Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VIII

Wer von uns in jenen Jahren vor Beginn der neuen Eisenbahnlinie durch Geschäft oder Neugier nach Sulaco geführt wurde, wird sich noch gut der beruhigenden Wirkung erinnern, die die San-Tomé-Mine auf das Leben in jener entlegenen Provinz ausübte. Äußerlich hatten sich die Verhältnisse damals noch nicht so weit geändert, wie es seither, soviel man mir sagte, geschehen ist – mit einer Trambahn durch die Verfassungsstraße, Fahrstraßen weit ins Land hinaus, nach Rincon und andern Dörfern, wo die fremden Kaufleute und die Ricos meistens ihre neuzeitlichen Villen haben, und einem großen Güterbahnhof nächst dem Hafen, der einen eigenen Ladekai, lange Reihen von Warenschuppen und seine ganz ernsthaften und organisierten Arbeiterunruhen hat.

Damals hatte noch nie jemand von Arbeiterunruhen gehört. Die Cargadores des Hafens bildeten tatsächlich eine etwas widerspenstige Gilde aus allerhand Gesindel, mit ihrem eigenen Schutzpatron. Sie streikten regelmäßig (an jedem Tage eines Stiergefechts), und selbst Nostromo auf der Höhe seiner Macht war außerstande, mit diesem Mißstand aufzuräumen. Am Morgen nach jeder Fiesta, bevor die indianischen Marktweiber auf der Plaza ihre Mattendächer aufgespannt hatten, wenn die Schneefelder des Higuerota hoch über der Stadt noch bleich gegen den dunklen Himmel standen, da pflegte die Erscheinung eines gespenstischen Reiters auf silbergrauer Stute die Arbeiterfrage einwandfrei zu lösen. Der Gaul sprengte durch die elenden Hintergäßchen und die verwilderte Einzäunung innerhalb der alten Wälle, durch das schwarze, lichtlose Gewimmel von Häuschen, die Kuhställe oder Hundehütten schienen. Der Reiter hämmerte mit dem Kolben eines schweren Revolvers an die Türen von Pulperias, von jämmerlichen Unterschlupfen, die sich gegen die verfallenen Reste einer Palastmauer lehnten; an Holzwände, die so dünn waren, daß in den Pausen zwischen den donnernden Schlägen von drinnen Schnarchen und verschlafenes Gemurmel zu hören war. Der Reiter rief vom Sattel aus drohend die Namen von Männern, einmal, zweimal. Die undeutlichen Antworten – mürrisch, versöhnlich, wild, scherzhaft oder abbittend – klangen in das schweigende Dunkel, in dem der Reiter hielt, und bald darauf schoß wohl auch hustend eine dunkle Gestalt in die Morgenluft heraus. Manchmal rief eine sanfte Frauenstimme demütig durch das Fensterloch: »Er kommt sofort, Señor«, und der Reiter wartete schweigend auf seinem reglosen Pferde. Sah er sich aber gezwungen, abzusitzen, dann flog wohl nach einer Weile aus der Tür jener Hütte oder jener Pulperia mit wildem Getöse und verstärktem Wehklagen ein Cargador heraus, den Kopf voran und die Hände gespreizt, zwischen den Vorderbeinen der grauen Stute hindurch, die nur ihre scharfen kleinen Ohren spitzte; sie war an die Arbeit gewöhnt. Und dann raffte sich der Mann auf und rannte vor Nostromos Revolver davon, ein wenig unsicher auf den Beinen und leise fluchend. Wenn Kapitän Mitchell bei Sonnenaufgang in seinem Nachtgewand besorgt auf den hölzernen Balkon heraustrat, der der ganzen Länge des einsam stehenden O. S. N. Gebäudes entlang lief, dann konnte er die Leichter schon unterwegs sehen, Leute geschäftig an der Arbeit bei den Lastkränen, und vielleicht den unschätzbaren Nostromo hören, der nun abgesessen, im gewürfelten Hemd und der roten Leibbinde eines mittelländischen Seemanns, vom Ende des Landungsstegs her mit Stentorstimme Befehle brüllte. Ein Bursche, wie es unter Tausenden nur einen gab!

Fortschritt und Zivilisation mit ihrem mechanischen Beiwerk, das die Eigenart alter Städte unter dem herkömmlichen Gleichmaß neuzeitlichen Lebens begräbt, waren noch nicht eingedrungen. Doch über die verträumte Altertümlichkeit Sulacos, so eigenartig mit den stuckverzierten Häusern, den vergitterten Fenstern, den großen gelbweißen Mauern verlassener Klöster hinter Reihen dunkelgrüner Zypressen – über all dies hatte die San-Tomé-Mine, sehr neuzeitlich in ihrem Geiste, schon merklich Einfluß gewonnen. Die Mine hatte auch in das äußere Aussehen der Menge, die sich an Festtagen vor dem offenen Portal der Kathedrale auf der Plaza drängte, eine Änderung gebracht durch die Zahl der weißen Ponchos mit grünen Streifen, die von den Bergleuten als Festtracht gewählt waren. Die Bergarbeiter hatten auch weiße Hüte mit grüner Schnur und Borte zu tragen begonnen – lauter Dinge von guter Qualität, die im Warenhaus der Verwaltung für sehr wenig Geld zu haben waren. Ein friedlicher Cholo, der diese (in Costaguana ungebräuchlichen) Farben trug, wurde merkwürdigerweise nur selten auf Grund einer Anklage wegen Nichtachtung gegen die Polizei halb zu Tode geprügelt, noch auch lief er besondere Gefahr, auf der Straße plötzlich von einer Werbeabteilung von Lanceros mit dem Lasso eingefangen zu werden – welche Art, Kriegsfreiwillige zu werben, in der Republik beinahe als gesetzlich galt. Man wußte von ganzen Dörfern, die sich auf solche Weise zum Heeresdienst gemeldet hatten; doch, wie Don Pépé mit einem hoffnungslosen Achselzucken zu Frau Gould zu sagen pflegte: »Was wollen Sie! Arme Leute! Pobrecitos! Pobrecitos! Der Staat muß eben seine Soldaten haben.«

So sprach von Berufs wegen Don Pépé, der Kämpfer, mit seinem hängenden Schnurrbart, dem nußbraunen, schmalen Gesicht und dem scharfgeschnittenen, wie gußeisernen Unterkinn. Er erinnerte stark an den Typus des berittenen Viehhirten von den großen Llanos im Süden. »Wenn Sie einem alten Offizier von Paez zuhören wollen, Señores«, so pflegte er alle seine Reden im Adelsklub von Sulaco zu beginnen, wo er auf Grund seiner früheren Verdienste um die untergegangene Sache der Föderation zugelassen war. Der Klub, dessen Gründung auf die Tage zurückreichte, da Costaguanas Unabhängigkeit ausgerufen worden war, zählte mit Stolz unter seine Gründer viele Befreier. Zahllose Male von verschiedenen Regierungen willkürlich unterdrückt, war der Klub auch mehrfach von Ächtungen und von zumindest einer völligen Niedermetzelung aller seiner Mitglieder betroffen worden, die sich auf Befehl eines eifrigen Militärkommandanten zu einem traurigen Mahl versammelt hatten (ihre nackten Leiber waren nachher von dem Abschaum der Bevölkerung aus den Fenstern des Klubhauses auf die Plaza hinuntergeworfen worden). Zu der Zeit aber, von der ich spreche, war der Klub in Frieden wieder aufgeblüht. Er dehnte auch auf Fremde in weitem Maße die Gastlichkeit der kühlen, hohen Räume seines historischen Heimes im Vorderbau eines Palastes aus, der einst die Residenz eines hohen Würdenträgers des Geistlichen Gerichtshofs gewesen war. Die beiden Flügel verfielen, hinter vernagelten Türen verschlossen, und der Hain junger Orangenbäume, der in dem ungepflasterten Innenhof gewachsen war, verbarg den völligen Verfall des Rückgebäudes gegenüber dem Eingang. Man kam von der Straße herein wie in einen abgeschlossenen Obstgarten und geriet dann an den Fuß eines etwas beschädigten Stiegenhauses, behütet von dem moosfleckigen Standbild irgendeines heiligen Bischofs mit Mitra und Krummstab, der, die schönen, steinernen Hände über der Brust gekreuzt, den Makel einer gebrochenen Nase mit Milde zu tragen schien. Die schokoladefarbenen Gesichter der Diener, mit buschigem schwarzem Haar, spähten von oben dem Besuch entgegen; das Klicken von Billardbällen klang herunter; und ging man die Stiegen empor, dann konnte man vielleicht in der ersten Sala, in gutem Licht, sehr steif in einem geradlehnigen Stuhl, Don Pépé sitzen sehen, der auf Armeslänge eine alte Zeitung von Sta. Marta vor sich hin hielt und, während er sie durchbuchstabierte, seinen Schnurrbart drehte. Sein Pferd, ein etwas bockiges, aber ausdauerndes schwarzes Biest, mit einem Schädel wie ein Hammer, hatte man schon auf der Straße reglos unter einem ungeheuren Sattel dösen sehen, die Nase bis fast zum Randstein des Bürgersteigs gesenkt.

Wenn Don Pépé, wie der in Sulaco oft gebrauchte Ausdruck lautete, »von den Bergen herunten war«, dann konnte man ihn auch im Salon der Casa Gould treffen. Er saß in bescheidener Haltung in einiger Entfernung vom Teetisch; die Knie eng geschlossen, ein harmloses, lustiges Glitzern in den tiefliegenden Augen, pflegte er kurze Scherzworte in die Unterhaltung zu werfen. Er besaß gesunden Mutterwitz und eine echte Menschlichkeit, wie man sie so oft bei schlichten, alten Soldaten von erprobtem Mut findet, die viel harten Dienst mitgemacht haben. Natürlich verstand er durchaus nichts vom Bergbau, aber seine Obliegenheiten waren von besonderer Art. Er hatte die gesamte Bevölkerung im Minengebiet unter sich, das sich vom Ausgang der Schlucht bis dorthin erstreckte, wo der Fahrweg vom Fuß des Gebirges her in die Ebene mündet und auf einer kleinen grüngestrichenen Holzbrücke einen Fluß überquert; grün, die Farbe der Hoffnung, war auch die Farbe der Mine.

