Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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Dritter Teil

Der Leuchtturm

I

Sobald der Leichter vom Kai weggeglitten und in die Dunkelheit des Hafens verschwunden war, hatten sich die Europäer von Sulaco getrennt, um sich auf das Kommen des monteristischen Regimes vorzubereiten, das von den Bergen wie auch von der See her im Anzug war.

Bei dieser schweren Arbeit, dem Laden des Leichters, hatten sich die Europäer zum letztenmal zu gemeinsamem Handeln zusammengefunden. Es war der Abschluß dreier böser Tage, während derer, dem Urteil der europäischen Presse nach, die Entschlossenheit der Europäer die Stadt vor dem Unheil eines Pöbelaufstandes bewahrt hatte. Am Ende des Kais, dem Lande zu, wünschte Kapitän Mitchell gute Nacht und kehrte um. Er hatte die Absicht, auf den Bohlen der Landungsbrücke auf und ab zu wandern, bis zum Eintreffen des Dampfers aus Esmeralda. Die Bahningenieure sammelten ihre baskischen und italienischen Arbeiter, marschierten mit ihnen zum Güterbahnhof und ließen das Zollamt, das während des ersten Tages der Unruhen so gut verteidigt worden war, für die vier Winde des Himmels offenstehen. Ihre Leute hatten sich während der berühmten »drei Tage« von Sulaco tapfer und treu gehalten. Diese Treue und dieser Mut waren zum größten Teil eher in Selbstverteidigung entfaltet worden als für die Sache der materiellen Interessen, an die Carlos Gould seinen Glauben gehängt hatte. Unter den Schreien der Menge hatte nicht zum wenigsten auch der mitgeklungen: »Tod den Fremden!« Es war tatsächlich ein Glück für Sulaco, daß die Beziehungen dieser eingewanderten Arbeiter zu der Bevölkerung des Landes von allem Anfang an schlechte gewesen waren.

Doktor Monygham trat in die Türe von Violas Küche und beobachtete diesen Rückzug, der das Ende ausländischer Einmengung bezeichnete, den Rückzug der Armee des materiellen Fortschritts von der Walstatt der Costaguana-Revolutionen.

Algarobefackeln, die marschierende Abteilung entlanggetragen, schickten ihren scharfen Duft zu dem Doktor hinüber. Ihr Licht schlug über die Stirnseite des Hauses weg und ließ die Inschrift »Albergo d'Italia Una« von Ende zu Ende der langen Mauer schwarz hervortreten. Des Doktors Augen blinzelten in dem grellen Schein. Mehrere junge Leute, meistens blond und hochgewachsen, die diese von blitzenden Gewehrläufen überragte Schar dunkler Köpfe hüteten, nickten ihm im Vorübergehen vertraulich zu. Der Doktor war eine wohlbekannte Erscheinung. Einige der jungen Leute fragten erstaunt, was er da wollte. Dann marschierten sie an der Seite ihrer Arbeiter längs der Bahnstrecke weiter.

»Sie ziehen Ihre Leute vom Hafen zurück?« wandte sich der Doktor an den Chefingenieur, der Carlos Gould auf seinem Wege zur Stadt so weit begleitet hatte, mit der Hand auf dem Sattelknopf neben dem Pferd hergehend. Sie waren gerade vor der offenen Tür stehengeblieben, um die Arbeiter die Straße überqueren zu lassen.

»So schnell ich kann. Wir sind keine politische Körperschaft«, antwortete der Ingenieur nachdrücklich. »Und wir wollen unseren neuen Beherrschern keine Handhabe gegen die Eisenbahn bieten. Sie finden das richtig, Gould?«

»Unbedingt«, sagte Carlos Goulds unbewegte Stimme, von jenseits des rechteckigen Lichtscheins her, der durch die offene Tür auf die Straße hinausfiel.

Da Sotillo von der einen und Pedro Montero von der anderen Seite erwartet wurden, so war es nun des Chefingenieurs einzige Sorge, einen Zusammenstoß mit einem der beiden zu vermeiden. Sulaco bedeutete für ihn einen Bahnhof, eine Endstation, Werkstätten, ein großes Warenlager. Gegen den Pöbel konnte die Eisenbahn ihr Eigentum verteidigen. Politisch aber war sie neutral. Er war ein tapferer Mann, und vom Geiste eben dieser Neutralität durchdrungen, hatte er den Leuten, die sich zu Führern der Volkspartei aufgeworfen hatten, den Abgeordneten Fuentes und Gamacho, ein Waffenstillstandsangebot überbracht. Kugeln waren noch durch die Luft geschwirrt, während er dabei die Plaza überkreuzt und über dem Kopf ein weißes Tischtuch geschwenkt hatte, das zur Tischwäsche des Amarilla-Klubs gehörte.

