Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VII

Ungefähr zur gleichen Zeit versicherte Charles Gould, in der Intendancia von Sulaco, Pedrito Montero, der ihn hatte zu sich entbieten lassen, er würde niemals die Mine aus den Händen geben, zugunsten einer Regierung, die sie ihm rauben wollte. Die Gould-Konzession könne nicht zurückgenommen werden. Sein Vater habe sie nicht gewünscht, der Sohn werde sie niemals ausliefern. Lebend sicher nicht. Und war er einmal tot, wo wäre dann die Macht, die ein solches Unternehmen in seiner blühenden Wohlfahrt aus der Asche und den Trümmern der Zerstörung wiederzuerwecken vermöchte? Es gebe keine solche Macht im Lande. Und welches ausländische Kapital, welcher Unternehmungsgeist würden sich herbeilassen, an einen so übel berüchtigten Leichnam zu rühren? Charles Gould sprach in dem leidenschaftslosen Ton, der ihm viele Jahre lang dazu gedient hatte, seinen Zorn und seine Verachtung zu verbergen. Er litt. Die Worte, die er zu sagen hatte, widerten ihn an. Sie klangen zu sehr nach Heldenpose. Sein starker Tatsachensinn war in heftigem Widerspruch mit der fast mystischen Anschauung, die er sich von seinem Recht gebildet hatte. Die Gould-Konzession war ihm ein Sinnbild abstrakter Gerechtigkeit. Mochten die Himmel einstürzen. Da aber die San Tomé-Mine Weltruf erlangt hatte, so war diese Drohung eindringlich genug, um auf die bescheidene Fassungsgabe Pedrito Monteros zu wirken, die von oberflächlichen historischen Anekdoten beherrscht war. Die Gould-Konzession war ein schwerwiegender Faktor in den Finanzen des Landes und, mehr noch, auch im Privateinkommen vieler Beamten. Das war herkömmlich. Es war bekannt. Man sagte es allgemein. Es war glaubhaft. Jeder Innenminister bezog ein Gehalt von der San Tomé-Mine. Das war natürlich. Und Pedrito gedachte in der Regierung seines Bruders Innenminister und Kabinettspräsident zu werden. Der Duc de Morny hatte diesen hohen Posten während des Zweiten französischen Kaiserreiches mit erheblichem Vorteil für sich selbst bekleidet.

Ein Tisch, ein Stuhl, eine hölzerne Bettstatt waren für Seine Exzellenz beschafft worden; nach einer kurzen Siesta, unerläßlich nach den Anstrengungen und Feierlichkeiten seines Einzuges in Sulaco, hatte Pedrito das Steuer der Regierung ergriffen, indem er Zusammenkünfte anordnete, Befehle gab und Aufrufe unterschrieb. Im Audienzsaal allein mit Charles Gould, brachte es Seine Exzellenz mit bekanntem Geschick fertig, die eigene ärgerliche Bestürzung zu verheimlichen. Er hatte erst damit begonnen, hochmütig von Beschlagnahme zu sprechen, doch seine meisterhafte Beredsamkeit war schließlich durch den Umstand ungünstig beeinflußt worden, daß des Señor Administradors Züge unbewegt blieben und keinerlei Gefühle verrieten. Charles Gould hatte wiederholt: »Die Regierung kann gewiß, wenn es ihr gefällt, die Zerstörung der San Tomé-Mine herbeiführen; ohne mich aber kann sie sonst nichts tun.« Das war ein aufregender Ausspruch, wohl darauf berechnet, die Empfindlichkeit des Politikers zu verletzen, dessen Sinn auf die Siegesbeute gerichtet ist. Und Charles Gould sagte ferner noch, die Zerstörung der San Tomé-Mine würde den Untergang anderer Unternehmungen zur Folge haben, die Zurückziehung des europäischen Kapitals und wahrscheinlich auch die Sperrung der letzten ausländischen Darlehensrate. Dieser steinerne Gast sagte all dies (dem Verständnis Seiner Exzellenz durchaus erreichbar) in einer kaltblütigen Art, die einen schaudern machte.