Man erzählte sich in Sulaco, daß dort oben, in den Bergen, Don Pépé auf schwindelnden Pfaden dahinschritt, ein mächtiges Schwert umgegürtet und in einer schäbigen Majorsuniform mit blindgewordenen Achselstücken. Die meisten Bergleute waren Indianer, mit großen, wilden Augen, und redeten ihn mit Taita (Vater) an, wie es die barfüßige Bevölkerung jedem gegenüber gewohnt ist, der Schuhe trägt; doch war es Basilio, Herrn Goulds eigener Mozo und der erste Diener der Casa, der im besten Glauben und aus einer Art von Schicklichkeitsgefühl heraus den Major einmal mit den feierlichen Worten anmeldete: »El Señor Gobernador ist angekommen.«

Don José Avellanos, der gerade im Salon zugegen war, schien unerhört begeistert davon, wie gut der Titel paßte, und begrüßte den alten Major scherzhaft damit, sobald dessen soldatische Gestalt sich im Türrahmen zeigte. Don Pépé lächelte nur in seinen langen Schnurrbart, als wollte er sagen: »Ihr hättet einen schlechteren Namen für einen alten Soldaten finden können.«

Und so blieb er »El Señor Gobernador« und machte seine kleinen Scherzchen über sein Amt und sein Wirkungsfeld, von welch letzterem er Frau Gould gegenüber mit spaßhafter Übertreibung sagte:

»Nicht zwei Steine könnten irgendwo zusammenkommen, Señora, ohne daß der Gobernador das Klappern hörte.«

Und dabei pflegte er bedeutungsvoll mit der Spitze seines Zeigefingers sein Ohr zu berühren. Auch als die Zahl der Bergleute schon über sechshundert betrug, schien er jeden einzelnen davon persönlich zu kennen, all die unzähligen Josés, Manuels, Ignacios, aus den Dörfern Primero, Segundo und Tercero (es gab ihrer drei), die unter seiner Oberhoheit standen. Er konnte sie nicht nur nach ihren flachen, freudlosen Gesichtern unterscheiden (die Frau Gould alle gleich fand, wie in derselben alten Form geduldigen Leidens gegossen), sondern offenbar auch nach den unendlich vielfältigen Schattierungen der rötlichbraunen, schwarzbraunen, kupferbraunen Rücken, wenn die beiden Schichten, nackt bis auf leinene Hosen und Lederhauben, sich in einem Gewirr nackter Glieder, geschulterter Hauen und schwingender Lampen unter mächtigem Scharren von Sandalen durcheinanderdrängten, auf der Hochfläche vor der Einfahrt in den Hauptschacht. Es war Arbeitspause. Die Indianerjungen lehnten müßig gegen die lange Reihe der kleinen Grubenhunde, die leer dastanden; die Sieber und Häuer hockten auf den Fersen und rauchten lange Zigarren; die langen Schüttrinnen, die schräg über den Rand der Hochfläche hinausragten, schwiegen, und nur das unermüdliche, kräftige Rauschen des Wassers in den offenen Bächen war zu hören, das Surren von Turbinenwellen klang dazwischen und das dumpfe Stampfen des Pochwerks, das auf dem darunterliegenden Plateau das kostbare Erz zermalmte. Die Obersteiger, durch Messingmedaillen, die sie auf der nackten Brust trugen, kenntlich gemacht, hielten ihre Leute in Ordnung; und schließlich verschlang der Berg die eine Hälfte der schweigsamen Menge, während die andere in langgestreckter Reihe die Zickzackwege zum Boden der Schlucht hinabstieg. Die Schlucht war tief; ein schmaler Streifen von Pflanzenwuchs auf ihrem Grunde erschien wie eine dünne, grüne Schnur, in der drei dicke Knoten von Bananengruppen, Dächern aus Palmblättern und schattigen Bäumen die Dörfer Nummer eins, zwei und drei kennzeichneten, die Wohnstätten der Arbeiterschaft der Gould-Konzession.

Von allem Anfang an waren ganze Familien nach dem Punkt der Higuerotakette gewandert, von wo aus sich das Gerücht von Arbeit und Sicherheit über das Weidegebiet verbreitet hatte, bis in die letzten Ausläufer und Schlupflöcher der fernen blauen Sierra hinein, wie ein Hochwasser. Der Vater zuerst, in spitzem Strohhut, dann die Mutter mit den größeren Kindern, meistens auch ein kleiner Esel, alle unter schweren Lasten, bis auf den Führer selbst oder vielleicht noch ein erwachsenes Mädchen, den Stolz der Familie, das barfüßig und pfeilgerade dahinschritt, mit rabenschwarzen Flechten und fleischigem, hochmütigem Profil, ohne andere Bürde als die kleine landesübliche Gitarre und ein Paar weiche Sandalen auf dem Rücken. Wenn sie solche Gruppen aus den Heckenwegen zwischen den Weiden herauskommen oder am Rand der großen Landstraße abkochen sahen, dann pflegten berittene Reisende zueinander zu sagen:

»Wieder Leute, die nach der San Tomé-Mine wandern. Wir werden morgen noch mehr von ihnen sehen.«

Und während sie hastig in die Dämmerung hineinritten, erörterten sie die große Neuigkeit der Provinz, die Neuigkeit der San Tomé-Mine. Ein reicher Engländer wollte sie erschließen – und vielleicht war er gar kein Engländer, quien sabe! Ein Ausländer mit viel Geld. O ja, er hatte schon angefangen. Ein paar Leute, die mit einer Herde schwarzer Stiere für die nächste Corrida in Sulaco gewesen waren, hatten berichtet, daß man von dem Vorbau der Posada in Rincon, nur eine knappe Meile von der Stadt weg, die Lichter in den Bergen sehen könne, die über die Bäume glitzerten. Man sehe auch gelegentlich eine Frau reiten, die seitlich zu Pferde sitze, aber nicht im Tragsessel, sondern auf einer Art Sattel, und einen Männerhut trage. Sie ginge auch zu Fuß auf den Bergwegen herum. Sie schiene ein weiblicher Ingenieur zu sein.

»Welche Torheit! Unmöglich, Señor!«

»Si! Si! Una Americana del Norte!«

»Nun gut! Wenn Euer Wohlgeboren unterrichtet sind!« Una Americana. Es mußte wohl etwas der Art sein.

Und dann lachten sie wohl ein wenig, in geringschätziger Verwunderung, und hielten dabei ein wachsames Auge auf die Schatten längs der Straße, denn man muß auf üble Begegnungen gefaßt sein, wenn man spät im Campo reitet.

Doch waren es nicht nur die Männer, die Don Pépé so gut kannte, sondern er schien auch imstande, mit einem einzigen aufmerksamen, nachdenklichen Blick jedes Weib, Mädchen oder Kind in seinem Gebiet zu erkennen. Nur die ganz Kleinen machten ihm mitunter zu schaffen. Man konnte ihn und den Padre oft beisammen sehen, wie sie in tiefem Sinnen eine Schar brauner Kinder in einer Dorfstraße überblickten und sozusagen zu sortieren versuchten; oder sie stellten gemeinsam Nachfragen nach der Verwandtschaft irgendeines kleinen, stämmigen Kobolds an, den sie antrafen, wie er nackt und ernst des Wegs kam, eine Zigarre in seinem Kindermund und vielleicht den Rosenkranz der Mutter, als Schmuck entlehnt, vom Hals bis auf den kleinen runden Bauch niederhängend. Der geistliche und der weltliche Hirte der Minenherde waren enge Freunde. Mit Dr. Monygham, dem ärztlichen Hirten, der das Amt von Frau Gould angenommen hatte und im Gebäude des Spitals lebte, waren die Beziehungen nicht so vertraute. Aber man konnte ja auch zu keiner Vertraulichkeit mit El Señor Doctor kommen, der völlig unheimlich und rätselhaft wirkte, mit seinen krummgezogenen Schultern, dem hängenden Kopf, dem spöttischen Mund und den bitteren Seitenblicken. Die beiden andren Obrigkeiten arbeiteten im besten Einvernehmen. Vater Roman, klein, flink, runzelig, mit großen, runden Augen und scharfem Kinn, ein großer Schnupfer, war auch ein alter Feldzügler. Er hatte auf den Schlachtfeldern der Republik gar manche einfältige Seele losgesprochen, war bei den Sterbenden auf den Berghängen gekniet, im hohen Gras, im Waldesdunkel, um die letzte Beichte entgegenzunehmen, Pulverrauch in der Nase, das Rattern des Gewehrfeuers, das Klatschen und Schwirren der Kugeln im Ohr. Und was sollte Böses dabei sein, wenn sie im Pfarrhaus in den frühen Abendstunden mit schmutzigen Karten miteinander ein Spielchen machten, bevor Don Pépé seine letzte Runde antrat, um sich zu überzeugen, daß die Schutzmannschaft der Mine – eine von ihm selbst eingerichtete Körperschaft – auf ihren Posten war? Für diese letzte seiner Tagespflichten gürtete Don Pépé tatsächlich seinen alten Säbel um, auf der Veranda eines weißen Holzhauses von unverkennbar amerikanischer Herkunft, das Vater Roman das Pfarrhaus nannte. Ein langgestrecktes, niedriges Gebäude daneben, mit steilem Dach, wie eine große Scheune, mit einem Holzkreuz auf dem Giebel, war die Arbeiterkapelle. Dort las Vater Roman jeden Morgen die Messe vor einem düstern Altarbild, das die Auferstehung darstellte. Die graue Fläche des Grabsteins nahm eine Ecke ein, eine aufwärts schwebende Figur, bleich und langgliedrig, in einem Strahlenkranz, die Mitte, und ein niedergeworfener, dunkler Legionär im Helm den pechschwarzen Vordergrund. »Dieses Bild, meine Kinder, muy linda e maravillosa«, pflegte Vater Roman zu einigen seiner Beichtkinder zu sagen, »das ihr hier dank der Freigebigkeit der Gattin eures Señors Administrador bewundern könnt, ist in Europa gemalt worden, einem Land der Heiligen und Wunder, viel größer als unser Costaguana.« Und darauf pflegte er salbungsvoll eine Prise zu nehmen. Als aber einmal ein Vorwitziger zu wissen wünschte, in welcher Richtung dies Europa liege, ob aufwärts oder abwärts der Küste, da wurde Vater Roman, um seine Verblüffung zu verbergen, sehr zurückhaltend und streng. »Zweifellos liegt es sehr weit weg. Aber Unwissende, wie ihr von der San Tomé-Mine, sollten lieber ernsthaft über die ewigen Strafen nachdenken, anstatt der Größe der Erde nachzuforschen, deren Länder und Völker weit über eure Begriffe gehen.«