Er war ziemlich stolz auf seine Tat; und in der Erwägung, daß der Doktor den ganzen Tag über mit den Verwundeten im Innenhof der Casa Gould beschäftigt gewesen war und keine Zeit gehabt hatte, die Neuigkeiten zu hören, begann er eine ausführliche Erzählung. Er hatte den beiden Abgeordneten die Pedro Montero betreffende Nachricht aus dem Lager der Bauabteilung bekanntgegeben. Der Bruder des siegreichen Generals, hatte er ihnen versichert, konnte nun jeden Augenblick in Sulaco erwartet werden. Diese Nachricht, von Señor Gamacho aus dem Fenster hinausgebrüllt, bewirkte (wie der Ingenieur erwartet hatte) ein Hinausströmen des Pöbels auf der Straße nach Rincon zu. Auch die beiden Abgeordneten stiegen, nachdem sie ihm verbindlich die Hand geschüttelt hatten, zu Pferd und galoppierten davon, dem Großen Mann entgegen. »Ich habe sie bezüglich der Zeit ein wenig falsch unterrichtet«, gestand der Chefingenieur. »Wenn er auch noch so scharf reitet, so kann er doch schwerlich vor dem Morgen hier sein. Aber mein Ziel ist erreicht. Ich habe der unterlegenen Partei einige Stunden Ruhe gesichert. Ich sagte ihnen aber nichts von Sotillo, aus Angst, sie würden es sich in den Kopf setzen, nochmals den Hafen in die Hände zu bekommen, sei es, um dem andern die Landung zu verwehren oder um ihn willkommen zu heißen – niemand kann sagen, was von beidem; da war ja Goulds Silber, auf dem unsere letzte Hoffnung ruht. Auch an Decouds Flucht mußte gedacht werden. Ich denke, die Eisenbahn hat sich gegen ihre Freunde recht gut benommen, ohne sich selbst hoffnungslos bloßzustellen. Nun müssen die Parteien einander überlassen werden.«

»Costaguana für die Costaguaneros«, warf der Doktor bissig ein. »Es ist ein schönes Land, und sie haben einen schönen Vorrat an Haß, Rache, Mord und Raub aufgehäuft – diese Kinder des Landes.«

»Nun, ich bin eines davon«, klang Carlos Goulds ruhige Stimme. »Und ich muß mich nun um meinen eigenen Vorrat an Sorgen kümmern. Meine Frau ist geradewegs weitergefahren, Doktor?«

»Jawohl. Hierherum war alles ruhig. Frau Gould hat die zwei Mädchen mit sich genommen.«

Carlos Gould ritt weiter, und der Chefingenieur folgte dem Doktor ins Haus.

»Dieser Mann ist die Ruhe in Person«, meinte er anerkennend, ließ sich auf eine Bank fallen und streckte seine gutgeformten Beine in Kniestrümpfen quer über den Eingang von sich. »Er muß seiner selbst unglaublich sicher sein.«

»Wenn das alles ist, dann ist es soviel wie gar nichts«, sagte der Doktor. Er hatte sich wieder auf die Tischkante gesetzt, hielt die Wange in der einen Hand und stützte mit der anderen den Ellbogen. »Es ist das Letzte, dessen ein Mann sicher sein sollte.« Die Kerze war halb abgebrannt, ließ den verkohlten Docht hängen und warf ein trübes Licht auf des Doktors niedergebeugtes Gesicht. Sein Ausdruck, von den alten Narben in den Wangen beeinträchtigt, zeigte etwas Unnatürliches, eine übersteigerte, bittere Reue. Wie er so dasaß, schien er finstere Gedanken zu wälzen. Der Chefingenieur sah ihn eine Weile an, bevor er widersprach.

