Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VI

Tiefe Stille lag über der Casa Gould. Der Herr des Hauses durchschritt den Korridor, öffnete die Türe zu seinem Zimmer und sah seine Frau in einem großen Lehnstuhl sitzen – demselben, in dem er immer zu rauchen pflegte –, in nachdenkliche Betrachtung ihrer kleinen Schuhe versunken. Und sie erhob bei seinem Eintreten die Augen nicht.

»Müde?« fragte Charles Gould.

»Ein wenig«, sagte Frau Gould. Immer noch ohne aufzusehen, fügte sie etwas schmerzlich hinzu: »Es liegt etwas so schauerlich Unwirkliches über alldem!«

Charles Gould stand vor dem langen Tisch, der mit Papieren bedeckt war und auf dem eine Jagdpeitsche und ein Paar Sporen lagen, und sah seine Frau an. »Die Hitze und der Staub müssen heute nachmittag am Hafen sehr arg gewesen sein«, murmelte er teilnehmend. »Der Sonnenglanz auf dem Wasser muß einfach furchtbar gewesen sein.«

»Vor dem Sonnenglanz konnte man ja die Augen schließen«, sagte Frau Gould. »Aber, mein lieber Charley, es ist mir unmöglich, vor unserer Lage die Augen zu schließen; vor diesem gräßlichen . . .«

Sie hob den Blick und sah ihrem Gatten ins Gesicht; jedes Zeichen von Anteilnahme oder eines andern Gefühls war daraus verschwunden. »Warum sagst du mir nichts?« Sie jammerte beinahe.

»Ich glaubte, du hättest mich von allem Anfang an vollauf verstanden«, sagte Charles Gould langsam. »Ich dachte, wir hätten alles, was zu sagen war, längst gesagt. Jetzt ist nichts zu sagen. Es war verschiedenes zu tun. Wir haben es getan; wir haben fortgefahren, es zu tun. Nun gibt es kein Zurück. Ich glaube nicht, daß es, schon nach den ersten Schritten, noch einen denkbaren Rückweg gab. Und mehr noch, wir dürfen auch an kein Stehenbleiben denken!«

»Oh, wenn man nur wüßte, wie weit du gehen willst«, sagte seine Frau, innerlich bebend, aber doch in fast scherzhaftem Ton.

»Beliebig weit, jeden Weg, natürlich«, war die Antwort, so hart, daß Frau Gould sich abermals anstrengen mußte, ein Schaudern zu unterdrücken.

Sie stand mit unbefangenem Lächeln auf, und ihre zarte Gestalt erschien noch kleiner durch die schwere Masse ihres Haares und die lange Schleppe ihres Kleides.

»Doch immer zum Erfolg«, sagte sie mit Überzeugung.

Charles Gould umfing sie mit dem stahlblauen Blick seiner aufmerksamen Augen und antwortete ohne Zögern:

»Oh, es gibt ja keine Wahl.«

Er legte ungeheure Zuversicht in seinen Ton. Mit Worten allerdings mehr zu sagen, erlaubte ihm sein Gewissen nicht.

Frau Goulds Lächeln blieb einen Augenblick zu lang auf ihren Lippen. Sie murmelte:

»Ich will dich verlassen; ich habe ein wenig Kopfweh. Die Hitze und der Staub waren wirklich . . . Du gehst wohl vor dem Morgen noch in die Mine zurück?«

»Um Mitternacht«, sagte Charles Gould. »Wir bringen morgen das Silber herunter. Dann will ich drei volle Tage bei dir in der Stadt bleiben.«

»Oh, du holst den Transport ab! Ich werde um fünf Uhr auf dem Balkon sein, um dich vorüberreiten zu sehen. Bis dahin, lebwohl!«

Charles Gould ging rasch um den Tisch herum, faßte ihre beiden Hände, beugte sich nieder und preßte sie an seine Lippen. Bevor er sich wieder zu seiner vollen Höhe aufgerichtet, hatte sie eine Hand frei gemacht, um mit leichter Berührung seine Wange zu streicheln, als wäre er ein kleiner Junge.

»Versuche doch, ein paar Stunden zu ruhen«, murmelte sie mit einem Seitenblick nach der Hängematte, die in einer Ecke des Raumes aufgespannt war. Ihre lange Schleppe raschelte leise hinter ihr über den Ziegelfußboden. In der Tür wandte sie sich zurück.