Mit einem »Gute Nacht, Padre!« – »Gute Nacht, Don Pépé!« ging der Gobernador davon, den Säbel unter dem Arm, den Körper vorgebeugt, mit weitausgreifendem Schritt ins Dunkel. Die Heiterkeit, wie sie zu einem unschuldigen Kartenspiel um ein paar Zigarren oder ein Bündel Yerba paßte, wich sofort der strengen, dienstlichen Haltung eines Offiziers, der sich aufmacht, um die Lagerposten abzugehen. Ein lautes Trillern der Pfeife, die ihm vom Halse hing, erweckte sofort von überallher die grelle Antwort anderer Pfiffe, mit Hundegebell untermischt, das endlich langsam am Ausgang der Schlucht erstarb; und aus dem Schweigen tauchten zwei Serenos auf, die bei der Brücke Wache hatten, und schritten lautlos dem Offizier entgegen. An der einen Seite der Straße lag ein großes Blockhaus, das Warenhaus, ganz und gar verschlossen und verrammelt. Ein andrer weißer Fachwerkbau gegenüber war das Spital; in den zwei Fenstern von Dr. Monyghams Wohnung war noch Licht. Nicht einmal das zarte Blätterwerk einer Gruppe von Pappelbäumen regte sich, so atemlos war die Dunkelheit, in die die überhitzten Felsen ihre Wärme ausstrahlten. Don Pépé stand einen Augenblick lang neben den zwei reglosen Serenos; und plötzlich begann vielleicht hoch oben auf dem steilen Hang des Berges, auf dem einzelne Fackeln glühten, wie verflogene Funken von den zwei Feuern oberhalb, die Schüttrinne zu rasseln. Das scharrende, knatternde Getöse nahm an Wucht und Schnelligkeit zu, wurde von den Wänden der Schlucht aufgenommen und als dumpfes Donnergrollen weit in die Ebene hinausgeschickt. Der Posadero in Rincon schwur, daß er in ruhigen Nächten bei aufmerksamem Hinhören das Geräusch in seinem Hausgang hören könne wie das eines Gewitters in den Bergen.

Charles Gould selbst war der Meinung, daß das Geräusch bis an die äußersten Grenzen der Provinz dringen müsse. Wenn er nachts zur Mine ritt, dann klang es ihm am Rand eines kleinen Gehölzes gleich hinter Rincon entgegen; das böse Murren des Berges, der seine Schätze in das Stampfwerk strömen ließ, war nicht zu verkennen. Dem Mann klang es mit eigener Gewalt ins Herz, als eine donnernde Verkündigung an das ganze Land, mit der Eindringlichkeit einer vollendeten Tatsache, als Erfüllung eines kühnen Wunsches. Er hatte in seiner Einbildung eben dieses Geräusch zu hören gemeint, an jenem weit zurückliegenden Abend, als seine Frau und er, nach mühsamem Ritt durch einen Waldstreifen, ihre Pferde an einem Strom angehalten und zum erstenmal in die wuchtige Einsamkeit der Schlucht gespäht hatten. Da und dort ragte die Spitze einer Palme auf. In einer Steilschlucht nahe beim Abhang des San Tomé-Berges (der würfelig ist wie ein Blockhaus) blitzte der Faden eines kleinen Wasserfalls glashell durch das dunkle Grün der schweren Baumfarne. Don Pépé, der das Paar begleitete, ritt auf, wies mit ausgestrecktem Arm in die Schlucht und erklärte mit gemachter Feierlichkeit: »Sehen Sie hier, Señora, das wahre Schlangenparadies.«

Und dann hatten sie die Pferde gewandt und waren nach Rincon geritten, um dort die Nacht zu verbringen. Der Alkalde – ein alter, fleischloser Moreno, ein Sergeant aus der Zeit Guzman Bentos – hatte ehrfürchtig mit seinen drei hübschen Töchtern das Haus geräumt, um der fremden Señora und Ihren Wohlgeboren den Caballeros Platz zu machen. Er bat Charles Gould nur (den er für eine geheimnisvolle amtliche Persönlichkeit zu halten schien), die höchste Regierungsstelle – El Gobierno supremo – an eine Pension zu erinnern (in Höhe von einem Dollar monatlich), zu der er sich berechtigt glaubte. Sie sei ihm versprochen worden, versicherte er und reckte kriegerisch seinen gebeugten Rücken: »Vor vielen Jahren, für meine Tapferkeit in den Kriegen mit wilden Indianern, als ich noch jung war, Señor.«

Der Wasserfall war nicht mehr da. Die Baumfarne, die unter seinem Sprühregen gewuchert hatten, waren um den ausgetrockneten Wasserlauf herum verdorrt, und die tiefe Schlucht war nur noch ein großer Graben, halb ausgefüllt mit Rückständen und Erzabfällen. Der Bach, weiter oberhalb gedämmt, schickte sein Wasser rauschend durch die offenen Rinnen aus ausgehöhlten Baumstämmen, die, auf hohen Holzpfählen ruhend, zu den Turbinen und dem Stampfwerk auf dem niederen Plateau führten, der Mesa grande des San Tomé-Gebirges. Nur das Andenken an den Wasserfall mit seinen wilden Farnen, die wie ein hängender Garten die Felsen der Schlucht überwucherten, lebte in Frau Goulds Aquarellskizze fort; sie hatte sie eines Tages in aller Eile von einer kleinen Lichtung zwischen den Büschen aus gemacht und dabei im Schatten eines kleinen Strohdaches gesessen, das unter Don Pépés Anleitung auf drei rohen Pfählen errichtet worden war.

Frau Gould hatte alles von Anfang an mit angesehen, die Rodung der Wildnis, den Bau der Straße, die Sprengung der Fußwege längs der Steilhänge von San Tomé. Durch lange Wochen hatte sie mit ihrem Gatten an Ort und Stelle gelebt; und in Sulaco hatte sie sich während jenes Jahres so wenig gezeigt, daß das Auftauchen des Gefährtes der Goulds auf der Alameda ein gesellschaftliches Ereignis bedeutete. Aus den wuchtigen Familienkutschen, die, voll mit stattlichen Señoras und schwarzäugigen Señoritas, feierlich durch die schattige Allee dahinrollten, grüßte sie das lebhafte Winken weißer Hände. Doña Emilia war »von den Bergen herunten«.

Aber nicht für lange Zeit. Doña Emilia pflegte spätestens nach ein oder zwei Tagen wieder »in die Berge hinauf zu gehen« und ihren flinken Maultieren wieder eine Ruhepause zu gönnen. Sie hatte dem Bau des ersten Fachwerkhauses auf der unteren Mesa beigewohnt, das die Kontorräume und Don Pépés Wohnung enthalten sollte; sie hörte mit einem Gefühl heißer Dankbarkeit die erste Wagenladung Erz durch die damals noch einzige Schüttrinne herunterrasseln. Sie war in lautlosem Schweigen neben ihrem Gatten gestanden, fröstelnd vor Erregung, im Augenblick, als die Gruppe der fünfzehn Erzmörser zum erstenmal in Gang gesetzt wurde. Als die Feuer unter den ersten Retorten aus ihrem Schuppen weit in die Nacht hinaus geleuchtet hatten, da hatte sich Frau Gould erst zur Ruhe auf das einfache Feldbett in dem sonst leeren Fachwerkbau zurückgezogen, bis sie das erste Stück Silberschwamm, das aus den dunklen Tiefen der Gould-Konzession bis in die wechselvollen Geschicke des Tages geraten war, gesehen hatte, sie hatte ihre unbestechlichen Hände, vor Freude leise zitternd, auf den ersten Silberbarren gelegt, der noch warm aus der Gußform gekommen war; und ihrem inneren Auge erschien der Metallklumpen mit so viel sühnender Kraft begabt, als wäre er keine bloße Tatsache, sondern ein unfaßbares Etwas von weitreichender Wirkung gewesen, wie der wahre Ausdruck eines Gefühls oder die Offenbarung eines Grundsatzes.

Don Pépé, auch er voll reger Anteilnahme, sah über ihre Schultern, mit einem Lächeln, das sein Gesicht in Längsfalten zog und ihm Ähnlichkeit mit der Ledermaske eines gutmütigen Teufels gab.

»Würden nicht die Muchachos des Hernandez gerne dies unscheinbare Ding besitzen, das, por Dios, ganz wie ein Stück Zinn aussieht?« fragte er scherzend.