»Das sehe ich wirklich nicht ein. Mir scheint, als gäbe es nichts andres. Immerhin . . .«

Er war ein kluger Mann, konnte aber seine Geringschätzung für diese Art von Paradoxen nicht verbergen. Tatsächlich war Doktor Monygham bei den Europäern von Sulaco nicht beliebt. Sein etwas heruntergekommenes Aussehen, das er sogar in Frau Goulds Salon beibehielt, weckte ungünstige Beurteilung. An seiner Gescheitheit war nicht zu zweifeln; und da er seit mehr als zwanzig Jahren im Lande lebte, konnte man seine Schwarzseherei nicht völlig außer acht lassen. Doch schrieben sie die Hörer (in Verteidigung ihrer eigenen Hoffnungen und Tätigkeiten) einem verborgenen Mangel in dem Charakter des Mannes zu. Es war bekannt, daß er vor vielen Jahren, als ganz junger Mann, von Guzman Bento zum Obersten Arzt der Armee ernannt worden war. Keiner der Europäer, die damals in Diensten von Costaguana standen, hatte von dem wilden alten Diktator soviel Zuneigung und Vertrauen erfahren.

Späterhin war seine Geschichte nicht so klar. Sie verlor sich in zahllosen Gerüchten von Verschwörungen und Komplotten gegen den Tyrannen, so wie sich ein Strom in einem Sandgürtel verliert, bevor er, kleiner vielleicht und trübe, auf der andern Seite wieder auftaucht. Der Doktor machte kein Geheimnis daraus, daß er durch lange Jahre in dem wildesten Teil der Republik gelebt hatte und mit fast unbekannten Indianerstämmen in den Urwäldern des fernen Innern herumgewandert war, wo die großen Ströme ihre Quellen haben. Doch war es ein Wandern ohne Ziel gewesen; und er hatte nichts geschrieben, nichts gesammelt, keine wissenschaftliche Beute aus dem Dämmern des Urwalds mitgebracht, das immer noch seiner gebeugten Gestalt anzuhaften schien, während er durch Sulaco hinkte. Dort war er von ungefähr aufgetaucht, nur um an der Meeresküste zu stranden.

Es war auch bekannt, daß er bis zur Ankunft der Goulds aus Europa in größter Dürftigkeit gelebt hatte. Don Carlos und Doña Emilia hatten den verrückten englischen Doktor aufgenommen, sobald es sich gezeigt hatte, daß er, bei all seiner wilden Unabhängigkeit, durch Güte zu zähmen war. Vielleicht war es auch nur Hunger gewesen, was ihn gezähmt hatte. In längst vergangenen Tagen war er gewiß mit Carlos Goulds Vater in Sta. Marta bekannt gewesen; und nun, was auch die dunkle Stelle in seiner Geschichte sein mochte, war er als Arzt der San Tomé-Mine eine amtliche Persönlichkeit geworden. Er wurde anerkannt, doch nicht rückhaltlos aufgenommen. Soviel verschrobenes Mißtrauen und so ausgesprochene Menschenverachtung schienen auf eine Rücksichtslosigkeit im Urteil, auf die Prahlerei mit einer Schuld zu deuten. Überdies waren, seitdem er wieder einige Bedeutung erlangt hatte, Gerüchte aufgetaucht, daß er vor Jahren, als er gelegentlich der sogenannten Großen Verschwörung bei Guzman Bento in Ungnade gefallen und eingekerkert worden war, einige seiner besten Freunde unter den Verschwörern verraten hatte. Niemand wollte dies Gerücht wahrhaben; die ganze Geschichte der Großen Verschwörung war hoffnungslos verworren und dunkel; in Costaguana wird allgemein zugegeben, daß eine solche Verschwörung überhaupt nur in der krankhaften Einbildung des Tyrannen bestanden hatte; und darum sei auch nichts und niemand zu verraten gewesen, obwohl die vornehmsten Costaguaneros auf ebendiese Anklage hin eingekerkert und hingerichtet worden waren. Das Verfahren hatte sich durch Jahre hingeschleppt und in den oberen Klassen wie eine Pest gewütet. Der bloße Ausdruck des Schmerzes wegen des Schicksals hingerichteter Verwandten war mit dem Tode bestraft worden. Don José Avellanos war vielleicht der einzige Lebende, der die ganze Geschichte dieser unaussprechlichen Grausamkeiten kannte. Er hatte selbst darunter gelitten und pflegte jede Anspielung darauf mit einem Achselzucken und einer jähen Handbewegung sozusagen von sich zu weisen. Doch was auch der Grund sein mochte, Doktor Monygham, Mitglied der Verwaltung der Gould-Konzession, Gegenstand ängstlicher Verehrung von seiten der Bergleute, dem Frau Gould seine Eigenheiten nachsah – Doktor Monygham blieb irgendwie außerhalb der Gesellschaft.