Zwei große Lampen mit Mattglaskugeln warfen ein weiches, helles Licht auf die vier weißen Wände des Zimmers, auf das offene Gestell voll Waffen, auf den Messingknauf von Henry Goulds Reitersäbel auf seiner Samtunterlage und auf die Aquarellskizze der San Tomé-Schlucht. Nach dieser letzten in ihrem schwarzen Holzrahmen sah Frau Gould hin und seufzte:

»Ach, wenn wir sie hätten sein lassen, Charley!«

»Nein«, sagte Charles Gould finster. »Es war unmöglich, sie sein zu lassen.«

»Vielleicht war es unmöglich«, gab Frau Gould zögernd zu. Ihre Lippen zitterten ein wenig, aber sie lächelte tapfer. »Wir haben eine Menge Schlangen in dem Paradies aufgestört, Charley, nicht wahr?«

»O ja, ich erinnere mich«, sagte Charles Gould. »Don Pépé nannte die Schlucht ja das Schlangenparadies. Wir haben eine Menge aufgestört, kein Zweifel. Aber bedenke auch, meine Liebe, daß die Schlucht jetzt nicht so aussieht wie damals, als du die Aquarellskizze machtest.« Er deutete mit der Hand nach dem kleinen Aquarell, das allein an der großen, kahlen Wand hing. »Sie ist nicht mehr ein Schlangenparadies. Wir haben Menschen hingebracht, und denen können wir jetzt nicht den Rücken kehren, um anderswo ein neues Leben anzufangen.«

Er richtete einen festen, eindringlichen Blick auf seine Frau, und Frau Gould erwiderte ihn mit gutgespielter Furchtlosigkeit, bevor sie hinausging und die Türe leise hinter sich schloß.

Im Gegensatz zu dem hellerleuchteten, weißen Raum lag über dem Korridor das geheimnisvolle Dämmern eines Walddickichts; die Stengel und die Blätter der Topfpflanzen längs der Brüstung verstärkten den Eindruck noch. In den Lichtstreifen, die aus den offenen Türen der Empfangsräume fielen, glühten die weißen, roten und blaßlila Blüten hell auf, wie im Sonnenlicht. Und wie Frau Gould dahinschritt, hob sich ihre Gestalt deutlich ab, als überquerte sie eine sonnenbeschienene Waldeslichtung. Die Steine in den Ringen an der Hand, die sie gegen die Stirne gedrückt hielt, glitzerten im Lampenlicht vor der Türe der Sala auf.

»Wer ist da?« fragte sie überrascht. »Bist du es, Basilio?« Sie warf einen Blick durch die Türe und sah Martin Decoud, als hätte er etwas verloren, zwischen den Tischen und Stühlen herumgehen.

»Antonia hat ihren Fächer vergessen«, sagte Decoud merkwürdig geistesabwesend, »darum bin ich nochmals hergekommen, um ihn zu suchen.«

Doch während er diese Worte sprach, hatte er seine Suche offenbar schon aufgegeben und ging geradewegs auf Frau Gould zu, die ihn überrascht und zweifelnd ansah.

»Señora«, begann er leise.

»Was gibt es, Don Martin?« fragte Frau Gould; dann fügte sie mit leichtem Lachen hinzu: »Ich bin heute so zappelig«, als wollte sie die Lebhaftigkeit der Frage erklären.

»Nichts unmittelbar Gefährliches«, sagte Decoud, der nun seine Erregung nicht verbergen konnte. »Bitte, erschrecken Sie nicht! Nein, wirklich, Sie müssen nicht erschrecken.«

Frau Gould, die unschuldigen Augen weit geöffnet, die Lippen zu einem Lächeln geformt, suchte mit einer kleinen, juwelenbedeckten Hand am Türrahmen Halt.

