Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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IX

Zwischen Zweifel und Hoffnung hin- und hergerissen, geängstigt durch den Klang der Glocken, die Pedro Monteros Ankunft einläuteten, hatte Sotillo den Vormittag im Kampf mit seinen Gedanken hingebracht; für diesen Kampf war er schlecht gerüstet, wegen der Leere seines Kopfes und der Heftigkeit seiner Leidenschaften. Enttäuschung, Gier, Ärger und Angst schufen in des Obersten Brust einen Aufruhr, der lauter war als das Glockengeläute in der Stadt. Keiner seiner Pläne war gelungen. Weder Sulaco noch das Silber der Mine waren in seine Hände gefallen. Er hatte keine militärische Tat vollbracht, die seine Stellung gesichert, und keine ungeheure Beute erlangt, mit der er hätte durchbrennen können. Pedrito Montero flößte ihm Furcht ein, als Freund wie als Feind. Das Glockengeläute machte ihn verrückt.

Da er im ersten Augenblick einen sofortigen Angriff vermutete, so hatte er sein Bataillon unter Waffen am Kai aufgestellt. Er durchmaß das Zimmer der Länge nach und blieb zeitweilig stehen, um an den Fingerspitzen der rechten Hand zu kauen, den trüben Blick zu Boden gerichtet. Dann nahm er mit einem jähen Rundblick voll Abwehr sein wütendes Trampeln wieder auf. Sein Hut, die Peitsche, der Säbel und der Revolver lagen auf dem Tisch. Seine Offiziere drängten sich an dem Fenster, das nach der Stadt zu ging, und stritten untereinander um den Gebrauch seines Feldstechers, den er im Vorjahr auf langfristigen Kredit bei Anzani gekauft hatte. Das Fernglas ging von Hand zu Hand, und der jeweilige Besitzer wurde mit aufgeregten Fragen bestürmt.

»Nichts. Es ist nichts zu sehen«, wiederholte er ungeduldig.

Es war nichts. Und nachdem die Abteilung aus dem Gebüsch nächst der Casa Viola auf das Gros zurückgenommen worden, war auf dem staubigen, dürren Landstrich zwischen der Stadt und dem Hafen nicht mehr das geringste Anzeichen von Leben zu entdecken. Spät am Nachmittag aber sah man einen Reiter aus dem Tor kommen und sich furchtlos nähern. Es war ein Bote von Señor Fuentes. Da er ganz allein war, ließ man ihn näher kommen. Er stieg am großen Tor ab, begrüßte die schweigsam Herumstehenden mit munterer Unverschämtheit und verlangte sofort zu dem muy valliente Obersten geführt zu werden.

Señor Fuentes hatte bei Antritt seines Amtes als Jefe Politico sein politisches Geschick darauf gerichtet, sowohl den Hafen wie die Mine in Besitz zu bekommen. Der Mann, den er zum Unterhändler mit Sotillo ausersehen hatte, war ein Notar, den die Revolution unter der Anklage der Dokumentenfälschung im Gefängnis betroffen hatte. Zugleich mit den andern »Opfern der Blancotyrannei« vom Pöbel befreit, hatte er sich beeilt, der neuen Regierung seine Dienste anzutragen.

Er machte sich mit dem Entschluß auf den Weg, Sotillo mit viel Eifer und Beredsamkeit dazu zu bewegen, allein zu einer Unterredung mit Pedrito Montero in die Stadt zu kommen. Nichts lag dem Obersten ferner. Der bloße Gedanke, sich in des berüchtigten Pedrito Hände zu geben, hatte ihm mehrfache Übelkeit verursacht. Es stand ganz außer Frage – es war Irrsinn. Und sich auf offene Feindschaft festzulegen, war ebenfalls Irrsinn. Es würde die zielbewußte Suche nach dem Schatz unmöglich machen, nach diesem Silberschatz, den er in nächster Nähe zu fühlen, zu wittern glaubte. Aber wo? Wo? Himmel! Wo? Ah! Warum hatte er den Doktor weggehen lassen! Esel, der er war! Doch nein! Es war der einzig richtige Weg, überlegte er bedrückt, während der wartende Bote unten lebhaft mit den Offizieren plauderte. Es lag in des Doktors eigenstem Interesse, mit stichhaltigen Nachrichten zurückzukehren. Doch wie, wenn ihn etwas aufhielt? Ein allgemeines Verbot, die Stadt zu verlassen, zum Beispiel! Sicher waren Patrouillen unterwegs!

Der Oberst preßte die Hände an den Kopf und schwankte im Gehen, wie von Schwindel befallen. Eine plötzliche Eingebung ließ ihn einen Ausweg finden, der europäischen Staatsmännern nicht unbekannt ist, wenn sie vor einer wichtigen Unterredung Zeit gewinnen wollen. Gestiefelt und gespornt kletterte er in unpassender Eile in die Hängematte. Sein hübsches Gesicht war gelb geworden vor schweren Sorgen. Der Rücken seiner wohlgeformten Nase trat scharf hervor; die kühnen Nüstern waren ängstlich verzerrt. Der samtige, schmeichelnde Blick seiner schönen Augen schien tot, geradezu verwest; denn die mandelförmig schmachtenden Augäpfel waren vor Schlaflosigkeit stark mit Blut unterlaufen. Er wandte sich mit erschöpfter, klangloser Stimme an den überraschten Sendboten Fuentes'. Die Stimme kam ergreifend unter dem Berg von Ponchos hervor, die den eleganten Obersten bis zu dem schwarzen Schnurrbart hinauf verbargen; und dieser Schnurrbart hing nun ungelockt herunter, als Anzeichen körperlichen Niederbruchs und geistiger Erschöpfung. Fieber, Fieber – ein schweres Fieber hatte den muy valliente Obersten befallen. Ein wilder Wechsel im Ausdruck, von den zeitweiligen Anfällen einer plötzlich aufgetretenen Kolik verursacht, und das Klappern der Zähne in unterdrückter Qual wirkten so echt, daß der Bote davon erschüttert wurde. Es schien ein böser Anfall. Der Oberst erklärte, er sei unfähig, zu denken, zu hören und zu sprechen. Mit offenbar übermenschlicher Anstrengung keuchte er hervor, sein Zustand erlaube es ihm nicht, auf die Befehle Seiner Exzellenz geziemend zu antworten oder sie auszuführen. Morgen aber! Morgen! Ah! Morgen! – Seine Exzellenz Don Pedrito möge unbesorgt sein. Das tapfere Esmeralda-Regiment halte den Hafen, halte . . . Und dabei schloß er die Augen und rollte den schmerzenden Kopf wie ein halbirrer Fieberkranker, unter dem forschenden Blick des Boten, der sich tief über die Hängematte beugen mußte, um die abgerissenen Schmerzensschreie zu verstehen. Unterdessen, hoffte Oberst Sotillo, würde Seiner Exzellenz Menschlichkeit dem englischen Doktor erlauben, mit seinem Kasten voll ausländischer Arzneien aus der Stadt herauszukommen, um nach dem Obersten zu sehen. Er bitte Seine Gnaden den Caballero inständig um die Gefälligkeit, im Vorübergehen in der Casa Gould vorzusprechen und den englischen Doktor, den er wahrscheinlich dort finden werde, zu verständigen, daß der an Fieber im Zollamt daniederliegende Oberst Sotillo seine Dienste dringend brauche. Dringend. Ohne jeden Aufschub. Mit äußerster Ungeduld darauf warte. Tausend Dank. Er schloß müde die Augen und schlug sie nicht wieder auf, lag reglos da, stumm, taub, gefühllos, überwältigt, erschöpft, zerschmettert, vernichtet von seiner Krankheit.

Sobald aber der andere die Türe hinter sich geschlossen hatte, sprang der Oberst mit beiden Füßen inmitten einer Lawine wollener Decken auf. Da sich seine Sporen in den vielen Ponchos verfangen hatten, so überschlug er sich beinahe und fand erst in der Mitte des Zimmers sein Gleichgewicht wieder. Hinter den halbgeschlossenen Läden verborgen, horchte er auf das, was unten vorging.

Der Bote war schon aufgesessen, wandte sich nun zu den Offizieren, die mürrisch im Torweg lehnten, und zog feierlich den Hut.

»Caballeros«, sagte er sehr laut, »erlauben Sie mir den Rat, sorgfältig auf Ihren Obersten zu achten. Es war mir eine große Ehre und Freude, Sie alle gesehen zu haben, eine tapfere Schar von Männern, die die soldatische Tugend der Geduld üben, in dieser schlimmen Lage, wo es soviel Sonne und kaum Wasser gibt, während die Stadt, voll Wein und weiblicher Reize, bereit ist, Sie alle liebreich an die Brust zu nehmen. Caballeros, ich habe die Ehre, Sie zu grüßen. Heute nacht wird in Sulaco viel getanzt werden. Leben Sie wohl!«

Er verhielt sein Pferd und neigte den Kopf, als er den alten Major, sehr lang und mager, vortreten sah; in einem geradegeschnittenen, engen Rock, der ihm bis zu den Knöcheln niederfiel, sah er wie die um den Stock gerollte Regimentsfahne aus.