Der Grund, aus dem der Chefingenieur bei dem Gasthause in der Ebene angehalten hatte, war durchaus nicht eine besondere Vorliebe für den Doktor. Ihm gefiel der alte Viola weit mehr. Er war dahin gekommen, das »Albergo d'Italia Una« als zur Eisenbahn gehörig anzusehen. Viele seiner Untergebenen wohnten da. Frau Goulds Anteilnahme verschaffte der Familie eine auszeichnende Bedeutung. Der Chefingenieur, mit einem Heer von Arbeitern unter sich, schätzte den sittlichen Einfluß des alten Garibaldiners auf seine Landsleute. Sein erhabenes, altmodisches Republikanertum verband sich auch mit streng soldatischer Pflichttreue, als wäre die Welt ein Schlachtfeld, wo Männer für die Sache der allgemeinen Liebe und Verbrüderung, anstatt für größere oder geringere Beute zu kämpfen hatten.

»Armer alter Bursche!« sagte er, nachdem er Doktor Monyghams Bericht über Teresa angehört hatte. »Er wird niemals imstande sein, den Betrieb allein weiterzuführen. Es wird mir sehr leid tun.«

»Er ist ganz allein dort oben«, grunzte Doktor Monygham und deutete mit dem wuchtigen Kopfe nach dem engen Stiegenhaus. »Jede lebende Seele ist ausgerissen, und Frau Gould hat gerade die beiden Mädchen mitgenommen. Es könnte wohl bald einmal für sie hier draußen nicht recht sicher werden. Natürlich, als Arzt kann ich hier nichts mehr tun; sie hat mich gebeten, bei dem alten Viola zu bleiben, und da ich kein Pferd habe, um zur Mine zurückzureiten, wo ich ja zu sein hätte, so habe ich mich bereit erklärt, zu bleiben. In der Stadt werden sie auch ohne mich fertig.«

»Ich hätte gute Lust, bei Ihnen zu bleiben, Doktor, bis wir sehen, ob heute nacht im Hafen etwas geschieht«, erklärte der Chefingenieur. »Der Alte darf nicht von Sotillos Soldateska belästigt werden, die ja vielleicht auch bis hierher vorstoßen wird. Sotillo war bei Goulds und im Klub immer sehr herzlich zu mir. Wie es der Mann fertigbringen wird, irgendeinem seiner alten Freunde hier ins Gesicht zu sehen, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Er wird zweifellos damit beginnen, ein paar von ihnen zu erschießen, um über die erste Verlegenheit wegzukommen«, sagte der Doktor. »Hierzulande hilft einem Militär, der seine Überzeugung gewechselt hat, nichts besser als ein paar summarische Hinrichtungen.« Er sprach mit einer finsteren Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloß. Der Chefingenieur versuchte auch keinen. Er nickte nur einige Male bedauernd und sagte dann:

»Ich denke, daß wir Sie morgen werden beritten machen können, Doktor. Unsere Peons haben einige unserer versprengten Pferde eingefangen. Wenn Sie scharf reiten und einen weiten Bogen über Los Hatos schlagen, sich dann längs der Waldgrenze halten und Rincon vermeiden, dann können Sie hoffen, ohne Anstände die San Tomé-Mine zu erreichen. Die Mine ist meiner Ansicht nach gerade jetzt der sicherste Ort für jeden, der irgendwie verdächtig ist. Ich wollte nur, die Eisenbahn wäre auch so schwer angreifbar.«

»Bin ich verdächtig?« brachte Doktor Monygham nach einem kurzen Schweigen heraus.