»Sie wissen vielleicht nicht, wie beunruhigend Sie wirken, da Sie so unerwartet auftauchen . . .«

»Ich! Beunruhigend!« verwahrte er sich, ehrlich bestürzt und überrascht. »Ich versichere Ihnen, daß ich selbst nicht im geringsten beunruhigt bin. Ein Fächer ist verlorengegangen; nun, er wird sich wieder finden. Aber ich glaube nicht, daß er hier ist. Ein Fächer ist es, den ich suche. Ich kann nicht verstehen, wie Antonia . . . Nun! Hast du ihn gefunden, Amigo?«

»Señor«, sagte hinter Frau Gould die weiche Stimme Basilios, des ersten Kämmerers der Casa, »ich glaube nicht, daß die Señorita ihn überhaupt in diesem Hause gelassen haben kann.«

»Geh und such nochmals im Innenhof. Geh gleich, mein Freund; such auf den Stiegen, im Torweg; auf jedem Pflasterstein; suche, bis ich wieder hinunterkomme . . . Der Bursche«, wandte er sich englisch zu Frau Gould, »kriecht einem überall auf seinen bloßen Füßen nach. Ich habe ihn sofort, als ich zurückkam, auf die Suche nach diesem Fächer geschickt, um mein plötzliches Wiederauftauchen zu rechtfertigen.«

Er unterbrach sich, und Frau Gould meinte liebenswürdig: »Sie sind immer willkommen.« Auch sie schwieg einen Augenblick. »Aber ich warte darauf, den Grund Ihrer Rückkehr zu erfahren.«

Decoud gab sich plötzlich den Anschein völliger Sorglosigkeit.

»Ich kann es nicht vertragen, bespitzelt zu werden. Oh, der Grund? Ja, es gibt einen Grund; es ist noch etwas anderes verloren außer Antonias Lieblingsfächer. Als ich heimging, nachdem ich Don José und Antonia bis an ihre Türe begleitet hatte, ritt der Capataz de Cargadores die Straße herunter und sprach mich an.«

»Ist den Violas etwas geschehen?« forschte Frau Gould.

»Den Violas? Sie meinen den alten Garibaldiner, den Besitzer des Gasthauses, in dem die Ingenieure wohnen? Dort ist nichts geschehen. Der Capataz hat nichts von ihnen gesagt. Er sagte mir nur, daß der Telegraphist der Kabelgesellschaft barhäuptig auf der Plaza herumginge und mich suchte. Es sind Nachrichten aus dem Innern da, Frau Gould. Ich sollte vielleicht besser sagen: Gerüchte von Nachrichten.«

»Gute Nachrichten?« fragte Frau Gould leise.

»Wertlos, möchte ich meinen. Müßte ich sie aber kennzeichnen, dann würde ich sagen: schlecht. Sie laufen darauf hinaus, daß bei Sta. Marta eine zweitägige Schlacht stattgefunden hat und daß die Ribieristen geschlagen sind. Es muß einige Tage – vielleicht eine Woche her sein. Das Gerücht ist eben nach Cayta gelangt, und der Beamte der Kabelgesellschaft dort hat es an seinen hiesigen Kollegen weitergegeben. Wir hätten Barrios ebensogut in Sulaco behalten können.«

»Was ist nun zu tun?« murmelte Frau Gould.

»Nichts. Er ist mit den Truppen auf See. Er wird nach ein paar Tagen nach Cayta kommen und die Nachrichten dort erfahren. Was er dann tun wird – wer will das sagen? Cayta halten? Montero seine Unterwerfung anbieten? Seine Truppen entlassen – dies letztere wohl, und selbst in einem der O. S. N. Dampfer nach dem Norden oder Süden gehen, nach San Franzisko oder Valparaiso, ganz gleich wohin. Unser Barrios hat reiche Erfahrungen in Verbannung und Heimkehr, die ja die Merkzeichen des politischen Spiels sind.«

Decoud tauschte einen festen Blick mit Frau Gould und fügte wie prüfend hinzu: »Und doch, hätten wir Barrios mit seinen zweitausend neuen Gewehren hier, dann könnte man etwas tun.«

»Montero hat gesiegt, völlig gesiegt!« hauchte Frau Gould in ungläubigem Ton.

»Wahrscheinlich eine Ente. Dieser Vogel wird in solchen Zeiten in großem Umfang ausgebrütet. Und wenn es selbst wahr wäre? Nun, nehmen wir den schlimmsten Fall an: sagen wir, es ist wahr.«

»Dann ist alles verloren«, sagte Frau Gould, mit der Ruhe der Verzweiflung.

