Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VI

Die niedergehende Sonne hatte die Schatten zwischen den Häusern der Stadt von Westen nach Osten verschoben. Sie hatte sie über die ganze Ausdehnung des ungeheuren Campos gebreitet, in dem die weißen Mauern der Haziendas auf den Hügelkuppen die grüne Weite beherrschten; über die mit Gras gedeckten Ranchos, die sich in Bodenfalten an den Ufern von Strömen duckten, über die dunklen Eilande der Baumgruppen in dem lichten Grasmeer und über die schwindelnde Kette der Kordillere, die sich ungeheuer und reglos aus dem Gewoge der Niederwaldungen erhob, wie die Steilküste eines Landes der Riesen. Die Sonnenstrahlen trafen schräg auf die Schneehänge des Higuerota und gaben ihm den Anschein rosiger Jugend, während die gedrängte Masse ferner Gipfel schwarz blieb, wie verbrannt von der roten Glut. Das Wipfelmeer des Waldes schien mit bleichem Gold überstaubt; und weit weg, jenseits Rincon, nach der Stadt zu, von zwei waldigen Ausläufern verborgen, nahmen die Felsen der San Tomé-Schlucht und die flache Kuppe des Berges mit den krönenden Riesenfarnen warme braune und gelbe Töne an, mit rostroten Streifen dazwischen und dem Dunkelgrün der Büsche in den Klüften, die den Berg spalteten. Von der Ebene aus erschienen die Schuppen des Stampfwerkes und die Gebäude der Mine dunkel und klein, hoch oben, wie Vogelnester auf einer Klippe. Die Zickzackwege ähnelten spärlicher Malerei an der Wand eines zyklopischen Blockhauses; den beiden Serenos der Mine, die im Schatten der Bäume nächst der Brücke, den Karabiner im Arm, Wache hielten, erschien Don Pépé, der den Weg vom oberen Plateau herabstieg, kaum größer als ein großer Käfer.

In der gleichen ziellosen, insektenhaften Art des Hin und Her an der Oberfläche des Felsens stieg Don Pépés Gestalt stetig nieder und versank schließlich, nahe dem Boden der Schlucht, hinter den Dächern der Warenhäuser, Schmieden und Werkstätten. Eine Zeitlang bummelten die beiden Serenos vor der Brücke auf und ab, auf der sie einen Reiter mit einem großen weißen Briefumschlag in der Hand angehalten hatten. Dann tauchte Don Pépé in der Dorfstraße zwischen den Häusern auf, keinen Steinwurf weit von der Brücke weg, und kam näher, die weiten, dunklen Hosen in die Stiefel gesteckt, in weißer Leinenjacke, den Säbel an der Seite und seinen Revolver am Gürtel. In diesen unruhigen Zeiten konnte nichts den Señor Gobernador »ohne Stiefel« überraschen, wie man sagt.

Auf ein leichtes Nicken eines der Serenos stieg der Mann, ein Bote aus der Stadt, ab und überquerte die Brücke, sein Pferd am Zügel.

Don Pépé nahm ihm den Brief aus der Hand und schlug sich nacheinander an die linke Seite und an die Hüfte, nach seinem Brillenfutteral tastend. Nachdem er das schwere, silbergefaßte Ding auf die Nase geklemmt und sorgfältig hinter seinen Ohren befestigt hatte, öffnete er den Umschlag und hielt ihn etwa ein Drittelmeter weit vors Gesicht. Das Papier, das er entfaltete, enthielt drei geschriebene Zeilen. Er sah lange darauf hinunter. Sein grauer Schnurrbart schwankte leise auf und nieder, und die Runzeln um seine Augenwinkel liefen dicht zusammen. Er nickte heiter. »Bueno«, sagte er. »Es ist keine Antwort nötig.«

Dann knüpfte er in seiner ruhigen, gütigen Art ein vorsichtiges Gespräch mit dem Mann an, der sich zum Reden gerne bereit zeigte, als wäre ihm kürzlich ein besonderes Glück widerfahren. Er hatte aus der Entfernung Sotillos Infanterie längs des Hafenkais zu beiden Seiten des Zollamts lagern sehen. Sie hatten den Gebäuden keinen Schaden getan. Die Ausländer von der Eisenbahn waren immer noch im Güterbahnhof verschanzt. Nun hatten sie es nicht mehr so eilig damit, auf arme Leute zu schießen. Er verfluchte die Ausländer. Dann berichtete er von Monteros Einzug und von den Gerüchten in der Stadt. Die Armen sollten nun reich gemacht werden. Das war gut. Mehr wußte er nicht, steckte ein gewinnendes Lächeln auf und deutete an, er sei hungrig und durstig. Der alte Major wies ihn an, zum Alkalden des ersten Dorfes zu gehen. Der Mann ritt davon, und Don Pépé ging langsam auf einen kleinen Glockenturm zu, blickte über eine Hecke in einen kleinen Garten und sah Vater Romàn in einer weißen Hängematte sitzen, die zwischen zwei Orangenbäumen vor dem Pfarrhaus aufgehängt war.