»Die ganze Gould-Konzession ist verdächtig. Sie konnte nicht dauernd dem politischen Leben fernbleiben – wenn diese Krämpfe Leben zu nennen sind. Die Frage ist nur – ist sie angreifbar? Es mußte der Augenblick kommen, wo sich die Neutralität unmöglich erweisen würde, und Carlos Gould hat das gut verstanden. Ich glaube, er ist für jede äußerste Möglichkeit vorbereitet. Ein Mann seines Schlages hat nie daran gedacht, endlos von Dummheit und Bestechlichkeit abhängig zu bleiben. Es war ja, als hätte ein Mann, den Banditen in einer Höhle gefangenhalten, das Lösegeld in der Tasche und erkaufte sich sein Leben von Tag zu Tag. Nur die Sicherheit, nicht die Freiheit, bedenken Sie das, Doktor; ich weiß, was ich rede. Der Vergleich, zu dem Sie die Schultern zucken, ist völlig treffend, besonders wenn Sie sich noch vorstellen, daß ein solcher Gefangener die Macht hätte, seine Taschen immer wieder zu füllen – durch Mittel, die so sehr außerhalb der Reichweite seiner Kerkermeister liegen, als wären sie Zauberei. Sie müssen das so gut wie ich verstanden haben, Doktor. Er war in der Lage der Gans mit den goldenen Eiern. Ich erörterte diese Sache mit ihm schon gelegentlich von Sir Johns Besuch. Der Gefangene dummer und gieriger Banditen ist immer der Laune des erstbesten Schuftes preisgegeben, der ihm vielleicht den Schädel einschlägt, in einer Aufwallung oder von der unmittelbaren Aussicht auf reiche Beute verblendet. Die Geschichte von der Gans mit den goldenen Eiern ist ja nicht ganz umsonst ersonnen worden. Es ist eine Geschichte, die nie veralten wird. Darum hat auch Carlos Gould in seiner stillen, verschlossenen Art die Ribieristenbewegung unterstützt, den ersten öffentlichen Vorgang, der ihm Sicherheit auf anderer Grundlage als der der Bestechung verhieß. Der Ribierismus hat fehlgeschlagen, wie alles einfach Vernünftige in diesem Lande fehlschlagen muß. Aber Gould behält naturgemäß den Wunsch, seine Menge Silber zu retten. Decouds Plan einer Gegenrevolution mag ausführbar sein oder nicht, mag Aussichten haben oder keine. Trotz all meinen Erfahrungen in diesem aufrührerischen Erdteil vermag ich die Handlungsweise der Leute immer noch nicht ernst zu nehmen. Decoud hat uns seinen Entwurf vorgelesen und über seinen Plan zwei Stunden lang sehr gut gesprochen. Er hatte Beweisgründe, die gut genug hätten scheinen können, hätten nicht wir alle, Mitglieder alter, politisch und national festgegründeter Staatsgebilde, unwillkürlich gestutzt davor, die Idee eines neuen Staates so ohne weiteres dem Kopf eines spottlastigen jungen Menschen entspringen zu sehen, der mit einem Aufruf in der Tasche zu einem rauhbeinigen, spaßhaften, rauflustigen Halbblut flieht, einem Mann, der in diesem Teil der Welt General genannt wird. Es klingt wie ein Märchen – und bedenken Sie, es kann Wahrheit werden; denn es entspricht ganz dem wahren Geiste dieses Landes.«

»Ist das Silber also abgegangen?« fragte der Doktor finster.

Der Chefingenieur zog die Uhr. »Nach Kapitän Mitchells Rechnung – und er müßte es ja wissen – ist es nun lange genug weg, um etwa drei oder vier Meilen aus dem Hafen draußen zu sein; und wie Mitchell sagt, ist Nostromo Seemann genug, um alle Möglichkeiten auszunutzen.« Hier knurrte der Doktor so laut, daß der andere den Ton änderte.

»Sie halten nicht viel von diesem Unternehmen, Doktor? Doch warum? Carlos Gould muß sein Spiel zu Ende spielen, obwohl er nicht der Mann ist, über seine Handlungsweise sich selbst, geschweige denn andern Rechnung zu geben. Es mag sein, daß ihm das Spiel teilweise von Holroyd eingegeben worden ist; aber es ist auch mit seinem Charakter im Einklang, und darum hat er solchen Erfolg damit gehabt. Hat man nicht angefangen, ihn in Sta. Marta ›El Rey de Sulaco‹ zu nennen? Ein Spitzname kann der beste Beweis für den Erfolg sein. Ich möchte es nennen: dem Rumpf einer Wahrheit das Gesicht eines Scherzes aufsetzen. Mein lieber Herr, als ich zum erstenmal in Sta. Marta ankam, da war ich verblüfft über die Art, wie alle diese Journalisten, Demagogen, Kongreßmitglieder, all diese Generäle und Richter vor einem verschlafen blickenden Advokaten ohne Praxis krochen, einfach nur, weil er der Bevollmächtigte der Gould-Konzession war. Auch Sir John stand noch unter dem Eindruck davon, als er herkam.«

»Ein neuer Staat mit dem lächerlichen Stutzer Decoud zum ersten Präsidenten«, knurrte Dr. Monygham, hielt immer noch die Wange in der Hand und schlenkerte mit den Beinen.