Plötzlich schien sie zu erraten, schien Decouds furchtbare Aufregung unter dem Deckmantel seiner gespielten Sorglosigkeit zu erkennen. Diese Aufregung begann sich tatsächlich in seinem gespannten, kühnen Blick, in der halb sorglosen, halb geringschätzigen Linie seiner Lippen zu äußern. Und ein französischer Satz kam ihm auf die Zunge, als wäre für diesen Costaguanero der Boulevards das Französische die einzig treffende Sprache gewesen:

»Non, Madame. Rien n'est perdu.«

Die Worte rissen Frau Gould aus ihrer Benommenheit, und sie sagte lebhaft:

»Was, meinen Sie, sollte getan werden?«

Aber schon schlich sich etwas wie Spott in Decouds unterdrückte Erregung.

»Was wollten Sie von einem echten Costaguanero erwarten? Eine neue Revolution, natürlich. Auf mein Ehrenwort, Frau Gould, ich glaube, ich bin doch ein echter bijo del pays, ein echter Sohn des Landes, was auch Vater Corbelàn sagen mag. Und ich bin nicht so ganz ungläubig, daß ich nicht doch den Glauben an meine eigene Idee hätte, an meine eigenen Maßnahmen, an meine eigenen Wünsche.«

»Ja«, meinte Frau Gould zweifelnd.

»Sie scheinen nicht überzeugt«, fuhr Decoud wieder französisch fort. »Nun, sagen Sie also: an meine Leidenschaft.«

Frau Gould nahm diesen Nachsatz hin, ohne sich zu rühren. Um ihn ganz zu verstehen, brauchte sie nicht die gemurmelte Versicherung zu hören:

»Es gibt nichts, was ich nicht für Antonia täte. Nichts, was ich nicht bereit wäre, zu wagen. Keine Gefahr, die ich nicht bereit wäre, auf mich zu nehmen.«

Decoud schien neuen Mut daraus zu schöpfen, daß er diese Gedanken aussprach. »Sie würden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß es Vaterlandsliebe ist, die . . .«

Sie wehrte mit einer entmutigten Handbewegung ab, als wollte sie sagen, daß sie es aufgegeben habe, diesen Beweggrund bei irgend jemand zu erwarten.

»Eine Sulaco-Revolution«, fuhr Decoud eindringlich fort. »Der großen Sache kann hier gedient werden, an dem Ort, wo sie erdacht, wo sie geboren worden ist, Frau Gould.«

Sie runzelte die Stirn, biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und machte einen Schritt von der Türe fort.

»Sie wollen doch nicht mit Ihrem. Mann sprechen?« hielt Decoud sie besorgt auf.

»Aber Sie werden ja seine Hilfe brauchen?«

»Zweifellos«, gab Decoud unverweilt zu. »Alles hängt von der San Tomé-Mine ab. Aber es wäre mir lieber, wenn er jetzt noch nichts von meinen Hoffnungen erführe.«

In Frau Goulds Gesicht kam ein Ausdruck des Staunens. Decoud trat näher und erklärte vertraulich:

»Sehen Sie doch, er ist so ein Idealist!«

Frau Gould errötete tief, und zur gleichen Zeit wurden ihre Augen dunkler.

»Charley ein Idealist«, sagte sie verblüfft, wie zu sich selbst. »Was in aller Welt meinen Sie bloß?«

»Jawohl«, räumte Decoud ein, »es klingt sonderbar, angesichts der San Tomé-Mine, der stärksten Tatsache in vielleicht ganz Südamerika. Aber sehen Sie doch, sogar diese Tatsache hat er bis zu einem Punkt idealisiert . . .« Er unterbrach sich. »Frau Gould, sind Sie sich darüber im klaren, bis zu welchem Punkt er das Dasein, den Wert, den Sinn der San Tomé-Mine idealisiert hat? Sind Sie sich darüber im klaren?«

Er schien genau zu wissen, was er sprach. Er erreichte die erwartete Wirkung. Frau Gould, im Begriff, heftig zu werden, verzichtete plötzlich, mit einem schwachen Laut, der wie ein Stöhnen klang.

»Was wissen Sie?« fragte sie leise.

»Nichts«, gab Decoud fest zurück. »Aber sehen Sie wohl: er ist ein Engländer?«

»Nun, und – was weiter?« fragte Frau Gould.

