Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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VII

Es bildete einen Teil dessen, was Decoud seinen gesunden Materialismus nannte, daß er an die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen Mann und Frau nicht glaubte.

Die eine Ausnahme, die er zuließ, bestätigte nur die unbedingte Regel, so behauptete er. Freundschaft war möglich zwischen Bruder und Schwester, wenn man unter Freundschaft die hemmungslose Offenheit in Gedanken und Gefühlen einem andern Wesen gegenüber verstand; wobei die selbstlose und naturnotwendige Offenheit des einen der tiefen Zuneigung des andern zu antworten bemüht war.

Seine Lieblingsschwester, der schöne, eigenwillige und entschlossene Engel, beherrschte Vater und Mutter Decoud, in dem Heim im ersten Stock eines sehr vornehmen Pariser Hauses, und war zugleich das Gefäß für Martin Decouds Bekenntnisse – über seine Gedanken, Taten, Vorsätze, Zweifel und sogar Mißerfolge . . .

»Bereite unseren kleinen Kreis in Paris auf die Geburt noch einer südamerikanischen Republik vor. Eine mehr oder weniger, was macht es aus? Sie sind ans Licht gekommen wie Giftblumen aus dem Mistbeet verrotteter Einrichtungen. Der Same dieser einen aber hat in Deines Bruders Hirn gekeimt, und das wird ja wohl genügen, um ihr Deine freudige Zustimmung zu sichern. Ich schreibe Dir dies beim Licht einer einzigen Kerze, in einer Art Gasthaus nahe am Hafen, das von einem Italiener namens Viola, einem Protegé der Frau Gould, geführt wird. Das Haus mag, soviel ich mir denken kann, von einem der Konquistadoren vor etwa dreihundert Jahren für die Perlfischerei gebaut sein. Es ist nun ganz still. Still ist auch die Ebene zwischen der Stadt und dem Hafen, doch nicht so dunkel wie das Haus, denn die Abteilungen italienischer Arbeiter, die die Bahnlinie bewachen, haben längs der Strecke kleine Feuer angezündet. Gestern war es hier herum nicht so sehr ruhig. Wir hatten einen wilden Aufruhr – einen plötzlichen Aufstand des Pöbels, der erst gegen Ende des heutigen Tages unterdrückt worden ist. Sein Ziel war zweifellos Plünderung, und dies Ziel wurde nicht erreicht, wie Du ja schon aus den gestrigen Kabeln über San Franzisko und Neuyork erfahren haben mußt, die ich abends absandte, als die Leitungen noch offen waren. Du wirst daraus schon ersehen haben, daß das tatkräftige Eingreifen der Europäer von der Eisenbahn die Stadt vor Zerstörung bewahrt hat, und das kannst Du glauben. Ich habe die Depeschen selbst verfaßt. Wir haben keinen Reuter-Agenten hier. Ich habe auch auf den Pöbel aus den Fenstern des Klubs gefeuert, zugleich mit ein paar anderen jungen Leuten von Stellung. Wir wollten damit die Calle de la Constitucion für die Abfahrt der Frauen und Kinder frei halten, die an Bord einiger zufällig im Hafen liegender Frachtschiffe Zuflucht gesucht haben. Das war gestern. Du wirst auch aus der Depesche erfahren haben, daß der vermißte Präsident Ribiera, der nach der Schlacht bei Sta. Marta verschwunden war, infolge eines der seltsamen Zufälle, die fast unglaublich scheinen, hier in Sulaco aufgetaucht und auf einem lahmen Maultier mitten in den Straßenkampf hineingeritten ist. Es ergab sich, daß er in Begleitung eines Maultiertreibers namens Bonifacio vor den Drohungen Monteros über das Gebirge geflohen ist, geradewegs in die Arme eines wütenden Pöbels.

Der Capataz de Cargadores, dieser italienische Matrose, von dem ich Dir schon früher geschrieben habe, hat ihn von einem unwürdigen Tode errettet. Der Mann scheint ein eigenes Talent zu haben, an Ort und Stelle zu sein, wenn gerade etwas Bemerkenswertes zu tun ist.

Er war bei mir, um vier Uhr morgens, in der Redaktion des ›Porvenir‹, wo er zu so früher Stunde erschienen war, um mich vor den kommenden Unruhen zu warnen und mir zu versichern, daß er seine Cargadores auf Seiten der Ordnung halten wollte. Bei Tagesanbruch sahen wir zusammen auf die Menge zu Fuß und zu Pferd hinunter, die auf der Plaza demonstrierte und Steine in die Fenster der Intendancia warf. Nostromo (das ist der Name, bei dem sie ihn hier nennen) wies mir seine Cargadores, die unter der Menge verteilt waren.