»Und warum nicht, meiner Treu?« gab der Chefingenieur unerwartet ernst und eindringlich zurück. Es war, als hätte ihn eine unmerkliche Beimengung in der Luft von Costaguana mit dem ortseigentümlichen Glauben an »Pronunciamentos« erfüllt. Plötzlich begann er wie ein erfahrener Revolutionär von dem Werkzeug zu reden, das in Gestalt der Armee von Cayta fertig zur Hand lag; diese Armee konnte in wenigen Tagen nach Sulaco zurückgeführt werden, wenn es nur Decoud fertigbrachte, sofort die Küste hinunterzufahren. Als militärisches Oberhaupt war Barrios da, der von Montero, seinem früheren beruflichen Nebenbuhler und bitteren Feinde, höchstens eine Kugel zu erwarten hatte. Barrios' Mithilfe war gesichert. Seine Armee hatte von Montero gleichfalls nichts zu erhoffen; nicht einmal einen Monat Sold. Von diesem Gesichtspunkt aus war das Vorhandensein des Schatzes von ungeheurer Bedeutung. Die bloße Nachricht, er sei vor den Monteristen gerettet worden, würde für die Cayta-Truppen einen starken Antrieb bieten, sich der Sache des neuen Staates anzuschließen.

Der Doktor wandte sich und sah seinen Gefährten eine Zeitlang an.

»Dieser Decoud, der junge Kerl, versteht es, zu überzeugen, wie ich sehe«, bemerkte er schließlich. »Und, bitte, hat also deswegen Carlos Gould die ganze Ladung Silberbarren in Nostromos Obhut in See gehen lassen?«

»Carlos Gould«, sagte der Chefingenieur, »hat über seine Beweggründe nicht mehr als gewöhnlich gesagt. Sie wissen ja, er redet nicht. Aber wir alle kennen seinen Beweggrund, und er hat nur einen – die Sicherheit der San Tomé-Mine und den Weiterbestand der Gould-Konzession im Geiste seines Vertrages mit Holroyd. Holroyd ist gleichfalls ein ungewöhnlicher Mann. Sie verstehen einer des andern phantastische Seite. Der eine ist dreißig, der andere beinahe sechzig, und sie sind füreinander wie geschaffen. Millionär zu sein, und solch ein Millionär wie Holroyd, ist gleichbedeutend mit ewiger Jugend. Die jugendliche Kühnheit rechnet zur Erfüllung ihrer Wünsche mit einer unbegrenzten Zeitspanne; ein Millionär aber hat unbegrenzte Mittel in Händen – und das ist besser. Die Zeit, die uns auf Erden zusteht, ist eine unbestimmte Größe, doch über die Reichweite von Millionen gibt es keinen Zweifel. Die Einführung einer reinen Form von Christentum in diesen Erdteil ist ein Traum für einen jugendlichen Enthusiasten, und ich habe Ihnen zu erklären versucht, warum Holroyd mit achtundfünfzig Jahren wie ein Mann an der Schwelle des Lebens ist, und sogar noch besser. Er ist kein Missionar, die San Tomé-Mine aber bietet ihm gerade die Möglichkeit, es zu sein. Ich versichere Ihnen allen Ernstes, er hat es nicht einmal fertiggebracht, eine Anspielung darauf aus einer streng geschäftlichen Unterredung über die Finanzen von Costaguana wegzulassen, die er mit Sir John vor einigen Jahren führte. Sir John hat es sehr erstaunt in einem Briefe erwähnt, den er mir von San Franzisko aus auf der Rückreise schrieb. Auf mein Wort, Doktor, die Dinge scheinen wertlos als das, was sie an sich sind. Ich beginne zu glauben, daß das einzig Wesentliche an ihnen die geistige Bedeutung ist, die jeder einzelne nach der Art seiner Tätigkeit ihnen zumißt . . .«

»Bah!« unterbrach der Doktor, ohne einen Augenblick mit dem Schlenkern der Beine aufzuhören. »Selbsttäuschung. Futter für die Eitelkeit, die die Welt in Umdrehung erhält. Abgesehen davon – was, glauben Sie, wird aus dem Schatz werden, der jetzt mit dem Großen Capataz und dem Großen Politiker im Golf schwimmt?«

»Warum sind Sie deswegen unruhig?«

»Ich, unruhig! Was Teufel schert es mich? Ich messe meinen Wünschen, meinen Ansichten keine geistige Bedeutung zu. Sie sind nicht weitreichend genug, um mir Anlaß zur Selbstgefälligkeit zu geben. Sehen Sie zum Beispiel, ich hätte gewiß gerne dieser armen Frau die letzten Augenblicke erleichtert – und ich kann es nicht. Es ist unmöglich. Sind Sie je dem Unmöglichen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden – oder haben Sie, der Napoleon der Eisenbahn, kein solches Wort in Ihrem Wortschatz?«

»Wird sie denn ganz unweigerlich ein schweres Ende haben?« fragte der Chefingenieur mit menschlicher Anteilnahme.