Hernandez, der Räuber, war ein harmloser kleiner Ranchero gewesen und unter besonders grausamen Begleitumständen während des Bürgerkrieges aus seinem Hause herausgeholt und zum Heeresdienst gepreßt worden. Dort hatte er sich soldatisch einwandfrei geführt, bis er einmal seine Gelegenheit wahrgenommen, seinen Oberst erschossen und es fertiggebracht hatte, zu entfliehen. Mit einer Bande von Deserteuren, die ihn zu ihrem Hauptmann gewählt, hatte er jenseits des wilden und wasserlosen Bolson de Tonoro Zuflucht gesucht. Die Haziendas zahlten ihm in Vieh und Pferden Tribut. Außerordentliche Geschichten wurden von seiner Macht und der wundervollen Art erzählt, in der er sich oft und oft der Gefangennahme entzogen hatte. Er pflegte ganz allein in die Dörfer und die kleinen Städte im Campo einzureiten, einen Packmulo vor sich, zwei Revolver im Gürtel, bis gerade vor den Laden oder das Warenhaus, dort auszuwählen, was er wünschte, und dann wieder wegzureiten, unbehelligt infolge des Schreckens, den seine Taten und seine Kühnheit einflößten. Armes Landvolk ließ er gemeinhin in Frieden; die Leute der oberen Klasse wurden oft auf den Straßen angehalten und ausgeraubt; doch jeder unglückliche Beamte, der in seine Hände fiel, konnte sicher sein, furchtbar durchgepeitscht zu werden. Die Offiziere des Heeres liebten es nicht, wenn in ihrer Gegenwart sein Name genannt wurde. Seine Gefolgsleute, mit gestohlenen Pferden beritten gemacht, lachten über die Verfolgung durch die reguläre Kavallerie, die sie festnehmen sollte und dabei doch nur mit großer Kunst in Hernandez' kleinem Reich in Hinterhalte gelockt wurde. Expeditionen waren ausgerüstet, ein Preis auf des Führers Kopf gesetzt worden, sogar an Versuchen hatte es nicht gefehlt (verräterisch natürlich), Unterhandlungen mit ihm anzuknüpfen, ohne daß dadurch sein Gebaren die mindeste Einschränkung erfahren hätte. Schließlich hatte ihm nach wahrer Costaguaner Art der Fiscal von Tonoro, ehrgeizig nach dem Ruhm, den berühmten Hernandez bezwungen zu haben, eine Geldsumme und freies Geleit aus dem Lande angeboten, wenn er seine Bande verraten wollte. Doch Hernandez war offenbar nicht aus dem Holz, aus dem die hervorragenden Militärpolitiker und Verschwörer von Costaguana geschnitzt sind. Der listige, doch herkömmliche Anschlag (der sich so oft bei der Unterdrückung von Revolutionen bewährt hatte) versagte diesem Hauptmann gewöhnlicher Salteadores gegenüber. Anfangs schien alles für den Fiscal gut zu gehen, das Ende aber wurde schlimm für die Schwadron von Lanceros, die (auf des Fiscals Anweisung) in einer Bodenfalte aufgestellt worden war, wohin Hernandez seine ahnungslosen Leute zu führen versprochen hatte. Sie kamen auch tatsächlich zur angegebenen Zeit, aber auf Händen und Füßen kriechend, durch den Busch, und gaben ihre Anwesenheit erst durch eine starke Gewehrsalve zu erkennen, die viele Sättel leerte. Die überlebenden Soldaten jagten nach Tonoro zurück. Man sagt, daß der führende Offizier (der, besser beritten, den anderen weit voraus war) hinterdrein in eine rauschige Verzweiflung geriet und den ehrgeizigen Fiscal in Gegenwart seiner Frau und seiner Töchter mit dem flachen Säbel elend durchbleute, weil er dies Unglück über das Nationalheer gebracht hatte. Der höchste Zivilbeamte von Tonoro sank ohnmächtig zu Boden und wurde weiter noch mit Schlägen überhäuft und mit scharfen Sporenstößen in Hals und Gesicht bedacht, infolge der großen Empfindlichkeit seines militärischen Kollegen. Dieser Klatsch aus dem Innern, so bezeichnend für die Herrscher des Landes, mit seiner Geschichte von Unterdrückung, Ohnmacht, Winkelzügen, Verrat und roher Gewalt, war Frau Gould gut bekannt. Daß die Sache von Leuten von verfeinerter Bildung und Charakter ohne Entrüstung hingenommen wurde, als ein durch die Verhältnisse bedingtes Geschehnis, war eines der Zeichen von Entwürdigung, die Frau Gould fast bis zur Verzweiflung bedrücken konnten. Doch mit einem Blick auf den Silberbarren schüttelte sie den Kopf zu Don Pépés Bemerkung und meinte:

»Ohne die gesetzlose Tyrannei Ihrer Regierung, Don Pépé, würde nun manch ein Übeltäter glücklich und zufrieden von der ehrlichen Arbeit seiner Hände leben.«

»Señora«, rief Don Pépé begeistert, »es ist wahr! Als hätte Gott Ihnen die Macht gegeben, bis tief ins Herz des Volkes zu sehen! Sie haben die Leute rings um sich arbeiten sehen, Doña Emilia – fromm wie die Lämmer, geduldig wie ihre eigenen Esel, tapfer wie die Löwen. Ich habe sie bis hart an die Mündung der Kanonen geführt – ich, der ich hier vor Ihnen stehe, Señora –, zu den Zeiten von Paez, der voll Großmut war und an Mut, soviel ich weiß, nur von dem Onkel unseres Don Carlos hier erreicht wurde. Kein Wunder, daß es Banditen im Campo gibt, wenn nur Diebe, Schwindler und blutdürstige Macaques uns in Sta. Marta regieren; doch so oder so, ein Bandit ist ein Bandit, und wir werden dem Silbertransport nach Sulaco hinunter ein Dutzend gute Winchesterbüchsen mitgeben.«

Frau Goulds Ritt mit dem ersten Silbertransport nach Sulaco bildete den Abschluß ihres »Lagerlebens«, wie sie es nannte, bevor sie sich dauernd in ihrem Stadthaus niederließ, wie es für die Gattin des Administradors eines so wichtigen Unternehmens wie der San Tomé-Mine geziemend und sogar nötig war. Denn die San Tomé-Mine wurde allmählich zu einer besonderen Einrichtung, zum Sammelpunkt für alles in der Provinz, was Ordnung und Gleichmaß zum Leben brauchte. Aus der Bergschlucht schien sich über das ganze Land Sicherheit zu ergießen. Die Behörden von Sulaco hatten begriffen, daß die San Tomé-Mine es für sie der Mühe wert machen konnte, die Dinge und die Leute in Ruhe zu lassen. Dies war die nächste Annäherung an vernünftige und gerechte Verhältnisse, die Charles Gould für den Anfang erreichbar schien. Tatsächlich war die Mine mit ihrer Organisation, ihrer Arbeiterbevölkerung, die für das Vorrecht besonderer Sicherheit mit unbedingter Anhänglichkeit dankte, die Mine mit ihrer Waffenkammer, mit ihrem Don Pépé, mit ihrer bewaffneten Truppe von Serenos (in deren Reihen, sagte man, viele Verbrecher und Deserteure und sogar einige Mitglieder von Hernandez' Bande Platz gefunden hatten) eine Macht im Lande. Ein gewisser hervorragender Staatsmann in Sta. Marta hatte einmal bei Erörterung des Verhaltens der Sulaco-Behörden während einer politischen Krise mit hohlem Lachen ausgerufen:

»Sie nennen diese Leute Regierungsbeamte? Die? Niemals! Sie sind Beamte der Mine – Beamte der Konzession, sage ich Ihnen.«

Der hervorragende Mann (der damals an der Macht war, ein Mensch mit zitronenfarbenem Gesicht und ganz kurzem, welligem, um nicht zu sagen wolligem Haar), der hervorragende Mann ging in seiner jähen Aufwallung so weit, seine gelbe Faust unter der Nase des Besuchers zu schütteln und dazu zu schreien:

»Jawohl! Alle! Still! Alle! Ich sage es Ihnen! Der Politische Jefe, der Polizeichef, der Zollamtsdirektor, der General, alle sind sie Beamte dieser Goulds.«

Daraufhin war in dem Ministerkabinett ein längerwährendes Murmeln erfolgt, furchtlos und beweiskräftig, wenn auch leise, und die Leidenschaft des hervorragenden Mannes hatte sich in einem zynischen Achselzucken erschöpft. Letzten Endes, schien er sagen zu wollen, hatte ja alles nichts zu bedeuten, solange der Minister selbst während seiner kurzen Amtsdauer nicht vergessen wurde. Trotzdem aber hatte der inoffizielle Agent der San Tomé-Mine während seiner Arbeit für die gute Sache doch auch böse Augenblicke, die sich in seinen Briefen an Don José Avellanos, seinen Onkel mütterlicherseits, widerspiegelten.

»Keiner dieser Bluthunde von Sta. Marta soll den Fuß in den Teil von Costaguana setzen, der diesseits der San Tomé-Brücke liegt«, pflegte Don Pépé Frau Gould zu versichern. »Außer, natürlich, als geehrter Gast – denn unser Señor Administrador ist ein tiefer Politico.« Zu Charles Gould aber, in dessen eigenem Zimmer, sagte der alte Major wohl mit einer grimmigen soldatischen Fröhlichkeit: »Wir spielen bei der Geschichte alle um unseren Kopf.«

Don José Avellanos murmelte gelegentlich: »Imperium in Imperio, Emilia, meine Seele«, mit dem Ausdruck tiefer Selbstzufriedenheit, in den sich aber, merkwürdig genug, ein gewisses Unbehagen mengte; doch das war vielleicht nur den Eingeweihten erkennbar.

Und für die Eingeweihten war es ein wundervoller Platz, dieser Salon in der Casa Gould, in dem sich der Hausherr – El Señor Administrador – gelegentlich einen Augenblick sehen ließ: älter, härter, geheimnisvoll schweigsam, mit verschärften Linien auf seinem rötlichen, englischen Gesicht von Freiluftfarbe; er stelzte auf seinen mageren Reiterbeinen durch die Türen, entweder gerade »zurück vom Gebirge« oder, mit klirrenden Sporen, die Reitpeitsche unter dem Arm, auf dem Weg »ins Gebirge«. Dann konnte man Don Pépé sehen, der in gemäßigt kriegerischer Haltung auf seinem Stuhl saß, den Llanero, der seine soldatische Heiterkeit, seine Weltkenntnis und sein für seine Stellung vollendetes Benehmen inmitten wüster Kämpfe mit seinesgleichen erworben zu haben schien; Avellanos, höflich und vertraut, den Diplomaten, unter dessen Redefertigkeit sich die Fähigkeit zu klugem und vorsichtigem Rat verbarg und der sein Geschichtswerk über Costaguana, betitelt »Fünfzig Jahre Mißwirtschaft«, jetzt der Welt zu schenken »für nicht weise hielt« (auch wenn es möglich gewesen wäre). Diese drei, und dazu Doña Emilia zwischen ihnen, zierlich, klein, feenhaft, vor dem glitzernden Teegerät; sie alle mit einem gemeinsamen Leitgedanken, einer gemeinsamen Spannung, einem stets bewußten Ziel: die Unverletzlichkeit der Mine um jeden Preis zu wahren. Und auch Kapitän Mitchell konnte man sehen, ein wenig abseits, nahe bei einem der langen Fenster; er hatte das etwas altmodische Aussehen eines gepflegten, älteren Junggesellen, etwas feierlich, in weißer Weste, wurde nicht sonderlich beachtet, merkte es aber nicht; er tappte ewig im Dunkeln und meinte doch, mitten im Leben zu stehen. Der gute Mann hatte rund dreißig Jahre seines Lebens auf der hohen See zugebracht, bevor er diesen »Landposten«, wie er es nannte, erreicht hatte, und war nun verblüfft über die Wichtigkeit der (nicht nur auf die Schiffahrt bezüglichen) Geschehnisse, die an Land vor sich gehen. Fast jedes Vorkommnis, das nur ein wenig außerhalb des Alltags lag, bezeichnete für ihn »eine Epoche« oder es war »historisch«. Manchmal allerdings konnte seine Feierlichkeit ihn nicht abhalten, betrübt das rötliche, gutgeschnittene Gesicht zu senken, das von schneeweißem, glattgeschorenem Haar und kurzem Backenbart eingerahmt war, und zu murmeln:

»Ah! Das! Das, Herr, war ein Fehler!«

Die Einlieferung des ersten Silbertransports aus der San Tomé-Mine, zur Verschiffung nach San Franzisko in einem der O. S. N. Postdampfer, hatte natürlich für Kapitän Mitchell »eine Epoche bezeichnet«. Die Barren waren in Koffer aus steifer Ochsenhaut mit geflochtenen Griffen verpackt, klein genug, um von zwei Mann getragen zu werden, und wurden von den Serenos der Mine vorsichtig etwa eine halbe Meile weit über die steilen Zickzackwege bis zum Fuß des Gebirges heruntergebracht. Dort wurden sie in zweirädrige Karren verladen, die wie geräumige Kasten mit Türen an der Rückseite aussahen und, jeder mit zwei hintereinandergespannten Mulis, unter der Bedeckung berittener und bewaffneter Serenos warteten. Don Pépé verschloß eine Tür nach der andern, und auf sein Pfeifensignal setzte sich die Wagenreihe in Bewegung, unter dem Klirren von Sporen und Karabinern, Peitschenknallen und Rasseln mit plötzlichem, dumpfem Dröhnen über die Grenzbrücke weg (»ins Land der Diebe und Bluthunde«, nannte Don Pépé diese Ausreise); Hüte wippten im ersten Dämmerlicht auf den Köpfen verhüllter Gestalten, die Winchesterbüchsen auf dem Schenkel aufgestützt hielten; Zügelhände kamen schlank und braun aus den wehenden Falten der Ponchos hervor. Die Kolonne umfuhr ein kleines Gehölz, durchquerte dann längs der Minenstraße die Lehmhütten und niedrigen Mauern von Rincon und legte auf dem Camino Real Tempo zu: die Maultiere wurden angetrieben, die Eskorte galoppierte. Don Carlos ritt allein einer Staubwolke voran, aus der undeutlich die langen Ohren von Maultieren und die wehenden, kleinen grünweißen Wimpel auftauchten, die jeder Wagen führte: erhobene Arme dazu, in einem Gewirr von Sombreros, und das weiße Blitzen spähender Augen: und Don Pépé, kaum zu erkennen in der Nachhut des donnernden Wirbels, saß steif, mit unbewegtem Gesicht, im Sattel und hob und senkte sich taktfest zum Trab eines silbergezäumten schwarzen Gauls mit Hirschhals und Hammerkopf.

Die verschlafenen Leutchen in den Lehmhütten der Weiler und den kleinen Ranchos an der Straße erkannten an dem maßlosen Getöse den Sturmangriff der San Tomé-Silber-Eskorte gegen den zerbröckelnden Stadtwall nach dem Campo zu. Sie kamen an die Türen, um die Kolonne über Stock und Stein wegflitzen zu sehen, mit dem rücksichtslosen Drauflos und der ganzen Fahrkunst einer in Stellung gehenden Feldbatterie, und der einsamen englischen Gestalt des Señor Administradors führend weit voraus.

In den Koppeln längs der Straße sprengten Pferde eine Zeitlang wild dahin; das schwere Vieh stand bis zur Brust im tiefen Grase und brüllte unruhig dem Getöse nach; ein demütiger Indianer sah vielleicht über die Schulter zurück und beeilte sich, seinen kleinen Lastesel an die Mauer zu drücken, um dem Silbertransport der San Tomé-Mine, der an die See hinunterging, den Weg freizugeben. Ein paar fröstelnde Leperos unter dem steinernen Pferd auf der Alameda murmelten untereinander »Caramba!«, wenn sie die Kolonne im Galopp in weitem Bogen um das Denkmal biegen und die leere Verfassungsstraße hinunterjagen sahen, denn die Maultiertreiber der San Tomé-Mine hielten es für den richtigen, den einzig anständigen Stil, die eben erwachende Stadt von einem Ende zum andern ohne Aufhalten zu durchrasen, als hätten sie den Teufel auf den Fersen.

Das frühe Sonnenlicht glänzte auf den zart gelben, blauen, roten Fronten der großen Häuser, deren Tore alle noch geschlossen waren und hinter deren vergitterten Fenstern sich kein Gesicht zeigte. In der ganzen Reihe der sonnigen leeren Balkone längs der Straße war nur eine einzige weiße Gestalt hoch über dem blanken Straßenpflaster zu sehen, die Gattin des Señors Administrador – die, das reiche, blonde Haar flüchtig auf dem kleinen Kopf aufgesteckt, ein Spitzengewirr um den Halsausschnitt des Morgenkleides aus Musselin, sich vorbeugte, um die Eskorte nach dem Hafen gehen zu sehen. Dem kurzen schnellen Aufblicken ihres Gatten begegnete ihr Lächeln. Dann ließ sie das Ganze mit kriegerischem Lärm unter sich vorbeiziehen und beantwortete endlich mit freundlichem Nicken den Gruß des galoppierenden Don Pépé, der sich mit steifer Ehrerbietung im Sattel neigte und den Hut bis zum Knie hinab schwenkte.

Die Reihe der verschlossenen Wagen wurde mit den Jahren immer länger, die Eskorte immer größer. Alle drei Monate flutete ein ständig anwachsender Silberstrom durch die Straßen von Sulaco, auf dem Wege nach den Kassenräumen des O. S. N. Gebäudes am Hafen, um dort die Verschiffung nach dem Norden abzuwarten. Ständig anwachsend und von ungeheurem Wert: denn wie Charles Gould einmal seiner Frau fast frohlockend sagte, war etwas Ähnliches wie der Reichtum der San Tomé-Ader bisher in der Welt nicht erhört worden. Für sie beide war jedes Vorüberziehen der Eskorte unter dem Balkon der Casa Gould wie ein neuer Sieg im Kampf für den Frieden in Sulaco.

Zweifellos waren Charles Goulds erste Schritte dadurch begünstigt worden, daß sie in eine verhältnismäßig friedliche Zeitspanne fielen; vielleicht auch war die Gesittung schon weiter fortgeschritten als zur Zeit der Bürgerkriege, aus denen die eiserne Zwingherrschaft Guzman Bentos »schrecklicher Erinnerung« erwachsen war. Den Zwistigkeiten zu Ende dieser Herrschaft (die durch volle fünfzehn Jahre dem Lande den Frieden erhalten hatte) fehlte gewiß nicht die sinnlose Torheit und ein Unmaß an Grausamkeit und Leiden, doch wiesen sie bei weitem nicht den blinden Blutdurst und den politischen Fanatismus früherer Zeiten auf; alles war gemeiner, niedriger, verächtlicher und unendlich lenkbarer infolge der ganz offenbar zynischen Beweggründe. Es lief auf ein schamloses Geraufe um eine ständig abnehmende Beute hinaus; denn jeder Unternehmungsgeist im Lande war in der törichtsten Weise erstickt worden. So konnte es geschehen, daß die Provinz Sulaco, einst die Walstatt blutigster Parteihändel, gewissermaßen zur begehrten Belohnung für politische Verdienste wurde. Die Großen der Erde (in Sta. Marta) sparten die Posten in dem alten Westlichen Staat für ihre nächsten und liebsten Anhänger auf: Neffen, Brüder, Gatten von Lieblingsschwestern, Busenfreunde, treue Gefolgsleute, oder für wichtige Parteigänger, vor denen sie vielleicht Angst hatten. Es war die gesegnete Provinz der großen Möglichkeiten und der höchsten Gehälter, denn die San Tomé-Mine hatte ihre eigene, nichtamtliche Gehaltsliste, deren einzelne Posten und Gesamtbetrag, in gemeinsamer Beratung von Charles Gould und Señor Avellanos festgesetzt, einem bedeutenden Geschäftsmann in den Vereinigten Staaten bekannt waren, der in jedem Monat etwa zwanzig Minuten lang den Angelegenheiten von Sulaco seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Zugleich bildeten sich auch in jenem Teil der Republik, unter dem stärkenden Einfluß der San Tomé-Mine, in aller Stille neue materielle Interessen heraus. So galt es zum Beispiel in den politischen Kreisen der Hauptstadt als ausgemacht, daß die Stellung eines Finanzamtspräsidenten in Sulaco die Vorstufe zum Finanzministerium bildete und daß das gleiche auch für andere Ämter galt; andererseits war die Geschäftswelt der Republik dahin gelangt, die Westliche Provinz als das gelobte Land der Sicherheit anzusehen, besonders, wenn man es verstand, mit der Verwaltung der Mine auf guten Fuß zu kommen. »Charles Gould – ausgezeichneter Mensch! Unerläßlich nötig, sich seiner zu versichern, bevor Sie einen einzigen Schritt tun; versuchen Sie eine Empfehlung an ihn von Morago zu bekommen – dem Agenten des Königs von Sulaco, Sie wissen doch.«

Kein Wunder also, daß Sir John, als er aus Europa gekommen war, um das Feld für seine Eisenbahn zu ebnen, auf Schritt und Tritt auf den Namen (und sogar den Spitznamen) von Charles Gould gestoßen war.