Der geistreiche alte Krieger äußerte in rätselhaftem Ton die allgemeine Behauptung, »die Welt sei voller Verräter«, und fuhr dann mit einer überlegten Lobrede auf Sotillo fort. Er schrieb ihm mit feierlichem Nachdruck alle erdenklichen Tugenden zu und schloß mit einer Redensart, die in den niederen Schichten des Westens (besonders in Esmeralda) gebräuchlich ist: »Und ein Mann mit vielen Zähnen – hombre de muchos dientes. Si, Señor. In uns aber«, fuhr er mit feierlichem Nachdruck fort, »in uns sehen Euer Ehren das ausgezeichnetste Offizierkorps der Republik; Männer ohnegleichen an Mut und Weisheit, y hombres de muchos dientes

»Was? Sie alle?« fragte Señor Fuentes' wenig achtbarer Bote, mit leise spöttischem Lächeln.

»Todos. Si, Señor!« bestätigte der Major überzeugt. »Männer mit vielen Zähnen.«

Der andre wandte sein Pferd zu dem Torweg zurück, der dem Einfahrtstor einer schmucklosen Scheune glich. Er hob sich in den Steigbügeln und streckte den Arm aus. Er war ein witziger Schuft und nährte für diese dummen Westler die tiefe Geringschätzung, wie sie bei einem Mann aus den Mittelprovinzen natürlich war. Besonders die Narreteien der Leute von Esmeralda erregten seine belustigte Verachtung. Er begann eine Rede auf Pedro Montero und wahrte dabei feierliche Haltung. Er schwenkte die Hände, als wollte er ihn den Offizieren vorstellen. Und als er alle Gesichter gespannt, alle Augen auf sich gerichtet sah, ging er dazu über, mit lauter Stimme einen Katalog der Vollkommenheiten aufzusagen: »Großmütig, tapfer, liebenswürdig, unergründlich« – (er riß begeistert den Hut herunter) –, »ein Staatsmann, ein unbesieglicher Freischärler . . .«, er senkte überraschend die Stimme bis zu hohlem Flüstern: »und ein Zahnarzt!«

In einem Nu war er in scharfer Gangart davon. Der enge Schluß seiner Beine, die auswärtsgedrehten Fersen, der steife Rücken, der frech aufgesetzte Sombrero über den eckigen, unbeweglichen Schultern drückten eine ungeheure, furchterregende Unverschämtheit aus.

Sotillo, oben hinter den Läden, regte sich lange nicht. Die Kühnheit des Menschen bestürzte ihn. Was sagten seine Offiziere dort unten? Sie sagten nichts. Völliges Schweigen. Er bebte. Die Expedition verlief anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Er hatte sich triumphieren sehen, unbehelligt, umschmeichelt, als Abgott der Soldaten, mit geheimer Befriedigung vor die erfreuliche Wahl zwischen Macht und Reichtum gestellt. O weh! Wie anders! Verwirrt, ratlos, mit gebundenen Händen, in kochender Wut oder in eisigem Schrecken fühlte er, wie ein Grauen, bodenlos wie die See, von allen Seiten auf ihn eindrängte. Dieser Schuft von einem Doktor mußte mit einem Bescheid herauskommen, das war klar. Ihm allein konnte das Wissen nicht viel nützen. Er konnte nichts damit anfangen. Verflucht! Der Doktor würde nie kommen. Er war wohl schon verhaftet, mit Don Carlos eingesperrt. Er lachte wie irr auf. Ha! Ha! Ha! So würde also Pedro Montero die Nachricht bekommen. Ha! Ha! Ha! Ha! Und das Silber! Ha!

Plötzlich, mitten in seinem Gelächter, erstarrte er, schweigend, wie versteinert. Auch er hatte einen Gefangenen, einen Gefangenen, der die volle Wahrheit wissen mußte. Man mußte ihn zum Sprechen bringen. Und Sotillo, der die ganze Zeit über Hirsch vergessen hatte, fühlte einen unerklärlichen Widerwillen bei dem Gedanken, zum Äußersten zu schreiten.

Er fühlte einen Widerwillen – als Teil des unbesiegbaren Grauens, das von allen Seiten auf ihn zukroch. Er erinnerte sich mit Widerstreben der aufgerissenen Augen des Häutehändlers, seiner Verrenkungen, seines lauten Schluchzens und Wehklagens. Das war nicht Mitleid oder nervöse Schwäche. Die Sache war vielmehr die, daß Sotillo zwar keinen Augenblick lang die Geschichte glaubte – er konnte sie nicht glauben; niemand konnte solchen Unsinn glauben –, daß ihm aber doch diese Töne wahrster Verzweiflung einen peinlichen Eindruck machten. Ihm wurde übel dabei, und er hatte auch den Verdacht, der Mann könnte vor Angst verrückt geworden sein. Mit einem Irren ist nichts zu machen. Bah! Ein Vorwand. Nichts als ein Vorwand. Er würde damit schon fertig zu werden wissen.

Er arbeitete sich selbst in die richtige Wildheit hinein. Seine schönen Augen schielten leicht; er klatschte in die Hände. Eine bloßfüßige Ordonnanz erschien lautlos; ein Korporal, mit dem Bajonett an der Seite und dem Stock in der Hand.

Der Oberst gab seine Befehle, und gleich darauf wurde der unglückliche Hirsch von mehreren Soldaten ins Zimmer gestoßen; Sotillo saß mit furchtbarem Stirnrunzeln in dem breiten Lehnstuhl, den Hut auf dem Kopf, die Knie weit gespreizt, die Arme verschränkt, herrisch, drohend, unwiderstehlich, hoheitsvoll, erhaben, grauenhaft.

Hirsch war mit hinter dem Rücken gebundenen Armen roh in einen der Nebenräume geworfen worden. Viele Stunden war er scheinbar vergessen, wie leblos auf dem Boden gelegen. Aus dieser Einsamkeit voll Verzweiflung und Grauen war er gewaltsam, mit Schlägen und Stößen, herausgerissen worden und hatte sich nicht gewehrt, als wäre er verblödet. Er hörte Drohungen und Ermahnungen an und gab die gewohnten Antworten auf Fragen, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Hände hinter dem Rücken gebunden, leicht schwankend vor Sotillo und ohne aufzusehen. Als man ihm eine Bajonettspitze unter das Kinn hielt und ihn zwang, den Kopf zu heben, zeigten seine Augen einen leeren, geistesabwesenden Blick, und man sah erbsengroße Schweißtropfen über den Schmutz, die blauen Flecken und die Schrammen in seinem weißen Gesicht niederlaufen. Dann hörte der Schweißausbruch plötzlich auf.

Sotillo sah den Kaufmann schweigend an. »Wirst du jetzt deinen Starrsinn aufgeben, du Schuft?« fragte er. Schon war ein Lasso, dessen eines Ende an Señor Hirschs Handgelenke gebunden war, über einen Deckenbalken geworfen worden, und drei Soldaten hielten wartend das andere Ende. Hirsch gab keine Antwort. Seine schwere Unterlippe hing blöde herunter. Sotillo gab ein Zeichen. Hirsch wurde mit einem Ruck hochgerissen, und ein Schrei der Verzweiflung und Todesangst durchhallte den Raum, erfüllte alle Gänge des großen Gebäudes, zerriß die Luft außerhalb, ließ jeden Soldaten im Biwak längs des Ufers zu den Fenstern aufblicken, brachte einige Offiziere in der Halle mit glitzernden Augen zu aufgeregtem Schnattern; andere preßten die Lippen zusammen und sahen düster zu Boden.

Sotillo, von den Soldaten gefolgt, hatte den Raum verlassen. Die Schildwache im Flur präsentierte das Gewehr. Hirsch, ganz allein hinter den halbgeschlossenen Läden, fuhr fort zu schreien, während das Sonnenlicht, vom Wasser des Hafens widergespiegelt, tanzende Kringel hoch an die Wand warf. Er schrie mit hochgezogenen Augenbrauen und weit offenem Mund – einem unglaublich weit offenen, schwarzen Mund voller Zähne – komisch.

Durch die stille, brütende Luft des windstillen Nachmittags schickte er die Wellen seiner Qual bis zum Gebäude der O. S. N.Gesellschaft hinüber. Kapitän Mitchell war auf den Balkon getreten, um ganz allgemein nachzusehen, was vorging, hatte den Schrei schwach, aber deutlich gehört und den furchtbaren Laut im Ohr behalten, nachdem er sich mit jäh erbleichten Wangen ins Zimmer zurückgezogen hatte. Er war an diesem Nachmittag mehrmals vom Balkon vertrieben worden.