Man hörte langsame, schwere Schritte auf den Planken über den wuchtigen Hartholzbalken der Küche. Dann klangen durch die enge Öffnung des Stiegenhauses, das zwischen den dicken Mauern ausgespart und schmal genug war, um von einem Mann gegen zwanzig Feinde verteidigt werden zu können, zwei murmelnde Stimmen herunter: die eine schwach, gebrochen, die andere, die Antwort gab, tief und freundlich; die übertönte den schwächeren Klang der ersten.

Die beiden Männer verharrten schweigend, bis das Murmeln verklungen war. Dann zuckte der Doktor die Schultern und meinte:

»Ja, unweigerlich. Und ich könnte auch nichts tun, wenn ich jetzt hinaufginge.«

Ein langes Schweigen oben und unten folgte.

»Ich habe das Gefühl«, hob der Ingenieur leise wieder an, »daß Sie Kapitän Mitchells Capataz mißtrauen.«

»Mißtrauen!« stieß der Doktor zwischen den Zähnen hervor. »Ich traue ihm alles zu – selbst die törichteste Treue. Ich bin der letzte, zu dem er gesprochen hat, bevor er vom Kai abstieß, müssen Sie wissen. Die arme Frau hier oben wünschte ihn zu sehen, und ich ließ ihn hinaufgehen. Den Sterbenden soll man nicht widersprechen, wissen Sie. Sie schien damals ziemlich ruhig und ergeben, aber der Gauner hat in den etwa zehn Minuten etwas getan oder gesagt, was sie zur Verzweiflung getrieben zu haben scheint. Sie wissen«, fuhr der Doktor zögernd fort, »Frauen sind in jeder Lage und zu jeder Lebenszeit so ganz unberechenbar, daß ich manchmal schon gedacht habe, sie wäre gewissermaßen – verstehen Sie mich? – verliebt in ihn – in den Capataz. Der Kerl hat unleugbar seinen eigenen Reiz, sonst hätte er ja nicht das ganze Stadtvolk erobert. Nein, nein, ich bin nicht verrückt. Ich kann vielleicht einem starken Gefühl von ihr zu ihm einen falschen Namen gegeben haben – einer unvernünftigen, schlichten Einstellung, deren eine Frau für einen Mann fähig ist. Sie pflegte vor mir oft über ihn zu schelten; was sich, natürlich, mit meiner Anschauung durchaus verträgt. Durchaus. Sie sah mir so aus, als dächte sie unaufhörlich an ihn. Er war in ihrem Leben sehr wichtig. Sie müssen wissen, ich habe viel von diesen Leuten gesehen. Sooft ich von der Mine herunterkam, bat mich Frau Gould regelmäßig, sie im Auge zu behalten. Sie hat die Italiener gerne; sie hat lange Zeit in Italien gelebt, glaube ich, und eine besondere Vorliebe für diesen alten Garibaldiner gefaßt. Er ist ja bemerkenswert genug. Ein rauher, verträumter Charakter, der noch in der republikanischen Idee seiner jungen Tage wie in einer Wolke lebt. Er hat den Capataz zu vielen seiner verdammten Torheiten ermutigt – der überspannte alte Bursche!«

»Was für Torheiten?« fragte der Chefingenieur zweifelnd. »Ich habe den Capataz immer sehr vernünftig und besonnen gefunden. Völlig furchtlos und ungemein brauchbar. Ein sehr verwendbarer Mann. Sir John hatte den besten Eindruck von seiner Findigkeit und Aufmerksamkeit, als er mit ihm die Überlandreise von Sta. Marta hierher machte. Späterhin hat er uns, wie Sie vielleicht gehört haben, einen Dienst erwiesen, indem er dem damaligen Polizeichef die Anwesenheit einiger gewerbsmäßiger Diebe in der Stadt anzeigte, die von weither gekommen waren, um unseren monatlichen Lohntransport aufzuhalten und zu berauben. Auch den Leichterdienst im Hafen hat er für die O. S. N. Gesellschaft mit zweifellos großem Geschick eingerichtet. Er weiß sich Gehorsam zu verschaffen, obwohl er Fremder ist. Es ist richtig, daß auch die Cargadores hier größtenteils fremd sind – Einwanderer, Isleños.«

»Sein Ansehen ist sein Reichtum«, murmelte der Doktor.