Die Sonne kommt spät nach Sulaco, denn sie muß erst das Gebirge überklettern. Bei der eigenartigen Morgenbeleuchtung, heller als das Zwielicht, sah Nostromo jenseits der breiten Plaza, am Ende der Straße neben der Kathedrale, einen berittenen Mann in augenscheinlich heftiger Auseinandersetzung mit einem heulenden Haufen von Leperos. Sofort sagte er zu mir: »Das ist ein Fremder. Was machen sie bloß mit ihm?« Dann zog er die silberne Pfeife heraus, die er im Hafen zu gebrauchen pflegt (der Mann scheint Gebrauchsgegenstände aus einem weniger kostbaren Metall als Silber zu verschmähen), und blies zweimal hinein, was offenbar ein abgemachtes Zeichen für seine Cargadores war. Er rannte sofort hinaus, und sie scharten sich um ihn. Auch ich rannte hinaus, kam aber zu spät, um ihnen zu folgen und bei der Rettung des Fremden mitzuhelfen, dessen Tier gestürzt war. Ich wurde sofort als verhaßter Aristokrat umzingelt und war nur zu froh, mich in den Klub retten zu können, wo Don Jaime Berges (Du wirst Dich vielleicht erinnern, daß er uns vor etwa drei Jahren in Paris besucht hat) mir ein Jagdgewehr in die Hand drückte. Sie schossen schon aus den Fenstern. Auf den aufgeklappten Kartentischen lagen Patronen in kleinen Haufen herum. Ich erinnere mich an ein paar umgeworfene Stühle und einige Flaschen auf dem Boden, zwischen den Kartenspielen, die die Caballeros hingeworfen hatten, als sie sich von den Tischen erhoben, um das Feuer auf den Pöbel zu eröffnen. Die meisten der jungen Leute hatten in Erwartung eines derartigen Ereignisses die Nacht im Klub verbracht. In zweien der Armleuchter auf den Konsolen brannten die Kerzen nieder. Gerade als ich eintrat, flog ein großer Eisenbolzen, wahrscheinlich aus den Bahnwerkstätten gestohlen, von der Straße aus herein und zerschlug einen der großen, in die Wand eingelassenen Spiegel. Ich bemerkte auch einen der Klubdiener, der mit einer Vorhangschnur an Händen und Füßen gebunden und in einen Winkel geworfen worden war. Ich erinnere mich auch deutlich, daß Don Jaime mir hastig versicherte, der Bursche sei ertappt worden, wie er Gift ins Abendessen tun wollte. Aber ich weiß noch genau, daß er heulend um Gnade bat, ohne einen Augenblick aufzuhören und so völlig unbeachtet, daß sich niemand auch nur die Mühe nahm, ihn zu knebeln. Ich dachte sogar daran, es selbst zu tun, so peinlich war der Lärm, den er vollführte. Doch war an solche Kleinigkeiten keine Zeit zu verschwenden. Ich nahm meinen Platz an einem der Fenster ein und begann zu feuern.

Erst später am Nachmittag erfuhr ich, wer es war, den Nostromo mit seinen Cargadores und ein paar italienischen Arbeitern aus den Händen dieser betrunkenen Schufte glücklich gerettet hatte. Dieser Mann entfaltet eine eigenartige Begabung, sobald etwas zu tun ist, was die Einbildungskraft anregt. Das sagte ich ihm nachher, als wir uns wieder trafen, nachdem etwas wie Ordnung in der Stadt hergestellt war, und seine Antwort überraschte mich beträchtlich. Er sagte mürrisch: »Und was habe ich davon, Señor?« Da dämmerte es mir auf, daß die Eitelkeit des Mannes vielleicht durch die Verehrung des gemeinen Volkes und das Vertrauen seiner Vorgesetzten gesättigt wurde!«

Decoud unterbrach sich, um eine Zigarette anzuzünden, und blies dann, den Kopf noch über das Schreiben gebeugt, eine Rauchwolke vor sich hin, die von dem Papier zurückzuprallen schien. Er nahm den Bleistift wieder auf.