»Was weiter? Einfach das, daß er nicht anders kann, als jedes schlichte Gefühl, jeden Versuch, jede Tat zu idealisieren . . . Er könnte seinen eigenen Beweggründen nicht glauben, wenn er sie nicht zuerst zum Zubehör eines Märchens machte. Die Welt ist nicht ganz gut genug für ihn, fürchte ich. Verzeihen Sie meine Offenheit? Nebenbei, ob Sie sie nun verzeihen oder nicht, sie gehört zu der Wahrheit der Dinge, die – wie soll ich sagen – das angelsächsische Feingefühl verletzt; und im Augenblick habe ich nicht den Eindruck, als könnte ich seine Auffassung der Dinge oder – wenn Sie mir das Wort gestatten – auch die Ihre ernst nehmen.«

Frau Gould ließ sich keine Kränkung anmerken. »Ich nehme an, daß Antonia Sie völlig versteht?«

»Versteht? Nun ja. Aber ich bin nicht sicher, ob sie mir zustimmt. Doch das macht ja keinen Unterschied. Ich bin ehrlich genug, Ihnen das zu sagen, Frau Gould.«

»Ihre Idee, natürlich, ist Trennung«, sagte sie.

»Trennung, natürlich«, erklärte Martin. »Jawohl, Trennung der ganzen Westlichen Provinz von dem Rest des unruhigen Staatskörpers. Meine wahre Idee aber, die einzige, die mir am Herzen liegt, ist, nicht von Antonia getrennt zu werden.«

»Und das ist alles?« fragte Frau Gould ohne Strenge.

»Durchaus. Ich täusche mich nicht über meine Beweggründe. Sie will Sulaco um meinetwillen nicht verlassen, darum muß Sulaco den Rest der Republik seinem Schicksal überlassen. Nichts könnte klarer sein. Ich liebe klar umrissene Sachlagen. Ich kann mich nicht von Antonia trennen, darum muß die Eine und Unteilbare Republik von Costaguana dazu gebracht werden, sich von ihrer Westlichen Provinz zu trennen. Zufällig ist das auch eine sehr gesunde Politik. Der reichste und fruchtbarste Teil dieses Landes kann vor der Anarchie gerettet werden. Persönlich liegt mir wenig, sehr wenig daran; aber es ist eine Tatsache, daß die Einsetzung der Monteros in die Macht für mich den Tod bedeuten würde. In jedem einzelnen der öffentlichen Generalpardons, die ich gesehen habe, ist mein Name, mit einigen andern, ausdrücklich ausgenommen. Die Brüder hassen mich, wie Sie recht gut wissen, Frau Gould. Und nun, bedenken Sie, geht das Gerücht, daß sie eine Schlacht gewonnen haben. Sie werden sagen, daß ich gegebenenfalls reichlich Zeit hätte, davonzulaufen.«

Ein leise gemurmelter Widerspruch von seiten Frau Goulds ließ ihn einen Augenblick innehalten, während er sie mit finsterer Entschlossenheit ansah.

»Ah, Frau Gould, ich wollte es gerne tun. Ich wollte davonlaufen, wenn ich damit den einzigen Wunsch fördern könnte, den ich jetzt habe. Ich bin mutig genug, das zu sagen und es auch zu tun. Aber Frauen, sogar unsere eigenen Frauen, sind Idealisten. Antonia ist es, die nicht weglaufen will. Eine neue Art von Eitelkeit.«

»Sie nennen es Eitelkeit«, sagte Frau Gould entrüstet.

»Gut, nennen Sie es Stolz, der, wie Vater Corbelàn Ihnen sagen könnte, eine Todsünde ist. Aber ich bin nicht stolz. Ich liebe einfach zu sehr, um davonlaufen zu können, und zugleich will ich leben. Es gibt keine Liebe für einen toten Mann. Darum ist es sehr notwendig, daß Sulaco den siegreichen Montero nicht anerkenne.«

»Und glauben Sie, daß mein Gatte Ihnen beistehen wird?«

»Ich glaube, daß man ihn dazu bringen kann, wie alle Idealisten, sobald man ihm eine gefühlsmäßige Unterlage für seine Handlungsweise schafft. Aber ich möchte nicht mit ihm sprechen. Einfache, nackte Tatsachen würden ihm nichts sagen. Es ist für ihn viel besser, wenn er auf seinem eigenen Wege zu der Überzeugung kommt, und offen gesagt, ich könnte vielleicht gerade jetzt weder für seine Beweggründe noch sogar für die Ihren, Frau Gould, die nötige Hochachtung aufbringen.«

Frau Gould war offenbar fest entschlossen, nichts übelzunehmen. Sie lächelte leicht, während sie die Frage zu überdenken schien. Soweit sie nach den halben Bekenntnissen des Mädchens urteilen konnte, verstand Antonia diesen jungen Menschen, und augenscheinlich versprach sein Plan, oder vielmehr sein Ideal, Sicherheit. Überdies konnte diese Idee, ob gut oder schlecht, kein Unheil anstiften. Und es war ja auch durchaus möglich, daß das Gerücht falsch war.