Der Agent der San Tomé-Mine in Sta. Marta (Sir John fand ihn liebenswürdig und gut unterrichtet) hatte unbestreitbar so viel dazu getan, um die Präsidentenreise zustande zu bringen, daß Sir John zu glauben begann, es könnte etwas Wahres an den geflüsterten Gerüchten sein, die von einem ungeheuren, geheimen Einfluß der Gould-Konzession wissen wollten. Dies Geflüster lief unter anderm darauf hinaus, daß die San Tomé-Mine, zum Teil wenigstens, die letzte Revolution finanziert habe, in deren Folge Don Vincente Ribiera, ein Mann von Bildung und untadeligem Charakter, für fünf Jahre zum Diktator gewählt und von den besten Elementen im Staate mit einer allgemeinen Umgestaltung betraut worden war. Ernste, gut unterrichtete Leute schienen daran zu glauben und auf bessere Zeiten, auf die Wiederkehr von Treu und Glauben, Gesetz und Ordnung im öffentlichen Leben zu hoffen. Um so besser, dachte Sir John. Er arbeitete immer in großem Maßstab. Das Bauprojekt der Nationalen Zentralbahn umfaßte auch den Plan eines Darlehens an den Staat, sowie den einer geregelten Besiedelung der Westlichen Provinz. Treu und Glaube, Ordnung, Ehrlichkeit, Frieden waren für diesen mächtigen Aufschwung materieller Interessen dringend nötig. Jedermann, der sich dazu bekannte, hatte in Sir Johns Augen Bedeutung, besonders dann, wenn er imstande war, zu helfen. Der »König von Sulaco« hatte ihn nicht enttäuscht. Die örtlichen Schwierigkeiten waren, ganz wie es der Chefingenieur vorausgesagt hatte, vor Charles Goulds Vermittlung gewichen. Sir John war in Sulaco sehr gefeiert worden, fast so sehr wie der Präsident-Diktator, eine Tatsache, die vielleicht die sichtlich böse Laune erklären konnte, die General Montero bei dem Mittagsmahl an Bord der Juno zur Schau trug, knapp vor der Abreise des Präsidenten-Diktators und der vornehmen ausländischen Gäste in seinem Gefolge.

Der Eccellentissimo (»Die Hoffnung der ehrlichen Leute«, wie ihn Don José in einer öffentlichen Rede namens der Provinzialversammlung von Sulaco angeredet hatte) saß am Kopfende des langen Tisches; Kapitän Mitchell, geradezu glotzäugig und purpurrot im Gesicht wegen der Feierlichkeit dieses »historischen Ereignisses«, nahm als Vertreter der O. S. N. Gesellschaft in Sulaco das Fußende des Tisches ein; zu beiden Seiten saßen ihm zunächst der Kapitän des Schiffes und einige kleinere Beamte der Regierung. Diese heiteren, dunkelfarbenen Herren warfen vergnügte Seitenblicke auf die Champagnerflaschen, die hinter dem Rücken der Gäste in den Händen der Schiffsstewards zu knallen begannen. Der bernsteinfarbene Wein schäumte bis zum Rande der Gläser.

Charles Gould hatte seinen Platz neben einem fremden Gesandten, der ihm in sorglosem Ton von Hetz- und Treibjagden erzählt hatte. Das wohlgenährte, blasse Gesicht, mit Einglas und hängendem, gelbem Schnurrbart, ließ im Gegensatz den Señor Administrador doppelt sonnverbrannt, noch flammender rot und hundertmal gespannter und schweigsamer lebendig erscheinen. Don José Avellanos saß an der Seite des andren ausländischen Diplomaten, eines dunklen Mannes von ruhig beobachtendem, selbstbewußtem Benehmen und deutlicher Zurückhaltung. Da für diesen Anlaß auf alle Etikette verzichtet worden war, so war General Montero der einzige in voller Uniform. Seine breite Brust schien durch einen Panzer aus Gold geschützt, so reich wirkte die Stickerei des Waffenrocks. Sir John hatte gleich zu Beginn seinen Platz am oberen Ende verlassen, um Frau Gould zur Nachbarin haben zu können.

Der große Finanzmann versuchte ihr seine Dankbarkeit für die Gastfreundschaft und die Anerkennung für ihres Gatten »ungeheuren Einfluß in diesem Landesteil« auszudrücken, als sie ihn durch ein leises »Still!« unterbrach. Der Präsident schickte sich zu einer kleinen Rede an.

Der Eccellentissimo hatte sich erhoben. Er sagte nur wenige Worte, die offenbar tief empfunden und vielleicht auch hauptsächlich für Avellanos – seinen alten Freund – bestimmt waren: über die Notwendigkeit, alle Kräfte aufzubieten, um dem Land zu dauernder Wohlfahrt zu verhelfen, das sich, wie er hoffte, nach diesem letzten Kampf zu immer reicherer Blüte entwickeln sollte.

Frau Gould hörte der weichen, etwas traurigen Stimme zu, betrachtete das runde, bebrillte Gesicht, den untersetzten, fast bis zur Bresthaftigkeit fetten Körper und bedachte dabei, daß dieser feinsinnige Mann, der, körperlich fast ein Krüppel, auf den Ruf seiner Mitbürger hin aus seiner stillen Zurückgezogenheit auf einem Schauplatz gefährlicher Kämpfe erschienen war – daß er also wohl ein Recht hatte, im Bewußtsein seines eigenen Opfers so zu sprechen. Und doch fühlte sie sich unbehaglich. Er gab mehr Gefühl als bindende Zusagen, dieser erste nicht militärische Staatsmann, den Costaguana je gekannt hatte, wie er nun, das Glas in der Hand, seine einfachen Worte von Ehrbarkeit, Frieden, Achtung vor dem Gesetz, politischer Überzeugungstreue im Auslande und daheim sprach – den Unterlagen nationaler Ehre.

Er setzte sich wieder. Während des achtungsvoll zustimmenden Gemurmels, das der Rede folgte, hob General Montero seine schweren, müden Augenlider und ließ seinen eigenartig stumpfen Blick über die Gesichter wandern. Der hinterwäldlerische Kriegsheld der Partei, obwohl insgeheim erschüttert von all dem Glanz und der Neuheit seiner Stellung (er war nie zuvor an Bord eines Schiffes gewesen und hatte das Meer höchstens von weitem gesehen), verstand gefühlsmäßig den Vorteil, den die mürrische, ungehobelte Art eines rauhen Kriegers ihm über all diese verfeinerten Blanco-Aristokraten gab. Aber warum sah ihn niemand an, fragte er sich ärgerlich. Er war sehr wohl imstande, Zeitungen zu lesen, und wußte, daß er die »größte kriegerische Heldentat der neueren Zeit« vollbracht hatte.

»Mein Gatte wünscht die Bahn«, sagte Frau Gould zu Sir John, inmitten des Gesummes der wiedererwachenden Gespräche. »Durch all dies wird die Zukunft nähergerückt, die wir für das Land ersehnen, für das Land, das, weiß Gott, lange genug in Schmerzen darauf gewartet hat. Aber ich will gestehen, daß ich neulich, als ich während einer nachmittägigen Spazierfahrt plötzlich einen Indianerjungen mit der roten Flagge einer Vermessungsabteilung aus dem Gehölz herausreiten sah, etwas wie einen Schlag empfand. Die Zukunft bedeutet Veränderung – völlige Veränderung. Und doch gibt es auch hier einfache und malerische Dinge, die man gerne erhalten sähe.«

Sir John hörte lächelnd zu. Doch nun war die Reihe an ihm, Frau Gould zum Schweigen zu mahnen.

»General Montero will reden«, flüsterte er und fügte unmittelbar in komischem Entsetzen hinzu: »Guter Gott! er will, scheint mir, gar meine Gesundheit ausbringen!«

General Montero hatte sich unter dem Rasseln seiner Säbelscheide und dem wilden Geglitzer seiner goldgestickten Brust erhoben; über dem Tischrand wurde die schwere Säbelkoppel an seiner Seite sichtbar; in seiner phantastischen Uniform, mit dem Stiernacken, der gegen das Ende abgeflachten Hakennase über dem blauschwarzen Schnurrbart, sah er wie ein verkleideter, finsterer Vaquero aus. Seine Stimme dröhnte merkwürdig ruhig und seelenlos. Er arbeitete sich stammelnd durch einige zusammenhanglose Sätze. Dann hob er plötzlich den großen Kopf zugleich mit der Stimme und schrie hinaus:

»Die Ehre des Landes liegt bei der Armee. Ich versichere Ihnen, daß ich ihr Treue halten werde.« Er zögerte, bis seine wandernden Augen auf Sir Johns Gesicht trafen, auf das er einen lauernden, schläfrigen Blick heftete. Die Ziffer der kürzlich festgelegten Anleihe schoß ihm durch den Kopf. Er hob sein Glas: »Ich trinke auf das Wohl des Mannes, der uns anderthalb Millionen Pfund bringt.«

Er goß seinen Champagner hinunter und setzte sich schwerfällig, mit einem halb überraschten, halb trotzigen Blick über all die Gesichter ringsum und inmitten eines tiefen, förmlich entsetzten Schweigens, das auf den so glücklich gewählten Trinkspruch folgte. Sir John regte sich nicht.

»Ich glaube nicht, daß ich verpflichtet bin, aufzustehen«, murmelte er Frau Gould zu. »Diese Geschichte spricht ja für sich selbst.« Aber Don José Avellanos kam mit einer kurzen Rede zu Hilfe, in der er Englands Wohlwollen gegen Costaguana ausdrücklich erwähnte – »ein Wohlwollen«, fuhr er bedeutsam fort, »von dem ich mit einiger Sachkenntnis sprechen darf, da ich ja seinerzeit bevollmächtigter Gesandter am Hofe von St. James war.«

Da erst hielt es Sir John für angemessen, zu antworten, und er tat es sehr liebenswürdig, in schlechtem Französisch, durch wiederholten Beifall und das »hört! hört!« von Kapitän Mitchell unterbrochen, der ab und zu ein Wort verstehen konnte. Sobald er geendet hatte, wandte sich der Eisenbahnmagnat Frau Gould zu:

»Sie hatten die Güte, mir anzukündigen, daß Sie etwas von mir verlangen wollten«, erinnerte er sie ritterlich. »Was ist es? Seien Sie überzeugt, daß ich jede Ihrer Bitten als Bevorzugung meiner Person betrachten würde.«

Sie dankte ihm mit einem strahlenden Lächeln. Die Tafel wurde aufgehoben.

»Gehen wir auf Deck«, schlug sie vor, »dort werde ich Ihnen mein Anliegen auseinandersetzen.«

Eine ungeheure Nationalflagge von Costaguana, mit roten und gelben Querstreifen und zwei grünen Palmen im Mittelfeld, wehte träge vom Großmasttopp der Juno. Rings um die Rundung des Hafenbeckens wurde zu Ehren des Präsidenten mit anhaltendem Knattern ein ungeheures Feuerwerk abgebrannt. Dann und wann zischte ein Bündel Raketen unsichtbar in die Höhe und zerknallte in der Luft, ohne daß sich an dem klaren Himmel mehr als ein kleines Rauchwölkchen zeigte. Zwischen dem Stadttor und dem Hafen konnte man Menschenhaufen sehen, unter dem Wald vielfarbiger Flaggen, die an hohen Masten wehten. Undeutliche Bruchstücke von Militärmusik klangen herüber und fernes Geschrei. Eine Gruppe zerlumpter Neger am Ende des Kais war eifrig beim Laden und Abfeuern einer kleinen eisernen Kanone. Ein blasser, staubiger Dunst hing wie ein regloser Schleier vor der Sonne.