Sotillo, reizbar, düster, ging rastlos herum, beriet sich mit seinen Offizieren und gab widersprechende Befehle, während das schrille Kreischen das ganze leere Gebäude durchschallte. Manchmal gab es lange, grausige Pausen. Mehrmals war Sotillo in die Folterkammer eingetreten, wo sein Säbel, seine Reitpeitsche, sein Revolver und Feldstecher auf dem Tisch lagen, und hatte mit erzwungener Ruhe gefragt: »Wirst du jetzt die Wahrheit sagen? Nein? Ich kann warten.« Aber er brachte es nicht fertig, noch viel länger zu warten. Das war es eben. Jedesmal, wenn er hineinging und, die Türe zuschlagend, wieder herauskam, präsentierte der Posten auf dem Flur das Gewehr und bekam als Antwort einen scharfen, giftigen, unsteten Blick, der in Wahrheit gar nichts sah, sondern nur die Seele dahinter widerspiegelte – eine Seele voll schwarzen Hasses, voll Unentschlossenheit, Gier und Wut.

Die Sonne war untergegangen, als er nochmals hineinging. Ein Soldat brachte zwei brennende Kerzen nach, schlich sich wieder hinaus und schloß lautlos die Türe.

»Sprich, du Teufelssohn! Das Silber, das Silber, sage ich! Wo ist es? Wo habt ihr ausländischen Schufte es verborgen? Gesteh, oder . . .«

Ein leichtes Zittern lief von den verrenkten Händen an dem angespannten Lasso entlang; der Körper des Señors Hirsch aber, des unternehmenden Geschäftsmannes aus Esmeralda, hing lotrecht und still unter dem schweren Balken und sah den Obersten schaurig an. Die hereinströmende Nachtluft, vom Schnee der Sierra gekühlt, brachte allmählich eine köstliche Frische in die stickige Hitze des Zimmers.

»Sprich – Dieb – Schuft – Picaro – oder . . .«

Sotillo hatte die Reitpeitsche gepackt und stand mit erhobenem Arm da. Für ein Wort, für ein kleines Wort wäre er niedergekniet, wäre gekrochen, hätte sich auf dem Boden gewunden vor dem wie verträumten, wissenden Blick der starren Augenbälle, die aus dem entstellten Kopf mit dem verzerrten Mund quollen. Der Oberst knirschte vor Wut mit den Zähnen und schlug zu. Der Lasso schwankte leise von dem Hieb, wie die lange Schnur eines Pendels, das in Schwingung versetzt wird. Dem Körper des Señors Hirsch aber, des an der Küste so wohlbekannten Häutehändlers, teilte sich die Schwingung nicht mit. Mit einer krampfhaften Anstrengung der verrenkten Arme hob er sich um ein paar Zentimeter und krümmte sich dabei wie ein Fisch an der Angel. Señor Hirsch warf mit gespannter Kehle den Kopf zurück, sein Kinn zitterte. Einen Augenblick lang erfüllte das Klappern seiner Zähne den weiten, dämmerigen Raum, wo die beiden nebeneinander brennenden Kerzenflammen eine kleine Lichtinsel schufen. Und während Sotillo mit erhobener Hand wartete, daß er sprechen sollte, zuckte über des andern Gesicht ein jähes Grinsen. Er warf die verrenkten Schultern vor und spie dem Obersten wütend ins Gesicht.

Die erhobene Peitsche fiel zu Boden, und der Oberst sprang mit einem leisen Schreckensruf zurück, als hätte ihn ein Strahl tödlichen Giftes getroffen. Schnell wie der Gedanke griff er seinen Revolver auf und schoß zweimal. Der Knall und der Rückschlag der beiden Schüsse schienen ihn unmittelbar aus maßloser Wut in blöde Erstarrung zu werfen. Er stand mit hängender Kinnlade und versteinertem Blick da. Was hatte er getan, Sangre de Dios! Was hatte er getan? Er war tief bestürzt über seine jähe Handlung; er hatte die Lippen für immer versiegelt, denen doch soviel hätte erpreßt werden sollen! Was konnte er sagen? Wie konnte er es erklären? Gedanken an blinde Flucht, irgendwohin, ganz gleich wohin, schossen ihm durch den Kopf. Sogar der verrückte und sinnlose Wunsch, sich unter dem Tisch zu verstecken, drängte sich seiner Feigheit auf. Es war zu spät; seine Offiziere waren lärmend ins Zimmer gestürzt, unter mächtigem Säbelklappern, und schrien nun bestürzt und verwundert auf ihn ein. Da sie aber nicht sofort dazu übergingen, ihm die Säbel in die Brust zu stoßen, so kam seine Frechheit obenauf. Er strich sich mit dem Rockärmel übers Gesicht und riß sich zusammen. Sein trotziger Blick wanderte da- und dorthin und dämpfte überall, wohin er traf, den Lärm; der steife Körper des seligen Señors Hirsch aber, des Kaufmanns, machte nach leisem Schwanken eine halbe Drehung und kam inmitten leisen Murmelns und verlegenen Füßescharrens zur Ruhe.

Eine Stimme sagte laut: »Das ist also ein Mann, der nie wieder sprechen wird«, und eine andre, aus der letzten Reihe der Gesichter ringsum, fragte verlegen und eindringlich:

»Warum haben Sie ihn getötet, mi coronel?«

»Weil er alles gestanden hat«, gab Sotillo mit dem Mut der Verzweiflung zurück. Er fühlte sich in die Ecke gedrückt. Nun bot er ihnen, auf seinen Ruf pochend, mit ziemlichem Erfolg die Stirn. Seine Zuhörer hielten ihn sehr wohl einer solchen Handlung für fähig. Sie waren geneigt, seine erfreuliche Geschichte zu glauben. Keine Leichtgläubigkeit ist so schnell bereit und verblendet wie die der Habgier, die den sittlichen und geistigen Tiefstand der Menschheit in sich schließt. Ah! Er hatte alles gestanden, dieser Verschwörer, dieser Bribon! Gut! Dann brauchte man ihn nicht länger mehr. Man hörte ein dumpfes Wiehern von dem alten Hauptmann – einem Menschen mit großem Kopf, kleinen, runden Augen und ungeheuer fetten Wangen, die sich nie bewegten. Der alte Major, lang, dünn und phantastisch zerlumpt wie eine Vogelscheuche, ging um den Leichnam des Señors Hirsch herum und murmelte mit düsterer Befriedigung vor sich hin, daß man so keine weitere Verräterei von diesem Schuft zu befürchten habe. Die andern gafften, traten von einem Fuß auf den andern und flüsterten einander kurze Bemerkungen zu.

Sotillo schnallte den Säbel um und gab kurze, schroffe Befehle, den Abzug zu beschleunigen, der am Nachmittag beschlossen worden war. Finster und drohend, den Sombrero tief in die Augen gezogen, ging er als erster zur Türe hinaus, so verwirrt, daß er es völlig vergaß, für den Fall von Doktor Monyghams Rückkehr Vorsorge zu treffen. Während die Offiziere hinter ihm drein drängten, sahen nur ein oder zwei von ihnen hastig über die Schulter nach dem verstorbenen Hirsch zurück, dem Häutehändler aus Esmeralda, der neben den zwei brennenden Kerzen allmählich ausschwang. In dem leeren Raum wirkte der klobige Schatten von Kopf und Schultern an der Wand wie belebt.

Unten trat die Truppe in tiefem Schweigen an und marschierte ohne Trommel und Trompete ab. Die alte Vogelscheuche von Major befehligte die Nachhut; die Abteilung aber, die er mit dem Befehl zurückließ, das Zollamt in Brand zu stecken (und »den Kadaver des verfluchten Verräters, so wie er hing, zu verbrennen«), brachte in der Eile das Stiegenhaus nicht richtig zum Brennen. Der Leib des toten Hirsch blieb eine Zeitlang allein in der trostlosen Einsamkeit des unfertigen Gebäudes, das unheimlich vom plötzlichen Schlagen und Klappern der Türen und Läden widerhallte, von Rascheln wehenden Papiers und den langgezogenen Seufzern, die jeder Windstoß unter dem hohen First weckte. Das Licht der zwei Kerzen, die neben der lotrechten, atemlosen Unbeweglichkeit des toten Señors Hirsch brannten, warf einen Schein weit über Land und Wasser, wie ein nächtliches Signal. Señor Hirsch blieb da, um Nostromo durch seine Gegenwart und den Doktor Monygham durch das Geheimnis seines grauenvollen Endes zu erschrecken.

»Aber warum erschossen?« fragte sich der Doktor nochmals halblaut. Diesmal antwortete ihm ein trockenes Auflachen Nostromos:

»Sie scheinen sehr betroffen von einer sehr natürlichen Sache, Señor Doctor. Ich möchte wissen, warum? Es ist recht wahrscheinlich, daß wir alle bald erschossen werden, einer nach dem andern, wenn nicht von Sotillo, dann von Pedrito oder Fuentes oder Gamacho. Und vielleicht bekommen wir auch die Estrapade oder Schlimmeres – quien sabe? –, mit Ihrer netten Geschichte von dem Silber, die Sie Sotillo in den Kopf gesetzt haben.«

»Er hatte sie schon im Kopf«, widersprach der Doktor. »Ich habe nur . . .«

»Ja. Sie haben sie dort nur festgenagelt, so daß der Teufel selbst . . .«

»Eben das war meine Absicht«, fiel der Doktor ein.