Ein ungeheurer Tamarindenbaum überschattete mit seinem dunklen Blattwerk das ganze weiße Fachwerkhaus. Ein junges Indianermädchen, mit langem Haar, großen Augen, kleinen Händen und Füßen, trug einen hölzernen Stuhl heraus, während eine magere alte Frau, mürrisch und wachsam, sie die ganze Zeit über von der Veranda her beobachtete. Don Pépé setzte sich in den Stuhl und zündete sich eine Zigarre an; der Priester schnupfte aus hohler Hand eine ungeheure Menge Tabak. Aus seinem rotbraunen Gesicht, das abgelebt und ausgehöhlt, wie zerbröckelt aussah, blitzten die Augen, frisch und rein, wie zwei schwarze Diamanten.

Don Pépé unterrichtete Vater Romàn, milde belustigt, Pedrito Montero habe ihn durch Señor Fuentes' Hand fragen lassen, unter welchen Bedingungen er die Mine in betriebsfähigem Zustand einer gesetzmäßig erwählten Abordnung patriotischer Bürger mit kleiner Truppenbedeckung übergeben würde. Der Priester schlug die Augen zum Himmel auf. Immerhin, fuhr Don Pépé fort, habe der Mozo, der den Brief gebracht, gesagt, Don Carlos sei am Leben und soweit unbehelligt.

Vater Romàn drückte in wenigen Worten seine Dankbarkeit aus, als er von des Señor Administradors Sicherheit hörte.

Ein silberner Glockenton aus dem kleinen Turm hatte die Stunde des Abendgebets verkündet. Der Waldgürtel, der den Eingang zur Schlucht abschloß, stand wie ein Schirm zwischen der niederen Sonne und der Dorfstraße. Am anderen Ende der Felsschlucht, zwischen den Wällen aus Basalt und Granit, ragte ein bewaldeter Kamm steil ins Licht, der den Bewohnern von San Tomé die Gebirgskette verbarg. Drei kleine lose Wölkchen hingen darüber regungslos in der blauen Unendlichkeit. Gruppen von Leuten saßen auf den Straßen zwischen den umzäunten Hütten. Vor der Casa des Alkalden waren die Vorarbeiter der Nachtschicht schon versammelt, um ihre Leute anzuführen; sie bildeten auf dem Boden einen Kreis von Lederkappen und reichten untereinander die Kürbisflasche mit Maté herum. Der Mozo aus der Stadt hatte sein Pferd an einen Holzpfosten vor der Türe gebunden und erzählte ihnen die Neuigkeiten aus Sulaco, während die schwarze Kürbisflasche mit dem Gebräu von Hand zu Hand ging. Der würdige Alkalde selbst stand dabei, in weißem Lendenschurz und einem geblümten Kattungewand mit Ärmeln, das sich über seiner nackten Beleibtheit etwa in der Art eines bunten Bademantels öffnete; auf dem Hinterkopf trug er einen rauhen Biberhut und hielt einen hohen Stab mit Silberknopf in der Hand. Diese Abzeichen seiner Würde waren ihm von der Verwaltung der Mine verliehen worden, der Quelle der Ehre, der Wohlfahrt und des Friedens. Er war als einer der ersten in das Tal gekommen. Seine Söhne und Schwiegersöhne arbeiteten im Berge, der zugleich mit seinen Schätzen durch die donnernde Schüttrinne von der oberen Mesa herunter Wohlstand, Sicherheit und Gerechtigkeit über die Bergleute zu ergießen schien. Der Alkalde hörte die Stadtneuigkeiten gleichgültig an, als beträfen sie eine andere Welt als die seine. Und so mußte es ihm in der Tat scheinen. In ganz wenig Jahren hatte sich in diesen geplagten, halbwilden Indianern das Gefühl entwickelt, einer mächtigen Körperschaft anzugehören. Sie waren stolz auf die Mine und ihr ergeben. Sie hatte ihr Vertrauen und ihren Glauben gerechtfertigt. Sie schrieben ihr schirmende und unbezwingbare Macht zu, wie einem Fetisch, den sie mit eigenen Händen geformt hatten, denn sie waren unwissend und unterschieden sich in anderer Hinsicht nicht sonderlich von der übrigen Menschheit, die immer in die eigene Schöpfung das größte Vertrauen setzt. Dem Alkalden kam gar nicht der Gedanke, daß Schutz und Schirm der Mine versagen könnten. Die Politik war gut genug für die Leute aus der Stadt und dem Campo. Sein gelbliches, rundes Gesicht mit den breiten Nüstern und dem unbeweglichen Ausdruck ähnelte einem wüsten Vollmond. Er hörte das aufgeregte Prahlen des Mozos ohne Besorgnis an, ohne Überraschung, überhaupt ohne Gefühlsregung.