»Das war gestern abend, auf der Plaza, während er auf den Stufen der Kathedrale saß und die Hände mit den Zügeln seiner berühmten silbergrauen Stute zwischen den Knien hängen ließ. Er hatte den ganzen Tag über seine Cargadores prächtig geführt. Er sah müde aus. Ich weiß nicht, wie ich aussah. Sehr schmutzig, vermute ich. Aber wohl auch vergnügt. Von dem Augenblick an, wo der flüchtende Präsident an Bord der Minerva gelangt war, hatte sich der Erfolg gegen den Pöbel gekehrt. Die Menge war vom Hafen und aus den vornehmen Straßen der Stadt weg in ihre eigenen Schlupfwinkel vertrieben worden, das Gewirr von Ruinen und Tolderias. Du mußt Dir klarmachen, daß dieser Aufstand, dessen Hauptzweck es zweifellos gewesen war, der Silberbarren im Keller des Zollamtes habhaft zu werden (und nebenbei auch ganz allgemein die Ricos zu plündern), einen politischen Anstrich bekommen hatte, denn zwei Abgeordnete der Provinzialversammlung, die Señores Gamacho und Fuentes, beide aus Bolson, hatten sich an seine Spitze gestellt; am späten Nachmittage, es ist wahr, als der Pöbel, enttäuscht in seiner Hoffnung auf Plünderung, in den engen Straßen zu einem Halt kam, unter Geschrei: ›Viva la Libertad! Nieder mit dem Feudalismus!‹ (Ich wollte wohl wissen, was sie sich unter Feudalismus vorstellen?), ›Nieder mit den Barbaren und Paralytikern!‹ Ich nehme an, daß die Señores Gamacho und Fuentes wohl wußten, was sie taten. Sie sind kluge Herren. In der Versammlung nannten sie sich Gemäßigte und setzten jeder scharfen Maßnahme menschenfreundliche Bedenken entgegen. Beim ersten Gerücht von Monteros Sieg zeigte sich ein leichter Wechsel in dieser bloßen Bedenklichkeit, und sie begannen den armen Don Juste Lopez auf seinem Präsidentensitz mit einer Schamlosigkeit anzugreifen, der der arme Mann nur mit einem verblüfften Streicheln seines Bartes und dem Läuten der Präsidentenglocke zu begegnen wußte. Dann, als die Niederlage der Ribieristen über jeden Schatten eines Zweifels hinaus bestätigt war, entpuppten sie sich plötzlich als überzeugte Liberale, arbeiteten Hand in Hand, wie die siamesischen Zwillinge, und setzten sich plötzlich an die Spitze des Aufruhrs, im Namen der monteristischen Grundsätze.

Ihr letzter Schachzug, gestern abend um acht Uhr, war es, sich zum Monteristen-Komitee aufzuwerfen, das, soviel ich weiß, in der Posada eines ehemaligen mexikanischen Stierfechters (und nebenbei großen Politikers, seinen Namen habe ich vergessen) seine Sitzungen hält. Von dort aus haben sie einen Aufruf an uns erlassen, die Barbaren und Paralytiker des Amarilla-Klubs (wir haben unser eigenes Komitee), und uns eingeladen, uns mit ihnen wegen einer Waffenruhe zu verständigen – damit, hatten sie die Schamlosigkeit zu sagen, die erhabene Sache der Freiheit ›nicht befleckt werden sollte durch die verbrecherischen Ausbrüche konservativer Selbstsucht!‹ Als ich hinauskam, um mich neben Nostromo auf die Stufen der Kathedrale zu setzen, war man im Mittelsaal des Klubs, der mit ausgeschossenen Patronenhülsen, einer Menge von Glasscherben, Blutflecken, Kerzenleuchtern und allerlei Überresten übersät war, bei der Beratung einer passenden Antwort. Aber all dies ist Unsinn. Niemand in der Stadt hat die geringste Macht, außer den Bahningenieuren, deren Leute die von der Gesellschaft zum Bau des Bahnhofs auf Abbruch gekauften Häuser an einer Seite der Plaza besetzt halten; und außer Nostromo, dessen Cargadores unter den Arkaden längs Anzanis Warenhaus schliefen. Auf der Plaza brannte ein Feuer, aus zerbrochenen, meist vergoldeten Einrichtungsstücken der Salons der Intendancia; die hohen Flammen schlugen bis zum Standbild Karls IV. hinauf. Auf den Stufen des Sockels lag ein toter Mann, die Arme weit auseinandergebreitet und den Sombrero über das Gesicht gezogen – vielleicht der Liebesdienst eines Freundes. Der Schein der Flamme erreichte das Blätterwerk der ersten Bäume der Alameda und umspielte die Mündung einer nahen Straße, die durch ein Gewirr von Karren und toten Zugochsen versperrt war. Auf einem der Kadaver saß ein vermummter Lepero und rauchte eine Zigarette. Es war Waffenstillstand, mußt Du wissen. Das einzige Lebewesen auf der Plaza, außer uns selbst, war ein Cargador, der, ein langes, blankes Messer in der Hand, wie eine Schildwache vor den Arkaden auf und ab ging, wo seine Freunde schliefen; und der einzige sonstige Lichtfleck in der dunklen Stadt waren die erleuchteten Fenster des Klubs, an der Ecke der Calle.«