»Das war Ihre Absicht. Bueno. Es ist, wie ich sage. Sie sind ein gefährlicher Mann.«

Ihre Stimmen, die, ohne sich zu erheben, zänkisch geworden waren, verstummten plötzlich. Der tote Señor Hirsch hob sich gerade und schattenhaft gegen das Sternenlicht ab und schien aufmerksam, in unparteiischem Schweigen, zu warten.

Aber Doktor Monygham dachte nicht daran, mit Nostromo zu streiten. In diesem für Sulacos Geschick äußerst kritischen Augenblick kam es ihm endlich zum Bewußtsein, daß dieser Mann wirklich unentbehrlich war, noch unentbehrlicher, als sogar Kapitän Mitchells, seines stolzen Entdeckers, Vorliebe hätte glauben mögen; und noch weit unentbehrlicher, als Decoud es gemeint hätte, während er noch in seiner berühmten Art über seinen »ausgezeichneten Freund, den einzigen Capataz de Cargadores« spottete. Der Bursche war wirklich einzig. Er war nicht nur »einer unter tausend« – er war ganz und gar der Einzige. Der Doktor erhob sich. Dieser Genueser Seemann hatte einen Funken von Genie in sich, wovon das Schicksal großer Unternehmungen und vieler Menschen abhing, das Geschick von Carlos Gould, das Geschick einer wunderbaren Frau. Bei diesem Gedanken mußte sich der Doktor räuspern, bevor er weitersprechen konnte.

In völlig verändertem Ton wies er den Capataz darauf hin, daß, zunächst einmal, er persönlich keine große Gefahr liefe. Alle hielten ihn für tot. Das sei ein gewaltiger Vorteil. Er habe sich nur in der Casa Viola versteckt zu halten, wo, wie man wußte, der alte Garibaldiner mit seiner toten Frau allein war. Die Dienstboten seien alle davongelaufen. Niemand würde daran denken, ihn dort zu suchen – anderswo auch nicht, übrigens.

»Das könnte stimmen«, sagte Nostromo bitter, »wenn ich Sie nicht getroffen hätte.«

Der Doktor schwieg eine Weile. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie fürchten, ich könnte Sie verraten?« fragte er mit schwankender Stimme. »Warum? Warum sollte ich das tun?«

»Was weiß ich? Warum nicht? Um einen Tag zu gewinnen, vielleicht. Sotillo würde einen Tag brauchen, um mir die Estrapade zu geben und vielleicht sonst noch einiges zu versuchen, bevor er mir eine Kugel durchs Herz schießt – wie er es dem armen Teufel hier getan hat. Warum nicht?«

Der Doktor schluckte schwer. Seine Kehle war im Augenblick wie ausgedörrt. Nicht aus Entrüstung. Der Doktor, empfindsam genug, glaubte das Recht verwirkt zu haben, sich, über wen oder was es auch sei, zu entrüsten. Es war glatte Angst. Hatte der Bursche durch bösen Zufall seine Geschichte gehört? Wenn ja, dann hörte er auf, in der bisherigen Art brauchbar zu sein. Der unentbehrliche Mann entzog sich des Doktors Einfluß, wegen eben des unauslöschlichen Makels, der den Doktor zu schmutziger Arbeit befähigt hatte. Eine leise Übelkeit kam ihn an. Er hätte alles darum gegeben, Genaues zu wissen, wagte aber der Sache nicht auf den Grund zu gehen. Das Übermaß seiner Ergebenheit, durch Selbsterniedrigung verstärkt, verhärtete ihn in Trauer und Mißachtung.

»Warum nicht, wirklich?« wiederholte er bissig. »Dann ist es ja das sicherste für Sie, mich hier auf dem Fleck zu töten. Ich würde mich verteidigen. Aber Sie mögen ebensogut gleich wissen, daß ich unbewaffnet herumgehe.«

»Por Dios«, sagte der Capataz leidenschaftlich. »Ihr feinen Leute seid alle gleich. Alle gefährlich, alle Verräter der Armen, die eure Hunde sind.«

»Sie verstehen nicht«, begann der Doktor langsam.

»Ich verstehe euch alle!« schrie der andre mit einer heftigen Bewegung, die für des Doktors Augen so schattenhaft blieb wie die hartnäckige Unbeweglichkeit des toten Señors Hirsch. »Bei euch muß ein armer Mann auf sich selbst bedacht sein. Ich sage, daß ihr euch nicht um die kümmert, die euch dienen. Sehen Sie mich an! Nach all diesen Jahren finde ich mich plötzlich hier, wie einer der Köter, die dort draußen kläffen – ohne eine Hundehütte oder einen dürren Knochen für meine Zähne. Caramba!« Aber er lenkte geringschätzig ein, wohl um nicht unbillig zu scheinen. »Natürlich«, fuhr er ruhig fort, »nehme ich nicht an, daß Sie nun hinlaufen werden, um mich zum Beispiel an Sotillo zu verraten. Das ist es nicht. Daß ich gar nichts bin – das ist es! Plötzlich«, er wies heftig mit der Hand zu Boden – »gar nichts, für niemand«, wiederholte er.

Der Doktor atmete freier. »Hören Sie, Capataz«, sagte er und streckte beinahe zärtlich den Arm nach Nostromo aus. »Ich will Ihnen etwas sehr Einfaches sagen. Sie sind in Sicherheit, weil man Sie braucht. Ich würde Sie aus keinem denkbaren Grund verraten, weil ich Sie brauche!«

Nostromo biß sich im Dunkeln auf die Lippen. Er hatte genug davon gehört. Er wußte, wo es hinaussollte. Nichts mehr davon für ihn. Aber er mußte nun auf sich selbst bedacht sein, sagte er sich und überlegte auch, daß es unklug wäre, im Zorn von seinem Begleiter zu scheiden. Der Doktor war als großer Heilkünstler bekannt, stand aber auch unter dem niedrigen Volk von Sulaco im Ruf, ein böser Mensch zu sein. Dieser Ruf gründete sich auf seine persönliche Erscheinung, die ja eigenartig genug war, und auf sein griesgrämiges, spöttisches Gehaben – sichtbare, fühlbare, unwiderlegliche Beweise für des Doktors böse Gemütsart. Und Nostromo gehörte zum Volke. Darum grunzte er nur ungläubig.

»Sie sind, offen gesagt, der einzige Mann«, fuhr der Doktor fort. »Es liegt bei Ihnen, diese Stadt zu retten und . . .«

»Nein, Señor!« sagte Nostromo bockig. »Es ist nicht in meiner Macht, den Schatz zurückzubringen, damit Sie ihn Sotillo oder Pedrito oder Gamacho ausliefern können. Was weiß ich?«

»Niemand erwartet das Unmögliche«, war die Antwort.

»Sie haben es selbst gesagt – niemand!« murmelte Nostromo mit finsterer Drohung.

Doktor Monygham aber, voll Hoffnung, beachtete weder die rätselhaften Worte noch den drohenden Ton. Ihre Augen hatten sich nun an die Dunkelheit gewöhnt, und der tote Señor Hirsch erschien ihnen deutlicher und näher. Der Doktor dämpfte die Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden, während er seinen Plan auseinandersetzte.

Er zog den unentbehrlichen Mann rückhaltlos ins Vertrauen. Die Schmeicheleien und die Andeutung großer Gefahren klangen dem Capataz vertraut. Unentschlossen und unzufrieden, erkannte er sie bitter an. Er verstand es gut, daß es dem Doktor am Herzen lag, die San Tomé-Mine vor der Vernichtung zu retten. Ohne die Mine war ja der Doktor nichts. Es war sein Interesse. Genau, wie es das Interesse des Señors Decoud, der Blancos und Europäer gewesen war, seine Cargadores auf ihre Seite zu bringen. Seine Gedanken machten bei Decoud halt. Was würde aus dem werden?

Nostromos langes Schweigen war dem Doktor unbehaglich. Er wies, ganz unnötig, darauf hin, daß Nostromo zwar für den Augenblick sicher sei, aber doch nicht immer versteckt werde leben können. Er habe also nur die Wahl, die Sendung zu Barrios mit all ihren Gefahren und Schwierigkeiten anzunehmen oder Sulaco heimlich, ruhmlos und arm zu verlassen.

»Keiner Ihrer Freunde könnte Sie gerade jetzt belohnen oder schützen, Capataz. Nicht einmal Don Carlos selbst.«

»Ich will nichts von eurem Schutz und nichts von eurem Lohn. Ich wollte nur, ich könnte eurem Mut und eurem gesunden Menschenverstand vertrauen. Wenn ich im Triumph, wie Sie sagen, mit Barrios zurückkehre, so finde ich vielleicht euch alle vernichtet. Ihr habt jetzt schon das Messer an der Gurgel.«

Nun war die Reihe am Doktor, schweigend zu verharren, in der Betrachtung so furchtbarer Möglichkeiten.