Don Vincente Ribiera machte, auf den Arm des Señors Avellanos gelehnt, unter dem Sonnensegel einige Schritte: rings um ihn hatte sich ein weiter Kreis gebildet, und man konnte sehen, wie das leere Lächeln seiner dunklen Lippen und das blinde Glitzern seiner Brille liebenswürdig in die Runde wanderten. Die ungezwungene Veranstaltung, die dem Präsidenten-Diktator hatte die Gelegenheit geben sollen, mit einigen seiner hervorragendsten Anhänger in Sulaco in kleinem Kreise zusammenzutreffen, näherte sich ihrem Ende. Etwas abseits saß General Montero, der sein kahles Haupt nun mit einem federgeschmückten Dreispitz bedeckt hatte, in einem Stuhl, nahe dem Oberlicht; er hatte die Hände in mächtigen Stulphandschuhen über dem Korb seines Säbels gefaltet, der gerade zwischen seinen Knien emporstand. Der weiße Federbusch, die Kupferfarbe des breiten Gesichts, das Blauschwarz des Schnurrbarts unter dem krummen Schnabel, die Unmasse von Gold auf Ärmeln und Brust, die hohen, glänzenden Stiefel mit ungeheuren Sporen, die arbeitenden Nüstern, der dumm-hochmütige Blick des glorreichen Siegers von Rio Seco: – dies alles schuf ein beängstigendes und unglaubliches Bild; es hatte die Übertreibung einer grausamen Karikatur, die Einfalt eines feierlichen Mummenschanzes, die groteske Grausamkeit eines Kriegsgötzen, der, von Azteken ersonnen und von Europäern bekleidet, nun die Andacht der Gläubigen erwartete. Don José näherte sich mit gewinnendem Lächeln dem düsteren Mann, der wie das unerforschliche Schicksal thronte, und Frau Gould wandte endlich ihren gebannten Blick ab.

Als Charles Gould hinzutrat, um sich von Sir John zu verabschieden, hörte er ihn, während er sich über die Hand von Frau Gould beugte, sagen: »Gewiß. Selbstverständlich, meine liebe Frau Gould. Für einen ihrer Protegés! Nicht die geringste Schwierigkeit. Betrachten Sie es als geschehen.«

Während er im gleichen Boot mit den Goulds an Land zurückfuhr, war Don José Avellanos sehr schweigsam. Sogar im Wagen der Goulds sprach er lange Zeit kein Wort. Die Maultiere trotteten langsam vom Kai weg, zwischen den ausgestreckten Händen der Bettler, die für diesen Tag in geschlossenen Haufen die Kirchenportale verlassen zu haben schienen. Charles Gould saß auf dem Rücksitz und sah über die Ebene weg. Zahllose Buden aus grünen Zweigen, aus Binsen, aus Bretterresten mit Leinwandfetzen darüber, waren ringsum für den Verkauf von Zuckerrohr, Dulces, Früchten und Zigarren aufgeschlagen worden, über glimmenden Holzkohlenhäufchen kochten indianische Frauen, auf Matten kauernd, das Wasser für die Mate-Kürbisse, die sie mit demütig schmeichelnden Stimmen den Landleuten anboten; in rauchschwarzen irdenen Töpfen brodelte Essen für die Vaqueros. Eine Rennbahn war abgesteckt worden, und weit weg zur Linken drängte sich die Menge um einen hohen, schnell errichteten Bau, der wie eine hölzerne Zirkusbude mit kegeligem Grasdach aussah: von dorther klang das tiefe Schwirren der Harfensaiten, das scharfe Klimpern der Gitarren, getragen von dem dumpfen Dröhnen einer Indianertrommel, das in strengem Gleichmaß den schrillen Gesang der Tänzer durchpulste.

Charles Gould sagte unvermittelt:

»Das ganze Stück Land hier gehört nun der Eisenbahngesellschaft. Hier werden keine Volksfeste mehr abgehalten werden.«

Es betrübte Frau Gould, daran denken zu müssen. Sie benützte die Gelegenheit zu der Mitteilung, sie habe eben von Sir John das Versprechen erwirkt, das Haus des alten Giorgio Viola solle unberührt erhalten bleiben. Sie erklärte, sie habe es nie begreifen können, warum die Vermessungsingenieure überhaupt davon gesprochen hätten, das alte Haus niederzureißen. Es stand der geplanten Zweiglinie nach dem Hafen nicht im geringsten im Wege.

Sie ließ den Wagen vor der Türe halten, um dem alten Genuesen, der bloßhäuptig an den Wagenschlag trat, sofort die beruhigende Gewißheit zu geben. Sie sprach natürlich italienisch mit ihm, und er dankte ihr mit ruhiger Würde. Ein alter Garibaldiner wisse ihr von Herzen Dank dafür, daß sie das Dach über den Köpfen seiner Frau und seiner Kinder erhalten habe. Er sei nun zu alt, um noch länger zu wandern.

»Und ist es für immer, Signora?« fragte er.

»Für so lange, wie Sie es wollen.«

»Bene. Dann muß das Haus einen Namen haben. Bisher schien es nicht der Mühe wert.«

Er lächelte trübe, wobei um seine Augenwinkel eine Unmenge Runzeln zusammenliefen. »Ich will mich morgen daranmachen, den neuen Namen zu malen.«

»Und wie soll das Haus heißen, Giorgio?«

»Albergo d'Italia Una«, sagte der alte Garibaldiner und sah einen Augenblick lang zur Seite. »Mehr zum Andenken an die, die ihr Leben gelassen haben«, fügte er hinzu, »als wegen des Landes, das uns Soldaten der Freiheit durch die Schliche der verwünschten Piemontesenrasse von Königen und Ministern gestohlen worden ist.«

Frau Gould lächelte ein wenig, beugte sich vor und begann nach seiner Frau und den Kindern zu fragen. Er hatte sie an dem Tage in die Stadt geschickt. Die Gesundheit der Padrona war nun besser; vielen Dank der Signora für die Nachfrage.

Leute gingen zu zweit und zu dritt vorbei, ganze Haufen von Männern und Frauen, von trippelnden Kindern gefolgt. Ein Reiter auf silbergrauer Stute hielt ruhig im Schatten des Hauses an, nachdem er vor der Gesellschaft im Wagen, die ihm mit Lächeln und vertraulichem Nicken dankte, den Hut gezogen hatte. Der alte Viola, offenbar sehr erfreut über die eben gehörte Neuigkeit, unterbrach sich einen Augenblick, um ihm mitzuteilen, daß durch die Güte der englischen Signora das Haus gerettet war, solange er es zu behalten wünschte. Der andere hörte aufmerksam zu, gab aber keine Antwort.

Als der Wagen anfuhr, zog er abermals den Hut, einen grauen Sombrero mit Silberschnur und Quasten. Die grellen Farben eines mexikanischen Serape leuchteten vom Sattelknopf; die riesigen Silberknöpfe an der gestickten Lederjacke, die Reihen glitzernder Silberknöpfe am Saum der Reithose, das schneeweiße Leinen, eine Seidenschärpe mit gestickten Enden, der Silberbeschlag am Kopfgestell und Sattelzeug verkündeten deutlich genug die unerreichbare Prunkliebe des berühmten Capataz de Cargadores, eines mittelländischen Seemanns – der sich prächtiger trug, als es einem der reichen jungen Rancheros aus dem Campo selbst an hohen Festtagen beifallen konnte.

»Dies ist eine große Sache für mich!« murmelte der alte Giorgio und dachte dabei immer noch an das Haus, denn nun war er des Wechselns müde geworden. »Die Signora hat dem Engländer nur ein Wort gesagt.«

»Dem alten Engländer, der Geld genug hat, um eine Eisenbahn zu bezahlen? Er fährt in einer Stunde ab«, bemerkte Nostromo leichthin. »Buon viaggio also! Ich habe seinen Leichnam behütet, den ganzen Weg vom Entrada-Paß bis in die Ebene herunter und nach Sulaco herein, als wäre er mein eigener Vater gewesen.«

Der alte Giorgio wandte nur geistesabwesend den Kopf. Nostromo deutete dem Wagen der Goulds nach; der näherte sich dem grasüberwucherten Tor in der alten Stadtmauer, die dunkelgrün wie der Rand eines Dickichts dalag.

»Und ich bin ganz allein Nacht um Nacht mit meinem Revolver im Warenlager der Kompagnie gesessen und habe den Silberhaufen des andern Engländers dort bewacht wie mein Eigentum.«

Viola schien in Gedanken verloren. »Eine große Sache für mich«, wiederholte er nochmals, wie im Selbstgespräch.

»Das ist es«, stimmte der prachtliebende Capataz de Cargadores ruhig zu. »Höre, Alter – geh hinein und bring mir eine Zigarre, aber suche nicht in meinem Zimmer danach, dort findest du keine.«

Viola trat in das Café, kam sofort, immer noch in seinen Gedanken befangen, wieder heraus, reichte ihm eine Zigarre und murmelte dazu in seinen Schnurrbart: »Die Kinder werden größer – und Mädchen noch dazu! Mädchen!« Er schwieg mit einem Seufzer.

