Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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IV

Vielleicht war Martin auch in Ausübung dieses Berufs gekommen, um die Einschiffung der Truppen anzusehen. Das »Porvenir« des übernächsten Tages würde fraglos einen genauen Bericht enthalten. Der Herausgeber aber schien, während er am Schlag des Landauers lehnte, für nichts Augen zu haben. Das erste Glied der Infanterie-Kompanie, die, drei Glieder tief, die Landungsbrücke nach dem Ufer zu absperrte, fällte, sooft die Menge allzu hart andrängte, mit grausamem Gerassel die Bajonette; und dann wich die Menge der Zuschauer flutend zurück, bis unter die Nasen der großen weißen Maultiere. Ungeachtet der riesigen Menschenmenge war kaum mehr als ein lautes Gemurmel zu hören; eine dunkle Staubwolke hing über dem Ganzen, und die Reiter, die da und dort in der Menge festgekeilt waren, ragten von den Hüften aufwärts hinein und blickten alle in einer Richtung über die Köpfe weg. Fast jeder von ihnen hatte einen Freund neben sich, der sich im Gleichgewicht hielt, indem er die Schultern des Reiters von rückwärts umklammerte; die Krempen ihrer Hüte berührten sich und bildeten eine große Scheibe mit zwei spitzen Kegeln oberhalb und einem Doppelgesicht darunter. Ein heiserer Mozo brüllte vielleicht einem Bekannten in den Reihen etwas zu, oder eine Frau kreischte plötzlich das Wort »Adios!« und einen männlichen Rufnamen hinterdrein.

General Barrios, in schäbiger blauer Bluse und weißer Pluderhose über fremdartigen, roten Stiefeln, stand mit entblößtem Kopf leicht schwankend da und stützte sich auf einen dicken Stock. Nein! Der Kriegsruhm, den er geerntet habe, könne auch dem Ehrgeizigsten genügen, wiederholte er beharrlich, zu Frau Gould gewandt, und versuchte dabei, sich ritterliche Haltung zu geben. Ein paar pechschwarze Haarsträhnen hingen schütter von seiner Oberlippe; er hatte eine vorspringende Nase, magere, langgezogene Wangen und trug einen schwarzen Seidenfleck über einem Auge. Sein anderes Auge, klein und tiefliegend, irrte in zielloser Liebenswürdigkeit nach allen Seiten. Die wenigen europäischen Zuschauer, durchaus Männer, die sich sehr selbstverständlich in der Nähe des Gouldschen Wagens gesammelt hatten, verrieten durch den feierlichen Ausdruck ihrer Gesichter die Meinung, daß der General zuviel Punsch (Schwedenpunsch, von Anzani in Flaschen eingeführt) im Amarilla-Klub getrunken haben müsse, bevor er mit seinem Stab in wildem Galopp zum Hafen heruntergeritten war. Doch Frau Gould lehnte sich vor, sehr beherrscht, und sprach die Überzeugung aus, daß den General in der nächsten Zukunft noch mehr Ruhm erwarte.

»Señora«, widersprach er mit Gefühl, »im Namen Gottes, überlegen Sie! Wie sollte es für einen Mann wie mich ein Ruhm sein, den glatzköpfigen Embustero mit dem gefärbten Schnurrbart zu überwältigen?«