Als er bis hierher geschrieben hatte, erhob sich Don Martin Decoud, der exotische Dandy der Pariser Boulevards, und überquerte den sandbestreuten Boden des Cafés am einen Ende des Albergo d'Italia Una, das Giorgia Viola, der alte Gefährte Garibaldis, führte. Die grellfarbige Lithographie des edlen Helden schien im trüben Licht der einzigen Kerze den Mann anzublicken, der an nichts außer an die Wahrheit seiner Empfindungen glaubte. Während er zum Fenster hinaussah, traf Decoud auf eine so undurchdringliche Dunkelheit, daß er weder die Berge noch die Stadt noch auch die Gebäude am Hafen ausnehmen konnte; und kein Laut war zu hören, als hätte sich die furchtbare Finsternis des stillen Golfs vom Wasser aus über das Land verbreitet und es, neben der Blindheit, auch mit Stummheit geschlagen. Ein grelles weißes Licht tauchte weit weg in der Dunkelheit auf und wuchs mit donnerndem Getöse. Der Wagenpark, der gewöhnlich auf den Seitengeleisen in Rincon gehalten wurde, kam zur besseren Aufbewahrung in den Güterbahnhof zurück. Wie ein geheimnisvolles Wallen in der Dunkelheit brauste der Zug hinter den Lichtern der Maschine an der Ecke des Hauses vorbei, das zur Antwort über und über zu erzittern schien. Nichts war klar zu erkennen, außer einem Neger, der in weißer Hose mit nacktem Oberleib am Ende der letzten Lore saß und mit einem Kreisen seines nackten Armes unaufhörlich eine brennende Fackel schwang. Decoud rührte sich nicht.

Hinter ihm, auf der Rücklehne des Stuhls, von dem er sich erhoben hatte, hing sein eleganter Pariser Überrock mit einem Aufschlag aus perlgrauer Seide. Als er sich wandte, um zum Tisch hinzugehen, zeigte ihm das Kerzenlicht im Spiegel ein rußiges, entstelltes Gesicht: die rosigen Lippen schwarz von der Hitze und dem Pulverrauch; Staub und Schmutz hatten dem kurzen Bart den Glanz genommen; der Hemdkragen und die Manschetten waren zerknüllt; der blaue Seidenbinder hing wie ein Fetzen herunter; über die weiße Stirne lief ein schwarzer, fettiger Rußstreifen. Decoud war während nahezu vierzig Stunden nicht aus den Kleidern gekommen und hatte kein Wasser gebraucht, außer zu einem gelegentlichen, hastigen Trank. Eine furchtbare Unrast hatte ihn überkommen, ihm alle Merkmale eines verzweifelten Kampfes aufgedrückt und einen trockenen, schlaflosen Blick in seine Augen gebracht. Er murmelte heiser vor sich hin: »Ich möchte wohl wissen, ob es hier irgendwo Brot gibt«, sah flüchtig um sich, setzte sich dann wieder auf den Stuhl und nahm den Bleistift auf. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er seit vielen Stunden nichts gegessen hatte.

Er fühlte, daß niemand ihn so gut verstehen konnte wie seine Schwester. Selbst im ungläubigsten Herzen lauert in solchen Augenblicken, wo das Leben auf dem Spiele steht, die Sehnsucht, eine genaue Darstellung seiner Gefühle zu hinterlassen, wie ein Licht, in dessen Schein die Tat zu sehen sein soll, wenn die Persönlichkeit dahingegangen ist. Dahin, wo kein forschendes Licht mehr die Wahrheit erreichen kann, die jeder Tod auf dieser Welt fortnimmt. Darum füllte Decoud die Seiten eines großen Taschenbuchs mit einem Brief an seine Schwester, anstatt sich nach etwas Eßbarem umzusehen oder sich eine Stunde Schlaf zu gönnen.