»Nun, wir wollen Ihrem Mut und Ihrem gesunden Menschenverstand vertrauen. Und auch Sie haben ja ein Messer an der Kehle.«

»Ah! Und wem habe ich dafür zu danken? Was sind mir eure Politik und eure Minen – euer Silber und eure Verfassung – euer Don Carlos dies und Don José das . . .«

»Ich weiß es nicht«, brach der Doktor verzweifelt los. »Es sind unschuldige Leute in Gefahr, deren kleiner Finger mehr wert ist als Sie oder ich und alle Ribieristen zusammen. Ich weiß es nicht. Sie hätten sich selbst fragen müssen, bevor Sie sich von Decoud in all das hineinziehen ließen. Damals wäre es Ihre Pflicht gewesen, als ein Mann zu denken. Haben Sie aber damals nicht gedacht, so versuchen Sie jetzt, als Mann zu handeln. Sie haben sich vielleicht vorgestellt, daß es Decoud gekümmert hätte, was aus Ihnen würde?«

»Nicht mehr, als es Sie kümmert, was aus mir wird«, murmelte der andre.

»Nein, ich kümmere mich so wenig um das, was Ihnen geschieht, wie um das, was mir geschieht.«

»Und das alles, weil Sie ein so überzeugter Ribierist sind?« meinte Nostromo ungläubig.

»Alles, weil ich ein so überzeugter Ribierist bin«, wiederholte Doktor Monygham grimmig.

Wieder schwieg Nostromo, sah zuerst auf den Leib des toten Señors Hirsch und bedachte, daß der Doktor in mehr als einem Sinn ein gefährlicher Mensch sei. Es war unmöglich, ihm zu vertrauen.

»Sprechen Sie im Namen von Don Carlos?« fragte er schließlich.

»Ja. Das tue ich«, sagte der andre laut, ohne Zögern. »Der muß nun heraus, er muß«, fügte er in einem Murmeln hinzu, das Nostromo nicht verstand.

»Was sagten Sie, Señor?«

Der Doktor wich aus: »Ich sage, Sie müssen sich selbst treu bleiben, Capataz. Es wäre mehr als Narrheit, wenn Sie jetzt auslassen wollten.«

»Mir selbst treu«, wiederholte Nostromo. »Woher wissen Sie, daß ich mir selbst nicht treu wäre, wenn ich Sie jetzt samt Ihren Vorschlägen zum Teufel schickte?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ja«, sagte der Doktor mit einer Schroffheit, die seine Entmutigung und das Schwanken seiner Stimme verbergen sollte. »Ich weiß nur das eine, daß Sie lieber von hier fortgehen sollten. Jemand von Sotillos Leuten könnte herkommen, um mich zu suchen.«

Er glitt vom Tisch herunter und horchte angestrengt. Auch der Capataz stand auf.

»Angenommen, ich ginge nach Cayta, was würden Sie unterdessen tun?« fragte er.

»Ich würde zu Sotillo gehen, sobald Sie weg wären – auf die Art, die ich im Sinn habe.«

»Eine ganz gute Art – wenn nur der Chefingenieur zustimmt. Erinnern Sie ihn, Señor, daß ich für den alten reichen Engländer gesorgt habe, der die Eisenbahn bezahlt, und daß ich einigen seiner Leute das Leben gerettet habe, als eine Diebsbande vom Süden gekommen war, um einen der Lohnzüge anzuhalten. Ich war es, der alles entdeckte, unter Gefahr für mein Leben, indem ich vorgab, mich den Kerlen anzuschließen. Gerade, wie Sie es jetzt bei Sotillo tun.«

»Ja. Ja, natürlich. Aber ich kann ihm bessere Beweise bieten«, meinte der Doktor hastig, »Überlassen Sie das mir.«

»O ja! Richtig! Ich bin ja gar nichts.«

»Durchaus nicht. Sie sind alles.«

Sie machten ein paar Schritte gegen die Tür. Der tote Señor Hirsch hinter ihnen verharrte in der Unbeweglichkeit eines vernachlässigten Mannes.

»Das kommt schon in Ordnung. Ich weiß, was ich dem Chefingenieur sagen muß«, fuhr der Doktor leise fort. »Schwierigkeiten werde ich nur bei Sotillo haben.«

Und Doktor Monygham blieb in der Türe unvermittelt stehen, als wäre er von dieser Schwierigkeit eingeschüchtert. Er hatte sich entschlossen, sein Leben zu opfern. Er hielt die Gelegenheit dazu für günstig. Doch wünschte er sein Leben nicht vorschnell hinzuwerfen. In seiner Rolle als Verräter von Don Carlos' Vertrauen würde er schließlich das Versteck des Schatzes anzugeben haben. Das mußte das Ende seines Betruges sein und zugleich auch sein eigenes Ende, unter den Händen des wütenden Obersten. Er wünschte ihn so lange als möglich hinzuhalten; er hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, ein Versteck zu ersinnen, das zugleich glaubhaft erscheinen und schwer zugänglich sein sollte.

Er teilte Nostromo seine Bedenken mit und schloß:

»Wissen Sie was, Capataz? Wenn die Zeit kommt und eine genaue Angabe gemacht werden muß, dann werde ich die Große Isabelle angeben, glaube ich. Das ist der beste Platz, den ich mir vorstellen kann. Was ist los?«

Nostromo war ein leiser Ausruf entfahren. Der Doktor wartete überrascht und hörte nach einem Augenblick tiefen Schweigens eine gepreßte Stimme »Narretei« stammeln und keuchend abbrechen.

»Warum Narretei?«

»Ah! Das sehen Sie nicht!« begann Nostromo gehässig und steigerte sich rasch in Verachtung hinein. »Drei Leute können in einer halben Stunde feststellen, daß auf der Insel nirgendwo Erdreich bewegt worden ist. Glauben Sie vielleicht, daß ein solcher Schatz vergraben werden könnte, ohne daß Spuren von der Arbeit nachblieben – wie, Señor Doctor? Was denn! Sie würden keinen halben Tag gewinnen, bevor Ihnen Sotillo die Kehle abschnitte. Die Isabellen! Was für ein Unsinn! Was für eine jämmerliche Erfindung! Ah! Ihr seid alle gleich, ihr feinen Leute von Bildung! Alles, was ihr könnt, ist, Leute aus dem Volke zu lebensgefährlichen Wagnissen zu verführen, zu Zwecken, deren ihr selbst nicht einmal sicher seid. Geht es gut, dann habt ihr den Vorteil, wenn nicht, dann macht es nichts. Der Kerl ist bloß ein Hund. Ah! Madre de Dios, ich wollte . . .»er schüttelte die Fäuste über seinem Kopf.

Der Doktor war zuerst sprachlos überrascht über diesen wilden, zischenden Ausbruch.

»Nun! Mir scheint, Sie geben selbst den Beweis, daß auch die Leute aus dem Volke keine geringen Narren sind«, meinte er trocken. »Aber lassen wir das. Sie sind so schlau. Wissen Sie einen besseren Platz?«

Nostromo hatte sich ebenso schnell beruhigt, wie er aufgebraust war.

»Dazu bin ich schlau genug«, sagte er ruhig, fast gleichgültig. »Sie wollen ihm ein Versteck angeben, groß genug, daß es einige Tage zur Absuchung erfordert, einen Ort, wo ein Schatz an Silberbarren verborgen werden kann, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen?«

»Und gut erreichbar«, warf der Doktor ein.

»Ganz recht, Señor. Sagen Sie ihm, der Schatz sei versenkt.«

»Das hätte das Verdienst, wahr zu sein«, erwiderte der Doktor verächtlich. »Er wird es nicht glauben.«

»Sagen Sie ihm, daß der Schatz an einem Ort versenkt ist, wo er hoffen kann, ihn in die Hände zu bekommen, und er wird Ihnen schnell genug glauben. Sagen Sie ihm, das Silber sei im Hafen versenkt worden, um später von Tauchern geborgen zu werden. Sagen Sie ihm, Sie hätten herausgebracht, daß ich von Don Carlos Befehl hatte, die Kisten an irgendeiner Stelle der Linie zwischen dem Kai-Ende und der Hafeneinfahrt vorsichtig über Bord zu lassen. Die Tiefe ist dort nicht allzu groß. Er hat keine Taucher, aber ein Schiff, Boote, Taue, Ketten, auch Seeleute – was man hier so nennt. Lassen Sie ihn nach dem Silber fischen. Lassen Sie ihn doch seine Narren zum Dreggen anhalten, vor und zurück und kreuzweise, während er dabeisitzt und aufpaßt, bis ihm die Augen aus dem Kopf springen.«

»Das ist wirklich ein fabelhafter Gedanke«, murmelte der Doktor.

»Si. Sagen Sie ihm das, und warten Sie ab, ob er Ihnen glauben wird. Er wird ganze Tage in wütender Aufregung hinbringen – und immer noch glauben. Er wird für nichts sonst Gedanken haben. Er wird es nicht aufgeben, bis er vertrieben wird – vielleicht vergißt er sogar, Sie zu töten. Er wird weder essen noch schlafen. Er . . .«

»Das ist das Richtige! Das ist das Richtige!« wiederholte der Doktor aufgeregt. »Capataz, ich beginne zu glauben, daß Sie in Ihrer Art ein wahres Genie sind.«

Nostromo war verstummt. Dann hob er nochmals an, in verändertem Tone finster vor sich hinredend, als hätte er des Doktors Gegenwart vergessen.