Pedro Monteros Benehmen war nachhaltig dadurch beeinflußt worden, daß er während langer Jahre leichte und geschwätzige Geschichtswerke gelesen hatte – in den Dachkammern Pariser Hotels, auf seinem unordentlichen Lager, unter Vernachlässigung seiner Lakaien- oder sonstigen Pflichten. Hätte er den Glanz der alten Intendancia rings um sich gesehen, die prachtvollen Vorhänge, die vergoldeten Einrichtungsgegenstände längs der Wände; hätte er unter einem Baldachin auf rotem Prunkteppich gestanden –: dann hätte ihn das Gefühl des Erfolgs und der Erhabenheit wahrscheinlich sehr gefährlich gemacht. In diesem geplünderten und verwüsteten Raum aber, in dessen Mitte sich die drei gewöhnlichen Einrichtungsstücke fast verloren, litt Pedros Einbildungskraft unter dem Gefühl der Unsicherheit und Zeitweiligkeit. Diese Gefühle und die feste Haltung von Charles Gould (der übrigens kein einziges Mal das Wort Exzellenz ausgesprochen hatte) erniedrigten ihn in seinen eigenen Augen. Er nahm den Ton eines überlegenen Weltmanns an und bat Charles Gould, sich alle Befürchtungen aus dem Sinn zu schlagen. Er spreche nun, erinnerte er ihn, mit dem Bruder des Landesherrn, der mit der Aufgabe der Umgestaltung betraut sei. Mit dem Bruder des Landesherrn, wiederholte er, dem dieser restlos vertraute. Nichts liege jenem weisen und patriotischen Helden ferner als der Gedanke an Zerstörung. »Ich beschwöre Sie, Don Carlos, nicht Ihren antidemokratischen Vorurteilen freien Lauf zu lassen«, rief er in einem Anfall übertriebener Herablassung.

Pedrito Montero überraschte auf den ersten Blick durch die mächtig entwickelte, kahle Stirn, die sich gelblich glänzend zwischen den kohlschwarzen krausen Haarbüscheln dehnte, durch den hübsch geschnittenen Mund und eine unerwartet gepflegte Stimme. Seine Augen aber, die, wie frisch gestrichen, zu beiden Seiten der Hakennase blitzten, hatten, wenn voll aufgeschlagen, einen hoffnungslos starren, vogelartigen Blick. Nun allerdings hielt Pedrito Montero sie halb geschlossen, reckte das kantige Kinn hoch und sprach mit geschlossenen Zähnen leicht durch die Nase, wie es ihm für einen großen Herrn angemessen schien. In dieser Pose erklärte er plötzlich, der letzte Ausdruck der Demokratie sei der Cäsarismus: das Kaisertum auf der Grundlage unmittelbaren Volksentscheids. Der Cäsarismus sei konservativ, sei stark. Er erkenne die berechtigten Forderungen der Demokratie nach Orden, Titeln und Auszeichnungen an. Sie würden über verdiente Männer ausgeschüttet werden. Cäsarismus bedeute Frieden. Er sei fortschrittlich. Er sichere das Gedeihen eines Landes. Pedrito Montero ließ sich hinreißen: Man bedenke, was das Zweite Kaiserreich für Frankreich getan habe. Es sei ein Regime gewesen, das sich ein Vergnügen daraus gemacht habe, Männer vom Schlage Don Carlos' zu ehren. Das Zweite Kaiserreich sei gestürzt, doch nur, weil es seinem Vertreter an dem militärischen Genie gefehlt habe, durch das General Montero auf den Gipfel des Ruhms gelangt sei. Pedrito hob eifrig die Hand, um dem Bilde von einem Gipfel des Ruhmes mehr Nachdruck zu geben. »Wir werden noch viele Gespräche haben. Wir werden einander von Grund auf verstehen lernen, Don Carlos!« rief er kameradschaftlich. Die Republik habe ihr Werk getan. Imperialistische Demokratie sei die Macht der Zukunft. Pedrito der Guerillero bot die Hand dar und dämpfte eindringlich die Stimme. Ein Mann, den seine Mitbürger für den ehrenvollen Spitznamen eines »Rey de Sulaco« ausersehen hätten, könne als Industriekapitän und Mann von Gewicht von einer kaiserlichen Demokratie eine Anerkennung erwarten, die sich im Ersatz des volkstümlichen Beinamens durch einen schwerer wiegenden Titel äußern würde. »Wie, Don Carlos? Nein! Was sagen Sie? Conde de Sulaco – wie? Oder Marquis . . .«

Er unterbrach sich. Die Luft auf der Plaza war kühl; eine Kavalleriepatrouille ritt unaufhörlich rundum, ohne in die Straßen einzubiegen, die von dem Geschrei und den Gitarrenklängen aus den offenen Türen der Pulperias widerhallten. Der Befehl lautete, die Belustigungen des Volkes nicht zu stören. Und über den Dächern, anschließend an die senkrechten Linien der Kathedralentürme, versperrten, den Fenstern der Intendancia gerade gegenüber, die schneeigen Hänge des Higuerota ein weites Stück des dämmrigen blauen Himmels. Nach einer Weile schob Pedrito Montero die Hand in die Busenfalte seines Rocks und beugte feierlich langsam den Kopf. Die Audienz war zu Ende.