»Sie haben so etwas wie einen Plan«, sagte sie.

»Lächerlich einfach. Barrios ist abgefahren, mag es dabei bleiben; er wird Cayta halten, das Tor auf dem Seewege nach Sulaco. Über die Berge werden sie keine ausreichende Heeresmacht herschicken können. Nein; nicht einmal, um es mit Hernandez' Bande aufzunehmen. Inzwischen werden wir hier unseren Widerstand vorbereiten, und dafür wird eben dieser Hernandez von Nutzen sein. Er hat als Bandit Truppen geschlagen; er wird zweifellos dasselbe fertigbringen, wenn man ihn zum Obersten oder gar zum General gemacht hat. Sie kennen das Land gut genug, Frau Gould, um keinen Anstoß an meinen Worten zu nehmen. Ich habe Sie selbst sagen hören, daß dieser arme Bandit der lebendige Beweis für die grausame Ungerechtigkeit und törichte Unterdrückung sei, die in diesem Lande so manchen Mann an der Seele wie am Vermögen zugrunde gerichtet haben. Nun gut, es wäre so etwas wie eine poetische Wiedervergeltung, wenn dieser Mann nun aufstünde, um das Böse zu bekämpfen, das einen ehrenhaften Ranchero in die Verbrecherlaufbahn gedrängt hat. Eine ganz schöne Wiedervergeltung soweit, nicht wahr?«

Decoud war mit Leichtigkeit zum Englischen übergegangen, das er sehr geläufig und gut, aber mit zu vielen Z-Lauten sprach.

»Denken Sie auch an Ihre Spitäler, Schulen, Ihre stillenden Mütter, siechen Alten, an die ganze Bevölkerung, die Sie und Ihr Gatte in die Felsschlucht von San Tomé gebracht haben. Sind Sie vor Ihrem Gewissen nicht für alle diese Leute verantwortlich? Ist es nicht der Mühe wert, noch eine Anstrengung zu wagen, die durchaus nicht so verzweifelt ist, wie sie aussieht, anstatt . . .«

Decoud beendete seinen Satz mit einer Aufwärtsbewegung des Armes, die Vernichtung ausdrücken sollte; und Frau Gould wandte mit entsetztem Blick den Kopf zur Seite.

»Warum sagen Sie dies alles nicht meinem Gatten?« fragte sie, ohne Decoud anzusehen, der die Wirkung seiner Worte beobachtete.

»Ah! Aber Don Carlos ist ja so sehr englisch!« begann er. Frau Gould unterbrach ihn:

»Lassen Sie das sein, Don Martin. Er ist ebensogut ein Costaguanero – nein, er ist es mehr als Sie!«

»Gefühlsmensch, Gefühlsmensch«, schnurrte Decoud beinahe, in liebenswürdig begütigendem Ton. »Gefühlsmensch, nach der erstaunlichen Art Ihres Volkes. Ich habe El Rey de Sulaco genau beobachtet, seit ich auf meiner Irrfahrt hierherkam, vielleicht von einem verräterischen Schicksal getrieben, wie es hinter unbegreiflichen Wendungen in eines Mannes Leben lauert. Aber ich tue ja nichts zur Sache, ich bin kein Gefühlsmensch, ich kann nicht meine persönlichen Wünsche mit einem schimmernden Gewand aus Seide und Juwelen bekleiden. Das Leben ist für mich kein erbaulicher Roman, in der Art schöner Märchen. Nein, Frau Gould, ich gehe auf Tatsachen. Ich fürchte mich nicht vor meinen Beweggründen. Aber verzeihen Sie, ich habe mich hinreißen lassen. Was ich sagen wollte, ist, daß ich beobachtet habe. Ich will Ihnen nicht erzählen, was ich dabei entdeckt habe . . .«

»Nein, das ist unnötig«, flüsterte Frau Gould und wandte nochmals den Kopf.