»Was, nur eine?« meinte Nostromo und spähte mit spaßiger Eindringlichkeit zu dem verträumten alten Mann hinunter. »Macht nichts«, fügte er dann nachlässig hinzu. »Eine genügt, bis eine andere gewünscht wird.«

Er brannte sie an und ließ das Streichholz aus gleichgültigen Fingern fallen. Giorgio Viola sah auf und sagte unvermittelt:

»Mein Sohn wäre nun genau so ein feiner junger Mann wie du, Giambattista, wäre er noch am Leben.«

»Was? Dein Sohn? Aber du hast recht, Padrone, wäre er mir gleich, dann wäre er ein Mann.«

Er wandte langsam sein Pferd, ritt im Schritt zwischen den Buden durch und hielt die Stute immer wieder an, wegen spielender Kinder oder Gruppen von Leuten aus dem Campo, die ihm bewundernd nachsahen. Die Leichterführer der Kompagnie grüßten ihn von weitem; und der vielbeneidete Capataz de Cargadores näherte sich inmitten erkennenden Gemurmels und ehrfürchtiger Grüße dem großen, zirkusartigen Bau. Das Gedränge wurde dichter, die Gitarren zirpten lauter; man sah noch andere Reiter, die reglos über den Köpfen der Menge ruhig rauchten; der Menschenhaufe wogte auf und ab vor den Türen des Hauses mit dem hohen Dach; von innen klang das Scharren und Stampfen von Füßen, im Takt mit dem scharfen schrillen Rhythmus der Tanzmusik, den das furchtbar anhaltende, hohle Dröhnen der großen Trommel unterstrich. Der barbarische und aufdringliche Lärm der großen Trommel, der eine Menge zum Irrsinn bringen kann und den auch Europäer kaum ohne ein merkwürdiges Gefühl hören können, schien Nostromo magisch anzuziehen, während ein Mann in verblichenem, zerrissenem Poncho, von allen Seiten angestoßen, neben seinem Steigbügel herging und »Seine Gnaden« demütig um Anstellung auf dem Ladekai bat. Er winselte und bot dem Señor Capataz seinen halben Tagelohn für das Vorrecht, in die ausgezeichnete Brüderschaft der Cargadores aufgenommen zu werden; die andere Hälfte würde ihm genügen, beteuerte er. Aber Kapitän Mitchells Rechte Hand – »unschätzbar für unsere Arbeit, völlig unbestechlicher Bursche« – sah nur prüfend auf den zerlumpten Mozo hinunter und schüttelte dann den Kopf, ohne in dem Getöse ringsum ein Wort zu sagen.

Der Mann blieb zurück; und ein wenig weiter mußte Nostromo nochmals anhalten. Aus den Türen der Tanzhalle tauchten Männer und Frauen auf, schwankend, schweißüberströmt, an allen Gliedern zitternd, um sich keuchend, mit stieren Augen und halboffenen Lippen, gegen die Wand des Gebäudes zu lehnen, aus dem immer noch das jagende Schwirren der Harfen und Gitarren klang, von rollendem Donner begleitet. Hunderte von Händen klatschten dort drin; Stimmen schrillten und klangen plötzlich gedämpft zu dem einstimmig gesungenen Kehrreim eines Liebesliedes zusammen, das hingehalten erstarb. Von irgendwo aus der Menge wurde eine rote Blume geworfen und traf, gut gezielt, die Wange des glänzenden Capataz.

Er fing sie geschickt auf, wandte aber zunächst den Kopf nicht. Als er sich schließlich herabließ, in die Runde zu blicken, hatte sich die Menge neben ihm geteilt, um einer hübschen Morenita den Weg freizugeben, die nun, das Haar von einem kleinen Goldkamm hochgehalten, durch den offenen Raum auf den Capataz zuschritt.

Ihr schneeweißes Hemdleibchen ließ die vollen Arme und den Hals bloß. Die ganze Weite des blauen Wollrocks war an der Vorderseite gerafft, so daß er an den Hüften anlag, über dem Rücken knapp spannte und jede ihrer aufreizenden Bewegungen beim Gehen verriet. Sie trat ganz nahe und legte die Hände auf den Hals der grauen Stute, mit einem schüchternen, koketten Aufblick aus dem Augenwinkel.

»Querido«, flüsterte sie schmeichelnd, »warum tust du, als sähest du mich nicht, wenn ich vorbeigehe?«

»Weil ich dich nicht mehr liebe«, sagte Nostromo nachdrücklich, nach einem Augenblick schweigender Überlegung.

Die Hand auf dem Hals der Stute begann zu zittern. Das Mädchen ließ den Kopf sinken vor all den Augen in dem weiten Kreise, der sich um den großmütigen, den furchtbaren, den unbeständigen Capataz de Cargadores und seine Morenita gebildet hatte. Nostromo sah hinunter und sah Tränen über ihr Gesicht laufen.

»Ist es also gekommen, Geliebter meines Herzens?« hauchte sie. »Ist es wahr?«

»Nein«, sagte Nostromo und blickte achtlos weg. »Es ist eine Lüge. Ich liebe dich so sehr wie je.«

»Ist das wahr?« schnurrte sie freudig, die Wangen noch von Tränen feucht.

»Es ist wahr.«

»Bei deinem Leben, wahr?«

»Ja, so wahr; aber du mußt nicht verlangen, daß ich es bei der Madonna schwöre, die in deinem Zimmer steht!« Und der Capataz erwiderte mit leichtem Lächeln das Grinsen der Menge.

Sie schmollte und sah dabei entzückend hübsch und etwas verlegen aus.

»Nein, das will ich nicht verlangen. Ich sehe Liebe in deinen Augen.« Sie legte ihre Hände auf seine Knie. »Warum zitterst du so? Aus Liebe?« fuhr sie fort, während das dumpfe Dröhnen der Trommel ohne Pause anhielt. »Aber wenn du sie so sehr liebst, dann mußt du deiner Paquita einen goldenen Rosenkranz für den Hals ihrer Madonna schenken.«

»Nein«, sagte Nostromo und sah gerade in ihre aufwärts gekehrten, bittenden Augen, die in plötzlicher Überraschung erstarrten.

»Nein? Was will mir denn dann Euer Gnaden schenken, am Tag der Fiesta«, fragte sie ärgerlich, »um mich nicht vor all diesen Leuten zu beschämen?«

»Es ist keine Schande für dich, wenn du auch einmal von deinem Liebhaber nichts bekommst.«

»Richtig! Die Schande ist bei Euer Gnaden – meinem armen Liebhaber«, gab sie mit bösem Spott zurück.

Lachen wurde laut über ihren Ärger und ihre Antwort. Was war sie doch für eine kecke Wildkatze! Die Leute, die der Szene beiwohnten, riefen andere aus der Menge hinzu. Der Kreis um die silbergraue Stute verengerte sich langsam.

Das Mädchen trat einen oder zwei Schritte zurück, trotzte den spöttischen, neugierigen Augen ringsum, sprang dann wieder bis zum Steigbügel vor, hob sich auf den Zehenspitzen und wandte Nostromo das wütende Gesicht mit den flammenden Augen zu. Er beugte sich aus dem Sattel tief zu ihr.

»Juan«, zischte sie, »ich könnte dir ein Messer ins Herz stoßen!«

Der gefürchtete Capataz de Cargadores, herrlich offenherzig in seinen Liebesgeschichten, schlang seinen Arm um ihren Hals und küßte ihre bebenden Lippen. Ein Murmeln erhob sich.

»Ein Messer!« gebot er, zu niemand im besondern gewandt, und hielt das Mädchen fest um die Schultern gefaßt.

Zwanzig Klingen blitzten gleichzeitig im Kreise auf. Ein junger Mann im Sonntagsgewand sprang vor, drückte eine davon in Nostromos Hand und trat eilig wieder in die Reihen zurück, sehr zufrieden mit sich selbst. Nostromo hatte ihn nicht einmal angesehen.

»Stelle dich auf meinen Fuß«, befahl er dem Mädchen, das sich, plötzlich unterwürfig, leicht hob. Als er sie, mit dem Arm um ihre Hüften und ihr Gesicht dem seinen ganz nahe, festhatte, da drückte er das Messer in ihre kleine Hand.

»Nein, Morenita! Du sollst mich nicht beschämen«, sagte er. »Du sollst dein Geschenk haben; und damit jedermann weiß, wer heute dein Liebhaber ist, kannst du alle Silberknöpfe von meinem Rock abschneiden.«

Lautes Gelächter und Beifall begrüßten diesen witzigen Ausweg, während das Mädchen mit der scharfen Klinge drauflos schnitt und der unbewegte Reiter in der hohlen Hand die ständig wachsende Zahl der Silberknöpfe sammelte. Als er Morenita wieder zu Boden ließ, waren ihre beiden Hände voll. Nachdem sie noch angestrengt mit ihm geflüstert hatte, ging sie mit hochmütigem Gesicht davon und verschwand in der Menge. Der Gafferkreis hatte sich verlaufen, und der stolze Capataz de Cargadores, der unentbehrliche, der erprobte, vertrauenswürdige Nostromo, der mittelländische Seemann, der seinerzeit ganz zufällig gelandet war, um sein Glück in Costaguana zu versuchen, Nostromo ritt langsam dem Hafen zu. Die Juno drehte eben auf; und gerade als Nostromo anhielt, um zuzusehen, ging auf einem in der Eile errichteten Flaggenmast in einem uralten, geschleiften kleinen Fort an der Hafeneinfahrt eine Flagge hoch. Man hatte aus den Kasernen von Sulaco in aller Eile eine halbe Feldbatterie hinübergeschafft, um dem Präsidenten-Diktator und dem Kriegsminister gebührend Salut schießen zu können. Während der Postdampfer auf die enge Hafeneinfahrt zuhielt, verkündeten die unregelmäßigen Salven das Ende von Don Vincente Ribieras erstem amtlichen Besuch in Sulaco und für Kapitän Mitchell das Ende eines weiteren »historischen Begebnisses«. Das nächste Mal sollte die »Hoffnung der ehrlichen Leute« anderthalb Jahre später des gleichen Weges kommen, aber nichtamtlich, über die Bergpfade, nach verlorener Schlacht, auf einem lahmen Maultier fliehend, um mit knapper Not von Nostromo vom Tode unter den Händen des Pöbels gerettet zu werden. Es war ein Ereignis von wesentlich anderer Art, und Kapitän Mitchell pflegte davon zu sagen:

»Geschichte, Herr – Geschichte! Und mein Bursche da, Nostromo, Sie wissen ja, mittendrin. Geradezu Geschichte gemacht, Herr!«

Doch dies Ereignis, bei dem Nostromo sich so auszeichnete, sollte unmittelbar zu einem Ende führen, das weder unter »Geschichte« noch unter »ein Fehler« in Kapitän Mitchells Wortschatz einzureihen war. Er hatte einen anderen Ausdruck dafür. »Herr«, pflegte er später zu sagen, »das war kein Fehler. Es war Verhängnis. Ein Mißgeschick, nichts weiter, Herr. Und mein armer Bursche da mittendrin – richtig mittendrin! Ein Verhängnis, wenn es je eins gegeben hat – und für mein Gefühl ist der Mann seither nie mehr der gleiche gewesen.«



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