Pablo Ignacio Barrios, Sohn eines Dorfalkalden, Divisionsgeneral, Oberkommandeur des Westlichen Militärbezirks, verkehrte nicht in der höheren Gesellschaft der Stadt. Er zog die formlosen Vereinigungen von Männern vor, wo er seine Geschichten von Jaguarjagden erzählen und mit seiner Geschicklichkeit im Lassowerfen prahlen konnte; denn mit dem Lasso brachte er fabelhaft schwierige Kunststücke von der Art fertig, wie sie nach der zwischen den Llaneros gebräuchlichen Redensart »kein Verheirateter versuchen sollte«; dort konnte er auch Geschichten von ungewöhnlichen nächtlichen Ritten erzählen, von Begegnungen mit wilden Stieren, Kämpfen mit Krokodilen, Abenteuern in den großen Wäldern und der Überquerung angeschwollener Flüsse. Und es war nicht bloße Prahlsucht, die dem General diese Erinnerungen entlockte, sondern eine echte Liebe für dieses wilde Leben, das er in seinen jungen Jahren geführt, bevor er endgültig dem Strohdach der väterlichen Tolderia im Urwald den Rücken gekehrt hatte. Er war bis nach Mexiko gewandert, hatte dort gegen die Franzosen an der Seite von Juarez (wie er sagte) gekämpft und war der einzige unter den Militärs von Costaguana, der je europäischen Truppen auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden hatte. Diese Tatsache verlieh seinem Namen großen Glanz, bis er durch den aufgehenden Stern Montero verdunkelt wurde. Sein ganzes Leben lang war er ein leidenschaftlicher Spieler gewesen. Er selbst erwähnte ganz offen die landläufige Geschichte, wie er einst während eines Feldzugs (damals noch als Brigade-Kommandeur) sein Pferd, seine Pistolen und die Montur bis zu den Achselstücken verspielt hatte, im Monte mit seinen Obersten, während der Nacht vor der Schlacht. Schließlich hatte er unter Bedeckung seinen Degen (einen Ehrendegen mit goldenem Korb) in die Stadt im Rücken seiner Stellung geschickt, um ihn dort kurzerhand einem verschlafenen und erschreckten Krämer gegen fünfhundert Pesetas verpfänden zu lassen. Bis zu Tagesanbruch hatte er auch diese Summe bis aufs Letzte verspielt und, als er sich erhob, nur gesagt: »Nun wollen wir gehen und bis auf den Tod kämpfen!« Von da an war er zur Erkenntnis gekommen, daß ein General seine Truppen sehr gut mit einem einfachen Stock in der Hand in die Schlacht führen konnte. »Es ist mir seither zur Gewohnheit geworden«, pflegte er zu sagen.

Er war ständig überhäuft mit Schulden, sogar während seiner Glanzzeiten im Laufe der wechselnden Geschicke eines Generals von Costaguana. Als Inhaber höchster militärischer Stellungen hatte er seine goldverschnürten Uniformen fast immer bei irgendeinem Händler verpfändet. Und um den ewigen Kleidernöten ein Ende zu machen, die ängstliche Geldgeber ihm verursachten, hatte er eine Geringschätzung militärischen Prunks, eine ausgefallene Vorliebe für schäbige alte Blusen entwickelt, die ihm zur zweiten Natur geworden war. Doch die Partei, der Barrios sich anschloß, brauchte keinen Verrat zu befürchten. Er war zu sehr im Herzen Soldat, um mit bezahlten Siegen elenden Handel zu treiben. Ein Mitglied des fremden diplomatischen Korps in Sta. Marta hatte einmal über ihn geurteilt: »Barrios ist ein Mann von unbedingter Ehrenhaftigkeit und sogar einigem militärischen Talent, mais il manque de tenue.« Nach dem Triumph der Ribieristen hatte er die bekannt einträgliche Kommandeurstelle im Westen erhalten, hauptsächlich infolge der Bemühungen seiner Gläubiger, der Geschäftsleute von Sta. Marta, durchwegs eifriger Politiker, die Himmel und Erde seinetwegen öffentlich in Bewegung gesetzt und insgeheim Señor Morago, den einflußreichen Agenten der San Tomé-Mine, mit hemmungslosen Wehklagen bestürmt hatten: wenn der General übergangen würde, »dann sind wir alle ruiniert«. Eine zufällige, doch günstige Erwähnung seines Namens in dem umfangreichen Briefwechsel Herrn Goulds, des Vaters, mit seinem Sohn hatte auch etwas mit seiner Ernennung zu tun gehabt. In erster Linie dankte er sie aber doch zweifellos seiner erprobten politischen Ehrenhaftigkeit. Niemand bezweifelte den persönlichen Mut des Tigertöters, wie das Volk ihn nannte. Man erzählte sich allerdings, daß er im Feld kein Glück habe – doch sollte ja eine neue Friedensära beginnen. Die Soldaten liebten ihn wegen seiner Menschlichkeit, die unerwartet, wie eine fremdartige, köstliche Blüte, aus dem Mistbeet der verrotteten Revolutionen sproßte; und wenn er bei einem militärischen Anlaß langsam durch die Straßen ritt, dann entlockte der gutmütige Spott seines einzigen Auges, das er über die Menge schweifen ließ, den Leuten begeisterte Zurufe. Besonders die Frauen aus dem Volke schienen geradezu berückt von der langgebogenen Nase, dem spitzen Kinn, der dicken Unterlippe und dem schwarzen Seidenfleck, dessen Band unternehmungslustig die Stirn überquerte. Sein hoher Rang sicherte ihm ständig eine Zuhörerschaft von Caballeros für seine Jagdgeschichten, die er sehr gut erzählte, schmucklos, doch mit ernstem Eifer. Die Gesellschaft von Damen aber schien ihm langweilig, da sie Hemmungen auferlegte, ohne, wie es ihm schien, Gegenwerte dafür zu bieten. Er hatte vielleicht keine drei Male mit Frau Gould gesprochen, seitdem er sein hohes Kommando übernommen hatte; doch hatte er sie öfters mit dem Señor Administrador reiten sehen und die Meinung ausgesprochen, daß in ihrer kleinen Zügelhand mehr Verstand stecke als in all den weiblichen Köpfen von Sulaco. Er hatte den Wunsch gefühlt, sich beim Abschied besonders höflich gegen eine Frau zu zeigen, die im Sattel nicht wankte und überdies zufällig die Gattin eines für den in steten Geldnöten befindlichen General sehr wichtigen Mannes war. Er trieb seine Aufmerksamkeit sogar so weit, daß er seinem Adjutanten, einem untersetzten kleinen Kapitän mit einem Tatarengesicht, befahl, einen Korporal mit einer Rotte vor dem Wagen aufzustellen, damit nicht die Menge beim Zurückdrängen »die Mulis der Señora belästigte«. Dann wandte er sich an die kleine Gruppe schweigender Europäer, die in Hörweite stand, und hob tröstlich die Stimme:

»Señores, machen Sie sich keine Sorgen! Fahren Sie ruhig fort, Ihren Ferro Carril zu bauen, Ihre Eisenbahn, Ihre Telegraphen, Ihre . . . Es gibt Geld genug in Costaguana, um alles zu bezahlen – sonst wären Sie nicht hier. Ha! Ha! Beachten Sie diese kleine Picardia meines Freundes Montero nicht. In kurzer Zeit sollen Sie seinen gefärbten Schnurrbart durch die Stäbe eines starken Holzkäfigs zu sehen bekommen. Si, Señores! Fürchten Sie nichts, helfen Sie dem Lande voran, arbeiten Sie, arbeiten Sie!«

Die kleine Gruppe von Ingenieuren nahm diese Ermahnung stumm hin; und nachdem er ihnen grüßend zugewinkt hatte, wandte sich der General wieder zu Frau Gould:

»Das ist es, was wir nach Don Josés Worten tun müssen. Unternehmungsfreudig sein, arbeiten, reich werden! Montero in einen Käfig zu sperren, ist meine Sache, und wenn dies nebensächliche Geschäft beendet ist, dann wollen wir, wie Don José es wünscht, reich werden, alle der Reihe nach, wie so viele Engländer; denn Geld ist es, was ein Land rettet und . . .«