»Das ist es. Bis auf die eine kleine Tatsache, daß Ihr Gatte mich nicht mag. Eine kleine Tatsache, die aber unter den gegebenen Umständen eine geradezu lächerliche Bedeutung zu gewinnen scheint. Lächerlich und ungeheuer; denn natürlich ist zu meinem Plan Geld nötig«, überlegte er und fügte bedeutsam hinzu: »Und wir haben es mit zwei Gefühlsmenschen zu tun.«

»Ich wüßte nicht, daß ich Sie verstünde, Don Martin«, sagte Frau Gould kühl und wahrte dabei den leisen Ton ihrer Unterhaltung. »Doch, um zu sprechen, als verstünde ich Sie: Wer ist der andere?«

»Der Große Holroyd in San Franzisko doch«, flüsterte Decoud leichthin. »Ich denke, Sie verstehen mich recht gut. Die Frauen sind idealistisch; aber sie sind auch sehr scharfsichtig.«

Doch was immer auch der Grund zu dieser Bemerkung sein mochte, die geringschätzig und zweifelhaft in einem war, Frau Gould schien sie nicht zu beachten. Der Name Holroyd hatte ihren Befürchtungen eine neue Richtung gegeben.

»Der Silbertransport kommt morgen zum Hafen herunter; der Ertrag von sechs Monaten Arbeit, Don Martin!« rief sie verzweifelt.

»So lassen Sie ihn eben herunterkommen«, hauchte Decoud ernsthaft, fast an ihrem Ohr.

»Wenn aber das Gerücht sich verbreitet, und besonders, wenn es sich wahr erweist, dann werden Unruhen in der Stadt ausbrechen«, erwiderte Frau Gould.

Decoud gab die Möglichkeit zu. Er kannte die Kinder Sulacos und seines Campos gut. Eigensinnig, diebisch, rachsüchtig und blutdürstig, was für große Eigenschaften ihre Brüder aus den Ebenen auch gehabt haben mochten. Aber dann gab es ja auch noch diesen andern Gefühlsmenschen, der den nackten Tatsachen eine so eigenartig idealistische Bedeutung unterschob. Man mußte den Silberstrom weiterhin nordwärts fließen lassen, um ihn in Form finanziellen Rückhalts an dem großen Hause Holroyd wiederkehren zu sehen. Im Gebirge oben, im Kassenraum der Mine, waren die Silberbarren für Decouds Vorhaben wertloser als die gleiche Menge Blei, daraus man wenigstens hätte Kugeln gießen können. Mochte das Silber doch zum Hafen herunterkommen, zur Verschiffung.

Der nächste nordwärts gehende Dampfer würde es zur Rettung eben der San Tomé-Mine mit fortnehmen, die so große Schätze geliefert hatte. Und außerdem, meinte Decoud mit dem Ton der Überzeugung in seinem Flüstern, sei ja das Gerücht wahrscheinlich falsch.

»Überdies, Señora«, schloß er, »können wir es noch einige Tage lang unterdrücken. Ich habe mit dem Telegraphisten mitten auf der Plaza Mayor gesprochen; so bin ich sicher, daß wir nicht belauscht wurden. Nicht einmal ein Vogel war in der Luft in unserer Nähe. Und lassen Sie sich noch etwas sagen: Ich habe mich mit diesem Mann namens Nostromo angefreundet, dem Capataz de Cargadores. Wir hatten eben jetzt, abends, eine Unterredung. Ich ging neben seinem Pferde her, während er langsam aus der Stadt hinausritt. Er versprach mir, daß, falls aus irgendeinem Grunde ein Aufruhr losbräche – auch aus den politischesten Gründen, Sie verstehen –, seine Cargadores, ein maßgeblicher Teil der Bevölkerung, wie Sie zugeben, auf der Seite der Europäer zu finden sein würden.«

»Er hat Ihnen das versprochen?« forschte Frau Gould gespannt. »Was mag ihn zu einer solchen Zusage bewogen haben?«

»Auf mein Wort, ich weiß es nicht«, erklärte Decoud in leicht überraschtem Ton. »Er hat es mir sicherlich versprochen. Wenn Sie mich aber fragen, warum, so könnte ich Ihnen seine Gründe nicht nennen. Er sprach mit seiner gewohnten Nachlässigkeit, die ich, wäre er etwas andres als gewöhnlicher Matrose gewesen, eine Pose oder Ziererei nennen würde.«

Decoud unterbrach sich und sah Frau Gould neugierig an.