»Ein Schatz hat etwas an sich, was den Sinn eines Menschen gefangennimmt. Sotillo wird beten und fluchen und doch aushalten, wird den Tag verwünschen, an dem er je von dem Silber gehört hat, wird seine letzte Stunde unbemerkt herankommen lassen, immer noch in dem Glauben, daß er den Schatz nur um eine Handbreit verfehlt hat. Er wird ihn jedesmal vor sich sehen, sooft er die Augen schließt. Er wird ihn nicht vergessen können, bis er tot ist – und dann sogar . . . Doktor, haben Sie je von den elenden Gringos auf Azuera gehört, die nicht sterben können? Ha! Ha! Seeleute wie ich. Es gibt kein Loskommen von einem Schatz, der sich einem einmal angehängt hat.«

»Sie sind ein Teufelskerl, Capataz. Die Geschichte ist so glaubhaft wie nur möglich.«

Nostromo drückte seinen Arm.

»Es wird schlimmer für ihn sein als Durst auf See oder Hunger in einer menschenreichen Stadt. Wissen Sie, was das ist? Er wird schlimmere Qualen leiden, als die er dem verängstigten Tropf da bereitet hat, der keine Erfindungsgabe hatte. Keine Spur davon! Nicht wie ich. Ich hätte Sotillo für wenig Schmerzen eine bitterböse Geschichte aufbinden können.«

Er lachte wild auf und wandte sich in der Türe nach dem Körper des toten Señors Hirsch um, der im dämmrigen Halbdunkel des Raumes, zwischen den beiden sternhellen Rechtecken der Fenster, als undeutlicher Fleck auszunehmen war.

»Du Mann der Angst!« rief er, »du sollst gerächt werden, von mir – Nostromo! Mir aus dem Weg, Doktor! Machen Sie Platz – oder, bei der armen Seele einer Frau, die ohne Beichte gestorben ist, ich will Sie mit meinen beiden Händen erdrosseln!«

Er sprang die Stiegen zu der schwarzen, rauchigen Halle hinunter. Mit einem Knurren der Überraschung stürzte ihm Doktor Monygham unbedenklich nach. Am Fußende der verkohlten Treppe kam er schwer zu Fall und schlug kopfüber mit einer Gewalt hin, die einen weniger von Liebe und Hingabe besessenen Geist wohl betäubt hätte. Er war im Augenblick wieder auf den Beinen, erschüttert und zerschlagen, mit dem merkwürdigen Gefühl, die Erdkugel wäre ihm im Dunkel gegen den Kopf geflogen. Aber es hätte mehr als das gebraucht, um Doktor Monygham aufzuhalten, der von der Hochspannung des Opfermuts erfüllt war; einer Hochspannung, der der vernünftige Entschluß nicht fehlte, keine sich bietende Möglichkeit ungenützt zu lassen. Er rannte Hals über Kopf weiter, wobei seine Arme sich wie Windmühlflügel drehten, in der wütenden Anstrengung, die verkrüppelten Füße im Gleichgewicht zu halten. Er verlor den Hut; die Schöße seines offenen Staubmantels flatterten hinter ihm drein. Er war fest entschlossen, den unentbehrlichen Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es dauerte lange Zeit, bis er, weit weg vom Zollamt, atemlos, Nostromo von rückwärts hart am Arm packen konnte.

»Halt! Sind Sie verrückt?«

Nostromo ging schon langsam, mit gesenktem Kopf, als hätte müde Unentschlossenheit seine Eile gehemmt.

»Was macht das Ihnen aus? Oh! Ich vergaß, daß Sie mich zu etwas brauchen. Immer. Siempre Nostromo.«

»Was meinen Sie mit dem Gerede, daß Sie mich erdrosseln wollen?« keuchte der Doktor.

»Was ich damit meine? Ich meine, daß der König aller Teufel Sie aus dieser Stadt der Feiglinge und Schwätzer herausgeschickt haben muß, um mich heute, in dieser Nacht aller Nächte meines Lebens, zu treffen.«

Unter dem sternhellen Himmel tauchte das »Albergo d'Italia Una« auf, schwarz und niedrig, eine Unterbrechung der ebenen, dunklen Fläche. Nostromo blieb ganz stehen.

»Die Priester sagen, er sei ein Versucher, nicht wahr?« fügte er mit zusammengebissenen Zähnen hinzu.

»Mein lieber Mann, Sie faseln. Der Teufel hat mit dem hier nichts zu tun. Die Stadt ebensowenig – und Sie können ihr alle Namen geben, die Ihnen Spaß machen. Aber Don Carlos Gould ist weder ein Feigling noch ein leerer Schwätzer. Das werden Sie zugeben?« Er wartete. »Nun?«

»Könnte ich Don Carlos sehen?«

»Großer Gott! Nein! Warum?« rief der Doktor aufgeregt. »Ich sage Ihnen, es ist Wahnsinn! Ich werde um keinen Preis zugeben, daß Sie in die Stadt gehen.«

»Ich muß!«

»Sie müssen nicht!« zischte der Doktor wütend, fast außer sich vor Angst, der Mann könnte in einer törichten Laune seine eigene Brauchbarkeit zunichte machen. »Ich sage Ihnen, Sie werden es nicht tun. Lieber wollte ich . . .«

Er brach ab, da ihm die Worte fehlten; er fühlte sich plötzlich erschöpft, halb ohnmächtig, und hielt sich an Nostromos Ärmel fest, um nach dem Rennen Halt zu suchen.

»Ich bin verraten!« knurrte der Capataz vor sich hin; und der Doktor, der das letzte Wort gehört hatte, strengte sich an, ruhig zu sprechen:

»Genau das würde Ihnen geschehen. Sie würden verraten werden.«

Er bedachte mit quälender Angst, daß der Mann viel zu genau bekannt war, um dem Erkanntwerden entgehen zu können. Das Haus des Administrators war zweifellos von Spähern umstellt, und nicht einmal den Dienstboten des Hauses war zu trauen, »überlegen Sie, Capataz«, sagte er eindringlich . . . »Worüber lachen Sie?«

»Ich lache bei dem Gedanken, daß, wenn jemand, dem meine Anwesenheit in der Stadt nicht paßte, zum Beispiel – Sie verstehen, Señor Doctor –, wenn jemand mich also an Pedrito Montero verraten wollte, daß es mir dann durchaus nicht unmöglich wäre, mich sogar mit dem anzufreunden. Das ist wahr. Wie denken Sie darüber?«

»Sie sind ein Mann, der sich sehr gut zu helfen weiß, Capataz«, meinte Doktor Monygham trübe. »Ich erkenne das an. Aber die Stadt ist voll von Gerede über Sie; und die wenigen Cargadores, die sich nicht bei den Eisenbahnern versteckt halten, haben heute den ganzen Tag auf der Plaza ›Viva Montero!‹ gebrüllt.«

»Meine armen Cargadores!« flüsterte Nostromo. »Verraten! Verraten!«

»Soviel ich weiß, haben sie es auf dem Kai nicht daran fehlen lassen, Ihren armen Cargadores den Stock zu schmecken zu geben«, sagte der Doktor mit einem Grimm, der bewies, daß er sich von seiner Erschöpfung erholte. »Irren Sie sich nicht. Pedrito Montero ist wütend über Señor Ribieras Rettung und weil er sich des Vergnügens beraubt sieht, Decoud zu erschießen. Schon laufen in der Stadt auch Gerüchte um, daß der Schatz fortgezaubert worden ist. Das versäumt zu haben, freut Pedrito auch nicht. Aber lassen Sie sich sagen, daß es Sie auch nicht retten könnte, wenn Sie das ganze Silber als Lösegeld in Händen hätten.«

Nostromo fuhr herum, packte den Doktor bei den Schultern und sah ihm hart ins Gesicht.

»Maledetto! Sie rennen mir nach und reden von dem Schatz. Sie haben meinen Untergang geschworen. Sie waren der letzte, der mich gesehen hat, bevor ich mit dem Schatz fortging, und Sidoni, der Maschinenführer, sagte, daß Sie den bösen Blick haben.«

»Der muß es ja wissen. Ich habe ihm letztes Jahr sein gebrochenes Bein eingerichtet«, meinte der Doktor gleichgültig. Er fühlte auf seinen Schultern das Gewicht dieser Hände, die unter dem gemeinen Volk dafür berühmt waren, daß sie dicke Taue zerreißen und Hufeisen geradebiegen konnten. »Und Ihnen biete ich das beste Mittel, sich selbst zu retten – lassen Sie mich los – und Ihren großen Ruf wiederzugewinnen. Sie haben damit geprahlt, Sie wollten wegen des verdammten Silbers den Capataz der Cargadores von einem Ende Amerikas bis zum ändern berühmt machen. Aber ich biete Ihnen eine bessere Möglichkeit – lassen Sie mich los, hombre!«

Nostromo gab ihn plötzlich frei, und der Doktor fürchtete, der unentbehrliche Mann würde nochmals fortlaufen. Aber er tat es nicht. Er ging langsam weiter. Der Doktor humpelte neben ihm her, bis, einen Steinwurf weit von der Casa Viola, Nostromo nochmals stehenblieb.