Padre Romàn saß nachlässig da und schaukelte sich. Seine Füße berührten kaum den Boden, die Hände hielten den Rand der Hängematte. Weniger zuversichtlich, doch ebenso unwissend wie seine Herde, fragte er den Major, was seiner Meinung nach nun geschehen würde.

Don Pépé saß kerzengerade in seinem Stuhl, faltete friedlich die Hände auf dem Griff seines Säbels, der gerade zwischen seinen Beinen emporstand, und antwortete, er wisse es nicht. Die Mine sei gegen jede Truppenmacht zu verteidigen, die etwa zur Besitznahme ausgeschickt werden könnte. Andererseits könnte die Bevölkerung der Dörfer wegen der Unfruchtbarkeit des Tales durch Hunger zur Übergabe gezwungen werden, sobald die regelmäßige Zufuhr vom Campo aus unterbunden würde. Don Pépé setzte diese Möglichkeiten Vater Romàn gemütsruhig auseinander, der als alter Feldzügler wohl imstande war, den militärischen Darlegungen zu folgen. Sie sprachen mit schlichter Offenheit. Vater Romàn war betrübt bei dem Gedanken, seine Herde könnte zerstreut oder in Sklaverei gestürzt werden. Er gab sich über ihr Schicksal keiner Täuschung hin; nicht aus Scharfblick, sondern aus langjähriger Erfahrung in den politischen Grausamkeiten, die ihm als trauriges, doch unvermeidliches Beiwerk zum Staatsleben erschienen. Die Wirksamkeit der üblichen öffentlichen Einrichtungen stellte sich ihm sehr deutlich als eine Kette von Unglücksfällen dar, die Privatpersonen betrafen und naturgemäß ineinander verschmolzen, durch Haß, Rache, Verblendung und Gier, als flössen sie aus dem Walten der Vorsehung. Vater Romàns unverbildeter Verstand schärfte seinen klaren Blick. Sein Herz aber, das inmitten der Bilder von Metzelei, Raub und Gewalt weich geblieben war, verabscheute diese Unglücksfälle um so mehr, je näher er selbst den Opfern stand. Für die Indianer in seinem Tale empfand er väterliche Herablassung. Er hatte fünf Jahre oder noch länger die Arbeiter der San Tomé-Mine verheiratet, getauft, absolviert und begraben, mit Würde und Salbung; und er glaubte an die Heiligkeit dieser Verrichtungen, durch die die Leute in geistlichem Sinn sein Eigentum geworden waren. Sie waren ihm in seiner Eigenschaft als Priester teuer. Frau Goulds Anteilnahme an den Nöten der Bevölkerung erhöhte deren Bedeutung in des Priesters Augen, weil auch seine eigene dabei gewann. Wenn er mit Frau Gould über die unzähligen Marias und Brigidas der Dörfer sprach, so fühlte er seine eigene Menschlichkeit wachsen. Padre Romàn war in fast tadelnswertem Maße von jedem Fanatismus frei. Die englische Señora war offenbar eine Ketzerin; zugleich aber erschien sie ihm wundervoll und engelgleich. Sooft ihn dieser Gefühlszwist überfiel – wenn er zum Beispiel, das Brevier unter dem Arm, im weiten Schatten des Tamarindenbaums auf und nieder wandelte –, blieb er kurz stehen, um mit starkem Schnauben eine riesige Prise zu nehmen und tiefsinnig den Kopf zu schütteln. Bei dem Gedanken, was nun der ausgezeichneten Señora zustoßen konnte, fühlte er wachsende Bedrückung. Er äußerte sie in erregtem Murmeln. Sogar Don Pépé verlor einen Augenblick lang seine Gemütsruhe. Er lehnte sich steif vor.