Aber ein junger Offizier in glänzender Uniform, der eilig von der Landungsbrücke herkam, unterbrach ihn in dieser Darlegung von Señor Avellanos' Idealen; der General machte eine Bewegung der Ungeduld; der andere fuhr fort, in achtungsvoller Haltung eindringlich auf ihn einzureden. Die Pferde des Stabs waren eingeschifft; das Gig des Dampfers erwartete den General am Bootssteg; und Barrios begann sich zu verabschieden, nachdem er aus seinem einen Auge einen letzten, stolzen Blick in die Runde geschickt hatte. Don José erhob sich ein wenig zu ein paar angemessenen Worten, die er mechanisch aussprach. Hoffnung und Furcht zerrten arg an ihm, und er schien die letzten Funken seines Feuers an diese rednerischen Bemühungen zu wenden, von denen sogar das ferne Europa hören sollte. Antonia, die Lippen fest geschlossen, wandte hinter ihrem erhobenen Fächer den Kopf zur Seite, und der junge Decoud sah, obwohl er des Mädchens Augen auf sich gerichtet fühlte, hartnäckig weg, auf seinen Ellbogen gestützt, mit dem Ausdruck geringschätziger Gleichgültigkeit. Frau Gould bemühte sich heldenhaft, ihren Kummer über dieses Aussehen von Menschen und Dingen zu verbergen, das so völlig von ihren angeborenen Anschauungen abwich – einen Kummer, zu tief, als daß sie ihn selbst ihrem Gatten hätte in Worten enthüllen können. Sie begann nun seine stumme Zurückhaltung besser zu verstehen. Ihre vertraute Verständigung fand nicht in den Augenblicken des Alleinseins, sondern gerade in der Öffentlichkeit statt, wenn ihre Blicke sich kurz trafen und ihre Meinungen über irgendwelche neuen Vorfälle ausdrückten. Sie hatte von ihm das unverbindliche Schweigen gelernt, das einzig mögliche Verhalten, da doch bei der Durchführung ihres Vorhabens soviel Häßliches, Abstoßendes und Niedriges als in diesem Lande selbstverständlich hingenommen werden mußte. Gewiß, die stattliche Antonia wirkte reifer und unendlich ruhig; doch hätte sie es nie verstanden, eine jähe innere Schwäche hinter liebenswürdiger Lebhaftigkeit zu verbergen.

Frau Gould erwiderte lächelnd Barrios' Abschiedsgruß und nickte den Europäern in der Runde zu (die gleichzeitig die Hüte zogen), mit der freundlichen Einladung: »Ich hoffe, Sie alle gleich nachher bei mir zu sehen!« Dann sagte sie hastig zu Decoud: »Steigen Sie ein, Don Martin«, und hörte ihn, während er den Wagenschlag öffnete, französisch vor sich hin murmeln: »Le sort en est jeté.« Es erfüllte sie mit einer Art Verzweiflung. Niemand hätte besser als er wissen müssen, daß der erste Wurf in einem verzweifelten Spiel lange zuvor getan worden war. Ferne Zurufe, laute Kommandos und Trommelwirbel auf der Landungsbrücke grüßten den scheidenden General. Eine Schwäche überkam sie; sie sah starr in Antonias ruhiges Gesicht und fragte sich innerlich, was wohl Charley erwartete, wenn dieser abgeschmackte General unterliegen sollte. »A la Casa, Ignacio«, rief sie zu dem reglosen breiten Rücken des Kutschers hinauf. Der Mann nahm ohne Hast die Zügel straffer und murmelte dazu: »Si, la Casa, si, niña.«

Der Wagen rollte lautlos auf dem weichen Weg dahin; lange Schatten lagerten über der staubigen kleinen Ebene, die mit dunklen Büschen, frischen Erdhügeln und den langgestreckten Holzgebäuden der Eisenbahngesellschaft mit ihren Blechdächern durchsetzt war. Die schüttere Reihe der Telegraphenpfähle zog sich schräg aus der Stadt hinaus und führte den einzigen, fast unsichtbaren Draht weit in das große Campo – wie einen feinen, zitternden Fühler des Fortschritts, der außerhalb auf einen Augenblick des Friedens wartete, um einzudringen und sich um das müde Herz des Landes zu schlingen.

Das Caféfenster des Albergo d'Italia Una war gedrängt voll von den sonnverbrannten, bärtigen Gesichtern der Bahnarbeiter. Am andern Ende des Hauses aber, dem der Signori Inglesi, stand der alte Giorgio in der Türe, eine seiner Töchter an jeder Seite, und entblößte seinen buschigen Kopf, der weiß war wie die Schneefelder des Higuerota. Frau Gould ließ den Wagen anhalten. Sie unterließ es fast nie, zu ihrem Protegé zu sprechen; überdies hatten sie die Aufregung, die Hitze und der Staub durstig gemacht. Sie bat um ein Glas Wasser. Giorgio sandte die Kinder danach ins Haus und näherte sich dem Wagen, wobei ein Ausdruck der Freude sein ruhiges Gesicht überzog. Er hatte nicht oft Gelegenheit, seine Wohltäterin zu sehen, die überdies Engländerin war – was ihr doppeltes Anrecht auf seine Hochachtung gab. Er entschuldigte die Abwesenheit seiner Frau. Sie habe wieder ihren schlechten Tag, ihre Atemnot – dabei schlug er sich an die eigene breite Brust. Sie könne sich schon den ganzen Tag über nicht aus ihrem Stuhl rühren.