Charles Gould strich sich im Hinausgehen mit der Hand über die Stirne, als wollte er die Nebel eines der bösen Träume verscheuchen, deren groteske Unwahrscheinlichkeit den leisen Eindruck von körperlicher Gefahr und Sinnesverwirrung hinterläßt. Auf den Gängen und im Stiegenhaus lungerten monteristische Soldaten frech herum, rauchten und machten niemand Platz; durch das ganze Gebäude tönte das Klirren von Säbeln und Sporen. Am Mittelgang warteten drei schweigsame Gruppen von Zivilisten, in strenges Schwarz gekleidet, förmlich und hilflos, jede für sich ein wenig zusammengedrängt, als hätte sie in Erfüllung einer öffentlichen Pflicht der Wunsch überfallen, allen Augen auszuweichen. Es waren die Abordnungen, die auf eine Audienz warteten. Die der Provinzialversammlung wirkte in ihrer Gesamtheit noch unruhiger und verlegener und wurde durch Don Juste Lopez' großes Gesicht überragt, das, leichenblaß, mit vorstehenden Augenlidern, in undurchdringliche Feierlichkeit wie in eine dichte Wolke gehüllt schien. Der Präsident der Provinzialversammlung war tapfer gekommen, um den letzten Rest parlamentarischer Einrichtungen (nach englischem Muster) zu retten, und wandte den Blick von dem Administrator der San Tomé-Mine – zum Zeichen, würdigen Vorwurfs wegen dessen geringen Glaubens an den alleinseligmachenden Grundsatz.

Die düstere Strenge dieses Vorwurfs berührte Charles Gould nicht, wohl aber empfand er peinlich die Blicke der andern, die ohne Vorwurf auf ihn gerichtet waren, als wollten sie das eigene Schicksal von seinem Gesicht ablesen. Sie alle hatten in der großen Sala der Casa Gould gesprochen, geschrien und deklamiert. Das Mitleid mit diesen Männern, die sich inmitten der Niedertracht so ohnmächtig zeigten, bestimmte Charles Gould doch nicht dazu, ein Zeichen zu machen. Er litt zu sehr darunter, ihr Schicksalsgefährte im Bösen zu sein. Er überquerte unbehindert die Plaza. Der Amarilla-Klub war voll von zerlumpten Kerlen. Ihre wüsten Köpfe sahen aus jedem Fenster, und aus den Innenräumen klang betrunkenes Gebrüll, das Stampfen von Füßen und das Schwirren von Harfen. Die Scherben zerbrochener Flaschen bedeckten das Pflaster. Charles Gould fand in seinem Hause den Doktor noch vor.

Doktor Monygham trat von dem Spalt im Fensterladen zurück, durch den er die Straße beobachtet hatte.

»Ah! Sind Sie endlich zurück!« sagte er erleichtert. »Ich habe Frau Gould gesagt, Sie seien völlig sicher. Doch war ich durchaus nicht gewiß, daß der Bursche Sie wirklich freilassen würde.«

»Ich auch nicht«, gestand Charles Gould und legte seinen Hut auf den Tisch.

»Sie werden handeln müssen.«

Charles Goulds Schweigen schien einzugestehen, daß dies das einzig mögliche sei. Anders als so pflegte Charles Gould seine Absichten gemeinhin nicht zu äußern.

»Ich hoffe, Sie haben Montero nicht davor gewarnt, was Sie zu tun gedenken«, fragte der Doktor eifrig.

»Ich versuchte ihm klarzumachen, daß der Bestand der Mine mit meiner persönlichen Sicherheit verknüpft sei«, fuhr Charles Gould fort und sah dabei vom Doktor weg auf die Aquarellskizze an der Wand.

»Hat er Ihnen geglaubt?« fragte der Doktor schnell.

»Gott weiß es!« sagte Charles Gould. »Ich war es meiner Frau schuldig, das zu sagen. Er ist ziemlich gut unterrichtet. Er weiß, daß ich Don Pépé dort habe. Fuentes muß es ihm gesagt haben. Sie wissen, daß der alte Major durchaus imstande ist, die San Tomé-Mine ohne Zaudern oder Bedenken in die Luft zu sprengen. Ohne das hätte ich wohl kaum die Intendancia als freier Mann verlassen, glaube ich. Er würde alles in die Luft sprengen, aus Treue und aus Haß – aus Haß gegen diese Liberalen, wie sie sich nennen. Liberale! Die Worte, die man so gut kennt, haben in diesem Lande eine gespenstische Bedeutung. Freiheit, Demokratie, Patriotismus, Regierung – allen haftet der Beigeschmack von Mord und Irrsinn an. Nicht wahr, Doktor? . . . Ich allein kann Don Pépé zurückhalten. Sollten sie mich – mich abtun, so könnte nichts ihn hemmen.«

»Sie werden versuchen, ihn zu bestechen«, meinte der Doktor nachdenklich.