»Hören Sie, Padre. Eben die Tatsache, daß diese diebischen Bluthunde in Sulaco den Preis für meine Ehre herauszubringen trachten, eben das beweist, daß Señor Don Carlos und alle in der Casa Gould unversehrt sind. Und meine Ehre ist gleichfalls unversehrt, wie jeder, Mann, Weib und Kind, weiß. Die Negro-Liberalen aber, die sich durch Überrumpelung der Stadt bemächtigt haben, wissen das nicht. Bueno. Mögen sie sitzen und warten. Während sie warten, können sie keinen Schaden tun.«

Und er gewann seine Haltung wieder. Es fiel ihm leicht, denn was immer auch geschah, seine Ehre als alter Offizier des Paez war unversehrt. Er hatte Charles Gould versprochen, er würde bei der Annäherung einer bewaffneten Macht die Schlucht eben lange genug verteidigen, um selbst Zeit zu gewinnen, die ganze Anlage der Mine, Gebäude und Werkstätten, mit Dynamitladungen wissenschaftlich zu zerstören, den Hauptschacht mit Gesteinsmassen zu verrammeln, die Wege ungangbar zu machen, den Staudamm für die Wasserkraft zu sprengen, die berühmte Gould-Konzession in Trümmern aus einer entsetzten Welt hinaus himmelan zu schicken. Die Mine hatte Charles Gould nicht minder als vor ihm seinen Vater in tödliche Umarmung gezogen. Dieser verzweifelte Entschluß aber war Don Pépé durchaus natürlich erschienen. Er hatte mit Bedacht seine Maßnahmen getroffen. Alles war mit gründlicher Umsicht vorbereitet. Und Don Pépé faltete friedlich die Hände auf seinem Säbelgriff und nickte dem Priester zu. In seiner Erregung hatte sich Vater Romàn mit vollen Händen Schnupftabak ins Gesicht gestreut und war, über und über tabakfleckig, starräugig, außer sich, aus der Hängematte geklettert, um mit halblauten Ausrufen umherzugehen.

Don Pépé strich sich über den grauen hängenden Schnurrbart, dessen Enden weit über die scharfgeschnittene Linie seiner Wangen hingen, und sprach in selbstbewußtem Stolz auf seinen Ruf:

»Darum, Padre, weiß ich nicht, was geschehen wird. Aber ich weiß, daß, solange ich hier bin, Don Carlos diesem Schuft Pedrito Montero die Zerstörung der Mine androhen kann, in der vollen Gewißheit, damit ernst genommen zu werden. Denn die Leute kennen mich.«

Er begann etwas nervös die Zigarre zwischen den Lippen herumzuschieben und fuhr fort:

»Aber das ist Gerede – gut für die Politicos. Ich bin ein Soldat. Ich weiß nicht, was geschehen kann. Aber ich weiß, was getan werden müßte – die Mine sollte mit Gewehren, Äxten, Messern an Stöcken auf die Stadt marschieren, por Dios. Das sollte geschehen. Nur . . .«

Seine gefalteten Hände zuckten auf dem Schwertgriff. Die Zigarre wanderte schneller zwischen den Mundwinkeln hin und her.

»Und wer sollte sie anführen, wenn nicht ich? Unglückseligerweise – bedenken Sie – habe ich Don Carlos mein Ehrenwort gegeben, die Mine nicht in die Hände dieser Diebe fallen zu lassen. Im Krieg – das wissen Sie, Padre – ist das Schlachtenglück ungewiß; und wen könnte ich hier lassen, um im Falle einer Niederlage für mich zu handeln? Die Sprengstoffe sind bereit. Doch würde es einen Mann von Ehre brauchen, von Verstand, Urteil und Mut, um die vorbereitete Zerstörung durchzuführen. Jemand, dem ich meine Ehre anvertrauen könnte, wie ich mir selbst vertraue. Einen anderen alten Offizier des Paez zum Beispiel. Oder – oder – vielleicht täte es auch einer von Paez' alten Kaplänen.«

Er stand auf, lang, mager, gerade, hart, mit seinem martialischen Schnurrbart und dem knochigen Gesicht, dessen eingesunkene Augen den Priester mit ihrem Blick zu durchbohren schienen; der Padre stand unbeweglich, eine leere Schnupftabaksdose umgekehrt in der Hand, und starrte sprachlos den Gobernador der Mine an.

 


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