Decoud, in seine Wagenecke gelehnt, musterte verdrießlich Frau Goulds Revolutionär und fragte nachlässig:

»Nun, und wie denken Sie über all das, Garibaldino?«

Der alte Giorgio sah ihn mit einiger Neugier an und meinte dann höflich, daß die Truppen sehr gut marschiert seien. Der einäugige Barrios und seine Offiziere hätten an den Rekruten in so kurzer Zeit geradezu Wunder gewirkt. Diese Indianer, vor wenigen Tagen eingefangen, seien im Schnellschritt vorbeimarschiert wie die Bersaglieri; sie sähen auch gutgenährt aus und hätten ganze Uniformen. »Uniformen!« wiederholte er mit einem leise mitleidigen Lächeln. In seine scharf und gerade blickenden Augen stahl sich ein Ausdruck grimmiger Erinnerung. Es war anders zu seiner Zeit, als Männer gegen die Tyrannei gekämpft hatten, in den Urwäldern Brasiliens oder auf den Ebenen Uruguays, am Verhungern bei halbrohem Ochsenfleisch ohne Salz, halbnackt, oft nur mit einem an einen Stock gebundenen Messer als einziger Waffe. »Und doch behielten wir stets die Oberhand gegen den Unterdrücker«, schloß er stolz.

Seine Munterkeit verflog; eine leichte Handbewegung drückte Entmutigung aus; doch er fügte hinzu, daß er einen der Sergeanten gebeten habe, ihm das neue Gewehr zu zeigen. In seinen Kämpfertagen habe es keine solche Waffe gegeben, und wenn Barrios nicht imstande sei . . .

»Jawohl, jawohl«, fiel Don José ein, zitternd vor Erregung. »Wir sind in Sicherheit. Der gute Señor Viola ist ein Mann von Erfahrung. Unerhört tödlich, nicht wahr? – Du hast deine Aufgabe großartig erfüllt, mein lieber Martin.«

Decoud blieb verdrießlich zurückgelehnt und betrachtete den alten Viola.

»Oh! Gewiß! Ein Mann von Erfahrung. Aber auf wessen Seite stehen Sie eigentlich im Herzen?«

Frau Gould beugte sich zu den Kindern. Linda hatte mit größter Vorsicht ein Glas Wasser auf einem Teller herausgebracht; Giselle bot ihr einen Blumenstrauß, den sie in Eile gepflückt hatte.

»Auf Seite des Volkes«, erklärte der alte Viola streng.

»Wir alle sind auf Seite des Volkes – im Grunde.«

»Jawohl«, murmelte der Alte wild. »Und inzwischen kämpft das Volk für euch. Blind. Esclavos!«

In diesem Augenblick trat der junge Scarfe vom Ingenieurstab der Bahnlinie aus der Türe des für die Signori Inglesi reservierten Raumes. Er war auf einer leichten Maschine von irgendeinem Punkt der Strecke zum Hauptquartier heruntergekommen und hatte eben Zeit gehabt, ein Bad zu nehmen und sich umzuziehen. Er war ein netter Junge, und Frau Gould hieß ihn willkommen.

»Es ist eine großartige Überraschung, Sie zu sehen, Frau Gould. Ich bin gerade heruntergekommen. Mein gewöhnliches Pech. Alles versäumt, natürlich. Diese Geschichte da ist gerade vorüber, und ich höre, daß gestern abend bei Don Juste Lopez eine große Tanzerei war. Ist das wahr?«

»Die jungen Patrizier«, begann Decoud plötzlich in seinem gesuchten Englisch, »haben wirklich getanzt, bevor sie mit dem großen Pompejus in den Krieg zogen.«

Der junge Scarfe sah verständnislos aus. »Sie kennen sich noch nicht«, griff Frau Gould ein. »Herr Decoud – Herr Scarfe.«

»Ah! Aber wir gehen nicht nach Pharsalus«, wiederholte Don José erregt, gleichfalls auf englisch. »Und du solltest nicht so scherzen, Martin.«

Antonias Brust hob und senkte sich in einem tiefen Atemzug. Der junge Ingenieur war immer noch völlig verständnislos. »Der Große – was?« murmelte er.