»Das ist sehr möglich«, sagte Charles Gould leise, wie zu sich selbst, und sah dabei immer noch nach der Skizze der San Tomé-Schlucht an der Wand. »Ja; ich erwarte, daß sie das versuchen werden.« Charles Gould sah zum erstenmal den Doktor an. »Es würde mir Zeit geben«, fügte er hinzu.

»Gewiß«, sagte Doktor Monygham mit unterdrückter Erregung. »Besonders, wenn Don Pépé sich diplomatisch benimmt. Warum sollte er ihnen nicht ein wenig Hoffnung auf Erfolg geben? Wie? Sonst würden Sie ja nicht soviel Zeit gewinnen. Könnte er nicht angewiesen werden . . .«

Charles Gould sah den Doktor fest an und schüttelte den Kopf; der andere aber fuhr mit einem gewissen Feuer fort:

»Ja, angewiesen werden, wegen der Übergabe der Mine in Unterhandlungen einzutreten. Das ist ein guter Gedanke. Sie könnten Ihren Plan reifen lassen. Natürlich frage ich nicht, was dieser Plan ist. Ich will es nicht wissen. Ich würde es ablehnen, Ihnen zuzuhören, wenn Sie es mir sagen wollten. Ich bin nicht geeignet für vertrauliche Mitteilungen.«

»Was für ein Unsinn«, murmelte Charles Gould mißbilligend.

Er mißbilligte des Doktors Empfindlichkeit wegen des weit zurückliegenden Vorfalls in seinem Leben. Ein so gutes Gedächtnis verletzte Charles Gould. Es war krankhaft. Wieder schüttelte er den Kopf. Er lehnte es ab, die Rechtlichkeit von Don Pépés Handlungsweise zu beeinflussen, aus persönlichen wie aus politischen Gründen. Die Weisungen hätten mündlich oder schriftlich sein müssen. In jedem Falle bestand die Gefahr, daß sie abgefangen wurden. Es war durchaus nicht gewiß, daß ein Bote die Mine erreichte; und überdies war niemand da, den man hätte schicken können. Es lag Charles Gould auf der Zunge, zu sagen, daß einzig nur der verstorbene Capataz der Cargadores zu verwenden gewesen wäre, mit einiger Aussicht auf Erfolg und Gewähr für Verschwiegenheit. Aber er sagte es nicht; er wies den Doktor nur darauf hin, daß es eine verfehlte Politik wäre. Sobald Don Pépé vermuten ließe, daß er zu bestechen sein könnte, mußte des Administrators und seiner Freunde persönliche Sicherheit in Gefahr geraten. Denn dann würde ja jeder Grund für Mäßigung entfallen. Don Pépés Unbestechlichkeit war die entscheidende Hemmung. Der Doktor ließ den Kopf hängen und gab zu, dies treffe in gewisser Hinsicht zu.

Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Gedankengang vernünftig genug war. Don Pépés Wert bestand in seinem fleckenlosen Ruf. Sein eigener Wert, überlegte der Doktor bitter, bestand ebenfalls in seinem Ruf. Er erklärte Charles Gould, er wisse ein Mittel, Sotillo wenigstens für den Augenblick von der Vereinigung mit Montero abzuhalten.

»Hätten Sie noch all das Silber da«, meinte der Doktor, »oder wüßte man nur, daß es noch in der Mine liegt, dann hätten Sie Sotillo dazu bestechen können, seinen frischgebackenen Monterismus abzuwerfen. Sie hätten ihn dazu bringen können, entweder in seinem Dampfer abzufahren oder sogar sich Ihnen anzuschließen.«

»Das letztere gewiß nicht«, erklärte Carlos Gould fest. »Was sollte man mit einem solchen Mann später anfangen – sagen Sie mir, Doktor? Das Silber ist fort, und ich bin froh darüber. Es wäre eine unmittelbare, starke Versuchung gewesen. Der Streit um diese greifbare Beute hätte ein böses Ende beschleunigt. Ich hätte es auch verteidigen müssen. Ich bin froh, daß wir es fortgeschafft haben – auch wenn es verloren ist. Es wäre eine Gefahr und ein Fluch gewesen.«