»Alles in allem«, fuhr er fort, »vermute ich, daß er sich irgendeinen Vorteil davon erwartet. Sie dürfen nicht vergessen, daß er seine außerordentliche Macht über die niederen Klassen nicht ohne persönliche Gefahr ausübt und nicht, ohne sehr verschwenderisch Geld auszugeben. Auf die eine oder die andere Weise muß man eben für eine so gediegene Sache wie persönliche Geltung zahlen. Nachdem wir uns bei einer Tanzerei in einer Posada, die ein Mexikaner außerhalb der Stadttore führt, befreundet hatten, sagte er mir, er sei hierhergekommen, um sein Glück zu machen. Ich nehme an, daß er seinen persönlichen Einfluß wie eine Art Kapitalsanlage betrachtet.«

»Vielleicht wertet er diesen Einfluß auch als Ding an sich«, sagte Frau Gould in einem Ton, als wiese sie eine unverdiente Anschwärzung zurück. »Viola, der Garibaldiner, bei dem er einige Jahre gewohnt hat, nennt ihn den Unbestechlichen.«

»Oh, er gehört zu der Gruppe Ihrer Protegés dort unten am Hafen, Frau Gould. Muy bien. Und Kapitän Mitchell nennt ihn wunderbar. Ich habe endlose Geschichten von seiner Stärke, seiner Kühnheit, seiner Treue gehört. Viele schöne Dinge, hm! Unbestechlich! Das ist wirklich ein Ehrenname für den Capataz de Cargadores von Sulaco. Unbestechlich! Schön, aber nichtssagend. Jedenfalls glaube ich, daß er auch verständig ist. Und ich habe auf Grund dieser gesunden Voraussetzung mit ihm gesprochen.«

»Ich ziehe es vor, ihn für uneigennützig und darum zuverlässig zu halten«, meinte Frau Gould, so schroff, wie es ihrer Natur nach möglich war.

»Nun gut, wenn es so ist, dann wird das Silber um so sicherer sein. Lassen Sie es herunterkommen, Señora, lassen Sie es herunterkommen, damit es nordwärts gehen und in Form von Kredit zu uns zurückkehren kann.«

Frau Gould sah durch den Korridor nach der Türe zum Zimmer ihres Gatten. Decoud, der sie beobachtete, als hielte sie sein Schicksal in Händen, entdeckte ein fast unmerkliches Nicken der Zustimmung. Er verbeugte sich lächelnd, fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rocks und brachte einen Fächer zum Vorschein, aus leichten Federn auf gemaltem Sandelholz. »Ich hatte ihn in der Tasche«, frohlockte er flüsternd, »als annehmbare Ausrede.« Er verbeugte sich nochmals. »Gute Nacht, Señora.«

Frau Gould ging weiter den Korridor entlang, vom Zimmer ihres Gatten fort. Das Schicksal der San Tomé-Mine lag ihr schwer auf dem Herzen. Er war schon lange Zeit her, seit sie dafür zu fürchten begonnen hatte. Die Mine war ein Begriff gewesen. Frau Gould hatte mit Seelenangst gesehen, wie dieser Begriff zum Fetisch geworden und wie dieser Fetisch zu erdrückender Wucht angewachsen war. Als hätte die Begeisterung ihrer früheren Jahre ihr Herz verlassen und wäre zu einer Mauer von Silberbarren geworden, von der Hand böser Geister zwischen ihr und ihrem Gatten errichtet. Charley schien abgeschlossen, in einer Umwallung aus Edelmetall zu leben und sie draußen gelassen zu haben, mit ihrer Schule, ihrem Spital, den stillenden Müttern und siechen Alten, den nebensächlichen Überbleibseln der ursprünglichen Begeisterung. »Diese armen Leute!« murmelte sie vor sich hin. Unten im Innenhof hörte sie Martin Decoud laut sagen:

»Ich habe Doña Antonias Fächer gefunden, Basilio. Da, hier ist er!«

 


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