»Zum Glück ist Montero kein Cäsar«, fuhr Decoud fort. »Auch die beiden Monteros zusammengenommen würden noch kein menschenmögliches Zerrbild eines Cäsar abgeben.« Er kreuzte die Arme über der Brust und sah zu Señor Avellanos hinüber, der in seine Unbeweglichkeit zurückgefallen war. »Sie allein, Don José, sind ein echter alter Römer – Vir Romanus – beredt und unbeugsam.«

Sobald er den Namen Montero gehört, hatte sich der junge Scarfe beeilt, seine einfachen Empfindungen auszusprechen. In lautem, jugendlichem Ton äußerte er die Hoffnung, daß dieser Montero seine Prügel beziehen und ein für allemal abgetan werden würde. Es sei nicht zu sagen, was aus der Bahn werden müßte, wenn die Revolution die Oberhand behielte. Man würde sie vielleicht aufgeben müssen. Es wäre ja dann nicht die erste Bahnlinie, die in Costaguana in die Brüche gegangen wäre. »Sie wissen ja, es ist eine ihrer sogenannten nationalen Geschichten«, fuhr er fort und rümpfte dabei die Nase, als hätte für seine tiefgründige Kenntnis südamerikanischer Angelegenheiten das Wort einen verdächtigen Geruch. Und natürlich, schwatzte er angeregt weiter, sei es doch für ihn ein ungeheures Glück gewesen, in seinen Jahren dem Stab »eines so großen Dings, nicht wahr?« zugeteilt zu werden. Das würde ihm für sein ganzes Leben über viele Vordermänner weghelfen, versicherte er. »Und darum – nieder mit Montero, Frau Gould!« Sein jungenhaftes Grinsen verflog langsam vor dem unbewegten Ernst der Gesichter, die sich ihm aus dem Wagen zukehrten; nur der »alte Knabe«, Don José, wandte ihm ein regloses, wächsernes Profil zu und starrte geradeaus, als wäre er taub. Scarfe kannte die Avellanos nicht sehr gut. Sie gaben keine Bälle, und Antonia erschien nie an einem Erdgeschoßfenster, wie es andere junge Damen wohl in Begleitung älterer Frauen zu tun pflegten, um mit den berittenen Caballeros in der Calle zu plaudern. Das Geschaue dieser Kreolen hatte nicht viel zu sagen; aber was auf aller Welt war über Frau Gould gekommen? Sie sagte: »Weiter, Ignacio!« und grüßte den jungen Ingenieur mit lächelndem Kopfneigen. Er hörte noch ein kurzes Lachen von dem halbfranzösischen Burschen mit seinem runden Gesicht. Er wurde rot bis zu den Augen und starrte Giorgio Viola an, der, den Hut in der Hand, mit den Kindern zurückgetreten war.

»Ich brauche sofort ein Pferd«, sagte er etwas heftig zu dem alten Mann.

»Si, Señor, Pferde sind genug da«, murmelte der Garibaldiner und streichelte dabei zerstreut mit seinen braunen Händen über die beiden Mädchenköpfe, den dunklen mit dem Bronzeschimmer und den blonden mit dem Kupferglanz. Die Menge der heimkehrenden Zuschauer wirbelte auf der Straße eine Staubwolke auf. Einige Reiter wurden auf die Gruppe aufmerksam. »Geht zu eurer Mutter«, sagte der Alte. »Sie werden größer, so wie ich älter werde – und niemand ist da . . .«

Er sah den jungen Ingenieur an und brach ab, als erwachte er aus einem Traum; dann kreuzte er die Arme über der Brust und nahm seine gewohnte Stellung ein: im Türrahmen zurückgelehnt, den Blick weit empor zum schneeigen Kamm des Higuerota gerichtet.

Im Wagen wechselte Martin Decoud die Stellung, als säße er unbequem, und murmelte dabei Antonia zu: »Sie hassen mich wohl.« Dann begann er mit lauter Stimme Don José dazu zu beglückwünschen, daß alle die Ingenieure so überzeugte Ribieristen seien. Die Anteilnahme all dieser Ausländer sei erfreulich. »Sie haben ja diesen hier gehört. Er ist voll der besten Wünsche. Es ist angenehm, zu denken, daß die Wohlfahrt von Costaguana für die Welt von einiger Bedeutung ist.«

»Er ist sehr jung«, bemerkte Frau Gould ruhig.