Schweigsam, in ungastlichem Dunkel daliegend, schien die Casa Viola ihr Wesen geändert zu haben. Nostromo schien es, als stieße ihn sein Heim mit dem Ausdruck hoffnungslosen, feindlichen Geheimnisses zurück. Der Doktor sagte:

»Hier sind Sie in Sicherheit. Gehen Sie hinein, Capataz.«

»Wie kann ich hineingehen?« Nostromo schien sich selbst zu fragen, so leise und in sich gekehrt klang seine Stimme. »Sie kann es nicht ungesagt machen, was sie gesagt hat, und ich nicht ungetan, was ich getan habe.«

»Ich sage Ihnen, es ist alles in Ordnung. Viola ist ganz allein im Hause. Ich habe nachgesehen, als ich aus der Stadt kam. Sie werden dort drin völlig sicher sein, bis Sie das Haus verlassen, um Ihren Namen im ganzen Campo berühmt zu machen. Ich gehe jetzt, um mit dem Chefingenieur alle Vorbereitungen für Ihre Reise zu treffen, und werde Ihnen lange vor Tagesanbruch Nachricht bringen.«

Doktor Monygham übersah Nostromos Schweigen oder fürchtete vielleicht, seinen Sinn zu verstehen, klopfte ihm leicht auf die Schulter und ging mit seinem schnellen, hinkenden Schritt davon. Nach drei oder vier humpelnden Schritten war er in der Dunkelheit gegen die Bahnstrecke zu verschwunden. Nostromo stand zwischen den beiden Holzpfosten, an denen die Gäste ihre Pferde festzumachen pflegten, und rührte sich nicht, als wäre auch er fest in den Boden gerammt. Nach einer halben Stunde etwa erhob er den Kopf, als im Güterbahnhof plötzlich die Hunde laut anschlugen; das Gebell klang gedämpft, als käme es unter der Erde hervor. Der lahme Doktor mit dem bösen Blick war ziemlich schnell hingekommen.

Schritt um Schritt näherte sich Nostromo dem Albergo d'Italia Una, das er nie zuvor so lichtlos und schweigsam gekannt hatte. Die Türe, ganz schwarz in der helleren Wand, stand offen, wie er sie vierundzwanzig Stunden vorher gelassen, als er vor der Welt nichts zu verbergen gehabt hatte. Er blieb unentschlossen davor stehen, wie ein Flüchtling, wie ein Verratener. Armut, Elend, Hunger! Wo hatte er diese Worte gehört? Der Zorn einer sterbenden Frau hatte ihm dieses Schicksal für seine Torheit vorhergesagt. Es schien, als sollte es sehr schnell wahr werden. Und die Leperos würden lachen – hatte sie gesagt. Ja, sie würden lachen, wenn sie wüßten, daß der Capataz der Cargadores der Gnade des verrückten Doktors ausgeliefert war, den sie noch vor wenigen Jahren für eine Kupfermünze sein Essen an einem Stand an der Plaza hatten kaufen sehen – wie einen von ihnen.

In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf, Kapitän Mitchell aufzusuchen. Er sah in die Richtung des Kais und bemerkte einen schwachen Lichtschein im Gebäude der O. S. N. Gesellschaft. Der Gedanke an erleuchtete Fenster war nicht anziehend. Zwei erleuchtete Fenster hatten ihn in das leere Zollamt gelockt, nur damit er diesem Doktor in die Klauen fallen sollte. Nein! In dieser Nacht wollte er nicht wieder erleuchteten Fenstern in die Nähe gehen. Kapitän Mitchell war dort. Und was konnte man ihm sagen? Der Doktor würde alles aus ihm herausquetschen wie aus einem Kind.

Von der Schwelle aus rief er halblaut: »Giorgio!« Niemand antwortete. Er trat ein. »Holla! Viejo! Bist du da? . . .« In der undurchdringlichen Finsternis schwindelte ihm; es kam ihm vor, als wäre die finstere Küche so weit wie der Stille Golf und als senkte sich der Boden unter ihm, wie der untergehende Leichter. »Holla, Viejo!« wiederholte er unsicher und schwankte im Stehen. Während er, um sich zu stützen, die Hand ausstreckte, traf er auf den Tisch. Er trat einen Schritt vor, tastete ihn ab und bekam eine Streichholzschachtel in die Finger. Er glaubte einen leisen Seufzer gehört zu haben. Er lauschte einen Augenblick mit angehaltenem Atem, dann versuchte er mit zitternden Händen ein Streichholz anzuzünden.

Das kleine Holzstückchen zwischen seinen Fingerspitzen flammte hell auf; er hob es über die zwinkernden Augen. Ein greller Lichtkegel fiel auf das weiße Löwenhaupt des alten Giorgio, nahe an der schwarzen Feuerstelle; man sah ihn vorgebeugt in seinem Stuhl sitzen, mit starrem Blick, inmitten der tiefen Schatten, die Beine gekreuzt, die Wange in die Hand gestützt, eine leere Pfeife im Mundwinkel. Stunden schienen zu vergehen, bevor er das Gesicht abzuwenden versuchte; im gleichen Augenblick erlosch das Zündholz, und das Bild verschwand, von den Schatten verschlungen, als wären Wände und Dach des trostlosen Hauses in geisterhaftem Schweigen über seinem Kopf zusammengestürzt.

Nostromo hörte, wie er sich regte und gleichgültig die Worte sprach:

»Es kann eine Erscheinung gewesen sein.«

»Nein«, sagte Nostromo sanft. »Es ist keine Erscheinung, Alter.«

Eine tiefe Bruststimme fragte aus dem Dunkeln:

»Bist du es, den ich höre, Giambattista?«

»Si, Viejo. Ruhig. Nicht so laut.«

Nachdem Sotillo ihn freigelassen hatte, war Giorgio Viola, von dem gutherzigen Chefingenieur bis an die Türe begleitet, in sein Haus zurückgekehrt, das er fast gleichzeitig mit dem Tode seiner Frau hatte verlassen müssen. Alles war still. Die Lampe brannte noch. Er fühlte sich fast versucht, die Frau beim Namen zu rufen; und bei dem Gedanken, daß keiner seiner Rufe mehr Antwort von ihrer Stimme finden würde, hatte er sich schwer in einen Stuhl fallen lassen mit einem lauten Stöhnen über den Schmerz, der ihm wie eine Messerklinge durch die Brust fuhr.

Während der ganzen Nacht gab er keinen Laut mehr von sich. Die Dunkelheit lichtete sich, und in dem farblos klaren, glasigen Dämmerschein trat die zerklüftete Sierra flach und bläulich hervor, wie aus Papier ausgeschnitten.

Die begeisterungsfähige, strenge Seele Giorgio Violas, des Seemanns, des Kämpfers für die unterdrückte Menschheit, des Königsfeindes und, von Frau Goulds Gnade, Gastwirts im Hafen von Sulaco, war inmitten der Überbleibsel aus seiner Vergangenheit in den Abgrund der Verzweiflung versunken. Der Alte gedachte seiner Verlobungszeit, zwischen zwei Feldzügen: eine einzige kurze Woche – zur Zeit der Olivenernte. Außer der furchtbaren Begeisterung für seine Idee reichte nichts an die tiefe Leidenschaft jener Zeit hinan. Er entdeckte nun, wie sehr er von der auf immer verstummten Stimme der Frau abhängig gewesen war. Ihre Stimme war es, die er vermißte. Geistesabwesend, geschäftig, in innere Betrachtung verloren, hatte er in diesen letzten Jahren seine Frau selten angesehen. Ihre Stimme war es, die ihm fehlen würde. Und er gedachte des dritten Kindes – des kleinen Jungen, der auf See gestorben war. Oh! Nun wäre es gut gewesen, sich auf einen Mann stützen zu können. Und wehe! Sogar Giambattista – er, von dem seine Frau, zugleich mit Linda, so ängstlich gesprochen hatte, bevor sie zu ihrem letzten Schlaf auf Erden zurückgesunken war; er, nach dem sie knapp vor ihrem Tode laut gerufen hatte, daß er die Kinder rette –, auch Giambattista war tot.

Und der alte Mann saß während des ganzen Tages regungslos und einsam da, vorgebeugt, den Kopf in die Hand gestützt. Er hörte nicht das erzene Dröhnen der Stadtglocken. Als es verstummt war, klang das schnelle melodische Tropfen aus dem irdenen Filter fort.