»Der Mann hat sich bei zahllosen Anlässen und auf jede Weise vertrauenswürdig erwiesen«, bekräftigte der Ingenieur. »Sobald die Frage des Silbers auftauchte, vertrat Kapitän Mitchell natürlich sehr warm die Ansicht, der Capataz sei der einzige Mann, der damit betraut werden dürfte. Als Seemann wohl, vermute ich. Als Mann aber, müssen Sie wissen, waren Gould, Decoud und ich selbst der Meinung, war es völlig gleichgültig, wer ging. Jeder Bootsführer wäre genauso gut gewesen. Denn ich bitte Sie, was sollte ein Dieb mit einem solchen Haufen Silberbarren tun? Wollte er damit durchbrennen, so müßte er schließlich irgendwo landen – und wie wollte er seine Fracht vor der Küstenbevölkerung verbergen? Wir ließen diese Erwägung einfach fallen. Überdies ging ja auch Decoud mit. Es hat Gelegenheiten gegeben, bei denen dem Capataz viel rückhaltloser vertraut wurde.«

»Er war etwas anderer Ansicht«, sagte der Doktor. »Ich hörte ihn hier in diesem Zimmer erklären, daß es die verzweifeltste Sache seines Lebens werden sollte. Er hat hier in meiner Gegenwart so etwas wie ein mündliches Testament gemacht und den alten Viola mit der Vollstreckung betraut; und, bei Gott, wissen Sie, er – er ist nicht reich geworden durch seine Treue zu euch guten Leuten von der Bahn und dem Hafen! Ich nehme an, er genießt die – wie nannten Sie es? – die geistige Bedeutung seiner Bemühungen, sonst wüßte ich nicht, warum er Ihnen, Gould, Mitchell oder sonst jemand Treue halten sollte. Er kennt dieses Land gut. Er weiß zum Beispiel, daß Gamacho, der Abgeordnete von Javira, nichts als ein ›Tramposo‹ der niedrigsten Art gewesen ist, ein kleiner Hausierer im Campo, bis er es fertigbrachte, von Anzani genügend viel Waren auf Borg zu bekommen, um einen kleinen Kramladen in der Wildnis aufzumachen und sich von den betrunkenen Mozos, die sich auf den Estanzias herumtreiben, und den elendesten unter den ihm verschuldeten Rancheros wählen zu lassen. Und Gamacho, der morgen wahrscheinlich einer unserer hohen Beamten sein wird, ist auch ein Fremder – ein Isleño. Er hätte Cargador auf den O. S. N. Dampfern sein können, hätte er nicht (der Posadero in Rincon ist bereit, es zu beschwören) einen anderen Hausierer im Wald erschlagen und ihm sein Bündel geraubt, um selbst damit das Leben zu beginnen. Und glauben Sie, daß es dann Gamacho hier je zu einem Helden der Demokratie gebracht hätte, wie unser Capataz? Natürlich nicht. Er ist nicht halb der Mann dazu. Nein, entschieden, ich glaube, daß Nostromo ein Narr ist.«

Die Worte des Doktors waren dem Erbauer der Eisenbahn zuwider. »Es ist unmöglich, darüber zu reden«, meinte er philosophisch. »Jeder Mann hat seine Begabung. Sie hätten hören sollen, wie Gamacho seine Freunde in der Straße aufhetzte. Er hat eine dröhnende Stimme, brüllte wie verrückt, hob dazu die geballte Faust hoch über den Kopf und beugte sich halb aus dem Fenster hinaus. In jeder Pause brüllte der Pöbel unten: ›Nieder mit den Oligarchen! Viva la Libertad!‹ Fuentes, im Zimmer, sah ganz jämmerlich aus. Sie wissen ja, er ist der Bruder von Jorge Fuentes, der vor ein paar Jahren sechs Monate lang Innenminister war. Natürlich hat er kein Gewissen; aber er ist ein Mann von Geburt und Bildung – ein ehemaliger Zollamtsvorstand in Cayta. Camacho, dieses rohe Vieh, hat sich ihm mit seinem Gefolge von niedrigstem Pöbel angehängt. Es war der denkbar erfreulichste Anblick, wie sich nun Fuentes vor dem anderen Schuft fürchtete.«

Er stand auf und ging zur Türe, um nach dem Hafen hinauszusehen. »Alles ruhig«, sagte er. »Ich möchte wohl wissen, ob Sotillo wirklich daran denkt, hier aufzutauchen.«

 


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