»Vielleicht hat er recht«, sagte der Doktor eine Stunde später hastig zu Frau Gould, die er im Korridor getroffen hatte. »Die Sache ist geschehen, und der Schatten des Schatzes mag vielleicht gleich gut wirken wie der Schatz selbst. Erlauben Sie mir, Ihnen mit dem ganzen Ausmaß meines schlechten Rufes zu dienen. Ich bin nun dabei, meine Verräterrolle bei Sotillo zu spielen und ihn von der Stadt fernzuhalten.«

Sie streckte in jäher Regung beide Hände aus. »Doktor Monygham, Sie laufen eine furchtbare Gefahr«, flüsterte sie und wandte ihre Augen voll Tränen von des Doktors Gesicht ab, um kurz nach der Türe ihres Gatten zu sehen. Sie drückte seine beiden Hände. Der Doktor stand wie angenagelt, sah zu ihr nieder und versuchte seine Lippen zu einem Lächeln zu zwingen.

»Oh, ich weiß, Sie werden mein Andenken verteidigen«, brachte er schließlich hervor und lief schwankend die Stiegen hinunter, durch den Innenhof zum Hause hinaus. In der Straße behielt er diese Eile bei und hinkte auf seine Art dahin, eine Instrumententasche unter dem Arm. Er war als loco bekannt. Niemand behelligte ihn. Vom Hafentor aus, über die staubige dürre Ebene weg, die mit Buschwerk bestanden war, sah er den häßlichen Block des Zollamts und die zwei oder drei andren Gebäude, die damals den Seehafen von Sulaco darstellten. Weit im Süden schlossen Gruppen von Palmenbäumen die Krümmung des Hafenufers ab. Die fernen Gipfel der Kordillere hatten im stetig dunkler werdenden Blau des östlichen Himmels ihre klaren Umrisse verloren. Der Doktor schritt eilig vorwärts. Vom Zenit schien ein verdunkelnder Schatten auf ihn niederzusinken. Die Sonne war untergegangen. Eine Zeitlang leuchteten noch die Schneefelder des Higuerota im Glanz der westlichen Glut. Der Doktor hielt gerade auf das Zollamt zu und hüpfte verlassen zwischen den dunklen Büschen dahin, wie ein dürrer Vogel mit gebrochenen Flügeln.

Purpurne, goldene und scharlachrote Tinten spiegelten sich im klaren Wasser des Hafens. Eine langgestreckte Landzunge, gerade wie eine Mauer, schloß das innere Becken ab. Vom Land aus waren auf der Kuppe die grasüberwachsenen Wälle des alten Forts deutlich zu erkennen; jenseits aber wiederholte sich das leuchtende Farbenspiel im Stillen Golf, in größerem Maßstab und noch düsterer in seiner Pracht. Die dunkle Wolkenmasse, die die Mündung des Golfs verhüllte, zeigte lange, rote Streifen in ihrer grau und schwarzen Schichtung, wie ein blutbefleckter, wallender Mantel. Die drei Isabellen, überschattet und scharf umrissen, schienen schwarzpurpurn in der Luft zu schweben, in deren stiller Klarheit Himmel und Meer verschwammen. Kleine Wölkchen schienen die sandigen Küsten mit Funken zu übersprühen. Der glasige Wasserstreifen am Kimm flammte rot, als hätten sich im weiten Bett des Ozeans Feuer und Wasser gemengt.

Schließlich verging der Brand von Himmel und See, die an der Grenze der Welt in feuriger Umarmung geruht hatten. Das Funkensprühen im Wasser erlosch zugleich mit den Blutflecken in dem schwarzen Mantel, der die düstere Mündung des Stillen Golfs verhüllte; eine plötzliche Brise sprang auf und erstarb wieder, nachdem sie im Buschwerk zwischen den verfallenen Erdwerken des Forts gerauscht hatte. Nostromo erwachte von einem vierzehnstündigen Schlaf und erhob sich von seinem Lager im hohen Grase. Er stand knietief im flüsternden Gewoge der grünen Halme, mit dem verlorenen Ausdruck eines Menschen, der eben in die Welt getreten ist. Schön, stark und geschmeidig, warf er den Kopf zurück, streckte die Arme, reckte sich mit einem leichten Nachgeben der Hüften und zeigte im wohlig gähnenden Mund die weißen Zähne – so natürlich und ohne Arg im Augenblick des Erwachens wie ein prachtvolles, unbewußtes Tier. Dann aber, in der plötzlichen Sammlung des Blicks unter den gerunzelten Brauen hervor, erschien der Mensch.

 


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