»Und so sehr weise für sein Alter«, gab Decoud zurück. »Aber hier haben wir aus dem Munde dieses Kindes die nackte Wahrheit gehört. Sie haben recht, Don José. Die Bodenschätze Costaguanas sind für das fortschrittliche Europa, das dieser junge Mann vertritt, wichtig, genau so wie vor dreihundert Jahren der Reichtum unserer spanischen Vorväter eine ernste Sache für das übrige Europa war – das die wilden Freibeuter vertraten. Auf unserem Charakter liegt der Fluch der Oberflächlichkeit: Don Quixote und Sancho Pansa, Ritterlichkeit und Habgier, hochtrabende Gefühle und sittliche Haltlosigkeit, wütendes Eintreten für eine Idee und stumpfe Nachgiebigkeit gegenüber allen Formen der Verrottung. Wir haben einen Erdteil wegen unserer Unabhängigkeit in Aufruhr gesetzt, nur um die wehrlosen Opfer eines Zerrbilds der Demokratie zu werden, die Beute von Schuften und Gurgelabschneidern; unsere Einrichtungen ein Narrenspiel, unsere Gesetze eine Posse – ein Guzman Bento unser Herr! Und so tief sind wir gesunken, daß, wenn ein Mann wie Sie unser Gewissen wachgerufen hat, ein dummer Barbar wie Montero – großer Gott, ein Montero! – eine tödliche Gefahr und ein ungebildeter indianischer Prahlhans wie Barrios unser Verteidiger wird.« Doch Don José überging die allgemeinen Ausführungen, als hätte er kein Wort davon gehört, und nahm die Verteidigung von Barrios auf. Der Mann war befähigt genug für seine besondere Aufgabe im Feldzugsplan. Sie bestand in einer Angriffsbewegung, die Cayta zur Basis haben und gegen die Flanke des Rebellenheeres gerichtet sein sollte: dieses rückte vom Süden aus gegen Sta. Marta vor, das von einem andern Heer, mit dem Präsidenten-Diktator in seiner Mitte, geschützt wurde. Don José belebte sich zusehends, geriet richtig ins Sprechen und beugte sich dabei unter dem ruhigen Blick seiner Tochter eifrig vor. Decoud gab keinen Laut von sich, als hätte ihn soviel Glut zum Schweigen gebracht. Die Glocken der Stadt läuteten zum Abendsegen, als der Wagen durch den alten Torweg rollte, der wie eine formlose Anhäufung von Blätterwerk und Steinen zum Hafen hinuntersah. In das Räderrollen unter dem hallenden Torbogen mengte sich ein fremder, schriller Ton, und Decoud konnte von seinem Rücksitz aus sehen, wie die Menschen, die hinter dem Wagen herdrängten, alle die Köpfe wandten, in Sombreros und Rebozos, und einer Lokomotive nachblickten, die in schneller Fahrt hinter Giorgio Violas Haus entschwand, eine weiße Dampfwolke wie den Aushauch eines lang hingehaltenen Kriegsschreis hinter sich. Es war wie eine gespenstische Vision: das schrill heulende Phantom einer Lokomotive, das eilends den dunklen Rahmen des Torbogens durchquerte, hinter der erschreckten Menschenmenge, die lautlosen Schrittes auf der staubigen Straße von einem militärischen Schauspiel heimkehrte. Es war ein Güterzug, der aus dem Campo zum Lagerbahnhof zurückkehrte. Die leeren Wagen rollten leicht auf dem einen Geleise hin; man hörte kein Räderrollen, merkte kein Zittern des Bodens. Der Maschinenführer hob, während er an der Casa Viola vorbeifuhr, grüßend den Arm und bremste geschickt vor dem Einfahrtstor der Umzäunung ab; sobald das ohrenzerreißende Schrillen der Dampfpfeife, das den Bremsern gegolten hatte, verstummt war, weckten wiederholte metallische Schläge, mit dem Rasseln der Kupplungen gemengt, tosenden Widerhall unter der Wölbung des Torbogens.

 


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