Gegen Sonnenuntergang stand er auf und verschwand mit langsamen Bewegungen in dem engen Stiegenhaus. Sein breiter Rumpf füllte es aus, und seine Schultern streiften längs der Wände mit einem leisen Geräusch hin, wie es eine Maus hinter dem Wandverputz macht. Während er dort oben verweilte, war das Haus still wie ein Grab. Dann kam er mit dem gleichen streifenden Geräusch wieder herunter. Er mußte sich an Tisch und Stühlen halten, um zu seinem alten Platz zurückzugelangen. Er nahm seine Pfeife von dem hohen Kaminsims – versuchte aber nicht, den Tabak zu finden –, steckte sie leer in den Mundwinkel und ließ sich in der gleichen, starren Unbeweglichkeit nieder. Die Sonne von Pedritos Einzug in Sulaco, die letzte Sonne im Leben des Señors Hirsch, die erste von Decouds Einsamkeit auf der Großen Isabelle, zog auf ihrem Weg nach dem Westen über das Albergo d'Italia Una hin. Das leise Tropfen des Filters hatte aufgehört, die Lampe im ersten Stock war ausgebrannt, und die Nacht hatte Giorgio Viola und seine tote Frau mit einer Dunkelheit und einem Schweigen überfallen, die unbesiegbar schienen, bis der Capataz der Cargadores, von den Toten wiedergekehrt, sie mit dem Zischen und Aufflammen eines Streichhölzchens in die Flucht geschlagen hatte.

»Si, Viejo. Ich bin es. Warte!«

Nostromo holte eine Kerze von einem Wandgestell und zündete sie an, nachdem er erst sorgfältig die Türe verrammelt und die Fensterläden geschlossen hatte.

Der alte Viola hatte sich erhoben. Er verfolgte mit seinem Blick die Geräusche, die Nostromo im Dunkeln machte. Das neue Licht zeigte ihn aufrecht, ohne Stütze, als hätte die bloße Gegenwart dieses Mannes ihm seine Kraft wiedergegeben, dieses Mannes, der treu, tapfer und unbestechlich war, all das, was des Alten eigener Sohn gewesen wäre.

Er streckte die Hand aus, in der er den am Rande leicht verkohlten Pfeifenkopf hielt, und runzelte vor der Helle die buschigen Augenbrauen.

»Du bist zurückgekehrt«, sagte er mit erschütternder Feierlichkeit. »Oh! Gut! Ich . . .«

Er brach ab. Nostromo, mit verschränkten Armen an den Tisch gelehnt, nickte ihm leicht zu.

»Du dachtest, ich wäre ertrunken! Nein! Der beste Hund der Reichen, der Aristokraten, dieser feinen Leute, die nur das Volk beschwätzen und betrügen können, der ist noch nicht tot.«

Der Garibaldiner stand reglos da und schien den Klang der vertrauten Stimme einzutrinken. Einmal bewegte er leise den Kopf, wie zum Zeichen der Zustimmung; aber Nostromo sah genau, daß der alte Mann keines der Worte verstand. Es gab niemand, der ihn verstanden hätte; niemand, den er hätte ins Vertrauen ziehen können über Decouds Schicksal, über sein eigenes, über das Geheimnis des Silbers. Der Doktor war ein Feind des Volkes – ein Versucher . . .

Des alten Giorgio wuchtige Gestalt bebte von Kopf bis zu Fuß von der Anstrengung, die Rührung beim Anblick dieses Menschen zu überwinden, der wie ein erwachsener Sohn sein Familienleben geteilt hatte.

»Sie glaubte, daß du wiederkehren würdest«, sagte er feierlich.

Nostromo hob den Kopf.

»Sie war eine kluge Frau. Wie hätte ich nicht zurückkommen sollen . . .

Er vollendete den Satz für sich: »Da sie mir ja doch ein Ende voll Armut, Elend und Hunger vorhergesagt hat.« Diese zornigen Worte Teresas rührten nach den Umständen, unter denen sie ausgesprochen worden waren – wie der Verzweiflungsschrei einer Seele, die man verhindert hat, Frieden mit Gott zu machen –, an den geheimen Aberglauben wegen des eigenen Glücks, von dem selbst die größten Männer, deren Leben dem Abenteuer und der Tat gehört, selten frei sind. Die Worte lasteten auf Nostromo wie eine schwere Verwünschung. Und welch ein Fluch war es, mit dem ihre Worte ihn belegt hatten! Er war in so jungen Jahren verwaist worden, daß er sich an keine andere Frau erinnern konnte, die er Mutter genannt hatte. Hinfort würde es kein Unternehmen mehr geben, das ihm nicht fehlschlagen müßte. Der Zauber wirkte schon. Sogar der Tod selbst würde ihm nun ausweichen . . . Er sagte heftig:

»Komm, Viejo! Verschaff' mir etwas zu essen. Ich bin hungrig! Sangre de Dios! Mir schwindelt, so leer ist mein Magen.«

Wie er so dastand, bloßfüßig, das Kinn über den gekreuzten Armen wieder auf die nackte Brust gesenkt, und mit finsterem Blick die Bewegungen des alten Viola verfolgte, der im Speiseschrank herumsuchte – da schien es wirklich, als stünde er unter einem Fluch: ein düsterer, zugrunde gerichteter Capataz.

Der alte Viola kam aus einer dunklen Ecke hervor und schüttete ohne ein Wort aus hohler Hand ein paar Brotkrusten und eine halbrohe Zwiebel auf den Tisch.

Während der Capataz sich an dieses Bettlermahl machte und mit ausgehungerter Gier Stück um Stück vom Tisch nahm, ging der Garibaldiner nochmals davon, kauerte sich in einem anderen Winkel nieder und füllte aus einer weidenumflochtenen Korbflasche einen irdenen Krug mit rotem Wein. Mit einer Bewegung, die ihm von der Bedienung der Cafégäste her gewohnt war, hatte er die Pfeife zwischen die Zähne genommen, um die Hände frei zu haben.

Der Capataz trank gierig. Ein leichtes Rot verdunkelte seine bronzefarbenen Wangen. Viola stand vor ihm, nahm mit einem Deuten seines wuchtigen weißen Kopfes gegen das Stiegenhaus zu die leere Pfeife aus dem Mundwinkel und sagte langsam:

»Nachdem hier unten der Schuß gefallen war, der sie so unvermittelt tötete, als wäre ihr die Kugel durch das bekümmerte Herz gedrungen – da rief sie nach dir, du solltest die Kinder retten. Nach dir, Giambattista.«

Der Capataz sah auf.

»Tat sie das, Padrone? Die Kinder retten? Die sind bei der englischen Señora, ihrer Wohltäterin. He, du alter Mann aus dem Volke! Auch deiner Wohltäterin . . .«

»Ich bin alt«, murmelte Giorgio Viola. »Einer Engländerin wurde es gestattet, ein Bett für Garibaldi beizustellen, als er verwundet im Gefängnis lag. Der größte Mann, der je gelebt hat, ein Mann aus dem Volke, auch er – ein Seemann. So kann ich es einer andren gestatten, mir ein Dach über dem Kopf zu erhalten. Si . . . Ich bin alt. Ich kann es ihr gestatten. Das Leben dauert manchmal zu lange.«

»Und sie selbst wird vielleicht in wenigen Tagen kein Dach mehr über dem Kopf haben, außer wenn ich . . . Was sagst du? Soll ich ihr das Dach über dem Kopf erhalten? Soll ich es versuchen – und alle die Blancos mit ihr zusammen retten?«

»Das sollst du tun«, sagte der alte Viola mit starker Stimme. »Du sollst es tun, so wie es mein Sohn getan hätte . . .«

»Dein Sohn, Viejo . . . Nie hat es einen Mann wie deinen Sohn gegeben. Ha, ich muß versuchen . . . Aber wie, wenn es nur ein Teil des Fluches wäre, daß ich mich dazu herbeilasse? . . . Und du sagst also, daß sie nach mir gerufen hat, als Retter – und dann . . .

»Sie hat nicht mehr gesprochen.« Bei dem Gedanken an die ewige Ruhe und das Schweigen, die über die verhüllte Gestalt auf dem Bett dort oben gekommen waren, wandte Garibaldis heldenmütiger Gefährte das Gesicht ab und hob die Hand an seine buschigen Brauen. »Sie war tot, ehe ich nochmals ihre Hände fassen konnte«, flüsterte er klagend.

Vor den weitoffenen Augen des Capataz, der in das dunkle Stiegenhaus starrte, erschienen die Umrisse der Großen Isabelle wie die eines fremdartigen Schiffes in Seenot, mit ungeheurem Reichtum und eines Mannes einsamem Leben beladen. Es war ihm unmöglich, etwas zu tun. Er konnte nur seine Zunge hüten, da niemand da war, dem er hätte vertrauen können. Der Schatz würde wahrscheinlich verloren sein – wenn nicht Decoud . . . Und hier brachen seine Gedanken unvermittelt ab. Er erkannte, daß er sich durchaus nicht vorstellen konnte, was Decoud etwa tun würde.

Der alte Viola hatte sich nicht gerührt. Und der unbewegliche Capataz senkte seine weichen, langen Wimpern, die dem oberen Teil seines kühnen, schwarzbärtigen Gesichts einen Anflug weiblicher Anmut gaben. Das Schweigen hatte lange gewährt.

»Gott schenke ihrer Seele den Frieden!« murmelte er düster.

 


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