Ruders von dem seichten Ufer klar, und Decoud sah sich einsam am Strande, wie in einem Traum. Eine jähe Sehnsucht ergriff ihn, noch ein letztes Mal eine menschliche Stimme zu hören. Der Leichter hob sich kaum ab von dem schwarzen Wasser, auf dem er hintrieb.

»Was ist denn deiner Meinung nach aus Hirsch geworden?« brüllte er.

»Über Bord gegangen und ertrunken«, klang Nostromos Stimme zuversichtlich aus der wüsten Finsternis von Himmel und See rings um die Insel. »Halten Sie sich zutiefst in der Schlucht, Señor. Ich werde versuchen, in der nächsten oder übernächsten Nacht zu Ihnen herauszukommen.«

Ein leichtes Rauschen verkündete, daß Nostromo dabei war, das Segel zu setzen. Es füllte sich mit einmal, mit einem Geräusch wie von einem einzelnen Paukenschlag. Decoud ging in die Schlucht zurück. Nostromo an der Ruderpinne sah von Zeit zu Zeit nach der schattenhaften Großen Isabelle zurück, die allmählich mit der tiefen Nacht verschmolz. Als er schließlich noch einmal zurückblickte, sah er nichts mehr als gleichmäßige Dunkelheit, wie eine feste Mauer.

Da empfand auch er das Gefühl von Einsamkeit, das auf Decoud so schwer gelastet hatte, nachdem der Leichter vom Ufer weggeglitten war. Während aber der Mann auf der Insel unter dem eigenartigen Gefühl von Unwirklichkeit litt, das noch den Boden unter seinen Füßen einschloß, wandten sich die Gedanken des Capataz eifrig der Überlegung der nächsten Maßnahmen zu. Nostromos Fähigkeiten, die nebeneinander wirkten, ermöglichten es ihm, genauen Kurs zu halten, nach Hermosa auszuschauen, an der er vorbeifahren mußte, und zugleich darüber nachzudenken, was wohl morgen in Sulaco geschehen würde. Morgen, oder eigentlich heute, denn die Dämmerung war nicht mehr ferne, mußte Sotillo herausbringen, auf welche Weise der Schatz weggeschafft worden war. Ein paar Cargadores waren damit betraut gewesen, das Silber aus den Gewölben des Zollamts in eine Lore zu laden und diese über die Schienen am Kai entlang zu rollen. Es würde Verhaftungen geben, und Sotillo würde bestimmt noch vor Mittag wissen, wie das Silber Sulaco verlassen und wer es fortgeführt hatte.

Nostromo hatte die Absicht gehabt, geradewegs in den Hafen zu segeln; bei dem letzten Gedanken warf er jäh die Ruderpinne herum, stellte den Leichter gegen den Wind und hemmte seine rasche Fahrt. Sein Wiedererscheinen mit dem gleichen Boot würde Verdacht erregen, Vermutungen wecken, Sotillo sofort auf die rechte Spur bringen. Er selbst würde verhaftet werden; und war er erst einmal im Calabozo, dann war nicht zu sagen, was sie mit ihm tun würden, um ihn zum Sprechen zu bringen. Er traute sich viel zu, aber er stand doch auf, um in die Runde zu sehen. Nahebei zeigte Hermosa seine weiße Fläche, eben wie ein Tisch, unter der Brise lärmend von der See überspült. Der Leichter mußte sofort versenkt werden.

Er ließ ihn mit backliegendem Segel treiben. Er war schon ziemlich vollgelaufen. Er ließ ihn gegen die Hafeneinfahrt zu treiben, ließ die Ruderpinne los, kauerte sich nieder und machte sich daran, den Pfropfen herauszuziehen. War der erst heraus, dann würde der Leichter rasch vollaufen und, da er, wie üblich, ein wenig Eisenballast hatte, rasch sinken, wenn er erst voll Wasser war. Als er sich wieder erhob, klang die Brandung bei Hermosa weit weg, fast unhörbar; und schon konnte er die Landspitze beim Hafeneingang ausnehmen. Dies war eine verzweifelte Sache, aber er war ein guter Schwimmer. Eine Meile machte ihm nichts aus, und er kannte einen guten Landungsplatz, gerade unterhalb der Erdwerke des alten aufgelassenen Forts. Als besonders verlockend kam ihm in den Sinn, daß dieses Fort der rechte Ort sein würde, an dem er nach so vielen schlaflosen Nächten den Tag über durchschlafen könnte.

Er riß die Ruderpinne los und hieb mit einem Schlag den Pfropfen heraus, nahm sich aber nicht die Mühe, das Segel niederzufieren. Er fühlte, wie das Wasser heftig um seine Beine spülte, bevor er auf die Heckreling sprang. Dort stand er wartend, aufrecht und regungslos, nur in Hemd und Hose. Sobald er den Leichter sinken fühlte, sprang er mit kräftigem Abstoß weit weg.

Er wandte sofort den Kopf. Die düstere, bewölkte Dämmerung, die hinter den Bergen aufstieg, zeigte ihm auf der glatten Wasserfläche die obere Ecke des Segels, ein dunkles, nasses Dreieck von Leinwand, das leicht hin und her schwankte. Er sah es verschwinden, als wäre es hinuntergerissen worden, und schwamm dann in langen Stößen auf die Küste zu.



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