Aus dieser trauten Unterhaltung vermochte er nicht seine große Müdigkeit, seine große Erschöpfung wegzuhalten, seine sehr regen leiblichen Gefühle. Er begann von neuem, als spräche er zu ihr. Fast als säße sie ihm gegenüber, schrieb er den Satz: »Ich bin sehr hungrig.

Ich habe das Gefühl einer großen Einsamkeit um mich«, fuhr er fort. »Kommt es vielleicht daher, daß ich inmitten des allgemeinen Niederbruchs aller Entschlußkraft, Absicht und Hoffnung ringsum der einzige Mann bin, der eine feste Idee im Kopfe hat? Aber die Einsamkeit ist auch sehr wirklich. Alle die Ingenieure sind fort, schon seit zwei Tagen, um das Eigentum der Nationalen Zentralbahn zu behüten, dieses großen Costaguana-Unternehmens, das Geld in die Taschen von Engländern, Franzosen, Amerikanern, Deutschen und weiß Gott von wem sonst noch bringen soll. Die Stille um mich ist unheimlich. Über dem Mittelteil dieses Hauses liegt eine Art erster Stock, mit schmalen Öffnungen, wie Schießscharten, als Fenstern; wahrscheinlich wurde er in früheren Zeiten zur besseren Verteidigung gegen die Wilden benutzt, als die hartnäckige Barbarei unseres heimatlichen Erdteils sich noch nicht in die schwarzen Röcke von Politikern kleidete, sondern heulend, halbnackt, mit Bogen und Pfeilen herumlief. Die Frau des Hauses stirbt dort oben, glaube ich, ganz allein mit ihrem alten Gatten. Eine enge Stiege führt hinauf, von der Art, wie sie ein Mann leicht gegen eine Menge verteidigen kann, und ich habe gerade durch die dicke Mauer gehört, wie der Alte in die Küche hinunterging, um irgendwas zu holen. Es war ein Geräusch, wie es eine Maus hinter dem Wandverputz machen könnte. Alle Dienstboten, die die Leute hatten, sind gestern davongelaufen und noch nicht zurückgekommen, wenn sie es überhaupt jemals tun. Sonst sind nur zwei Kinder da, zwei Mädchen. Der Vater hat sie heruntergeschickt, und sie sind in dieses Café gekrochen, vielleicht, weil ich hier bin. Sie kauern nebeneinander in einer Ecke und halten sich umschlungen. Ich habe sie eben erst bemerkt und fühle mich einsamer als je.«

Decoud wandte sich halb in seinem Stuhl und fragte: »Ist etwas Brot im Hause?«

Linda schüttelte zur Antwort ihren dunklen Kopf, über dem blonden ihrer Schwester, der an ihrer Brust ruhte.

»Könntet ihr mir nicht ein bißchen Brot besorgen?« beharrte Decoud. Das Kind rührte sich nicht. Er sah die großen Augen, sehr dunkel, aus der Ecke auf sich gerichtet. »Ihr fürchtet euch doch nicht vor mir?« fragte er.

»Nein«, sagte Linda. »Wir fürchten uns nicht vor Ihnen. Sie sind mit Giambattista hergekommen.«

»Ihr meint Nostromo?« sagte Decoud.

»Die Englischen nennen ihn so, aber das ist kein Name für Mann oder Tier«, sagte das Mädchen und streichelte das Haar der Schwester.

»Aber er läßt sich von den Leuten so nennen«, bemerkte Decoud.

»Nicht in diesem Hause«, gab das Kind zurück.

»Nun gut, so werde ich ihn den Capataz nennen.«

Decoud ließ den Gegenstand fallen, schrieb ruhig eine Zeile weiter und wandte sich dann nochmals um:

»Wann erwartet ihr ihn zurück?« fragte er.

»Nachdem er Sie hierhergebracht hat, ist er wieder weggeritten, um aus der Stadt den Señor Doctor für Mutter zu holen. Er wird bald zurück sein.«

»Er hat alle Aussicht, irgendwo unterwegs erschossen zu werden«, murmelte Decoud hörbar vor sich hin; und Linda erklärte mit ihrer schrillen Stimme:

»Niemand würde es wagen, auf Giambattista zu schießen.«

»Du glaubst das, ja?« fragte Decoud.

»Ich weiß es«, sagte das Kind mit Überzeugung. »Es gibt niemand hier, der tapfer genug wäre, Giambattista anzugreifen.«

»Es gehört nicht viel Mut dazu, hinter einem Busch einen Drücker abzuziehen«, murmelte Decoud vor sich hin. »Zum Glück ist die Nacht finster, sonst wäre wenig Aussicht, das Silber der Mine zu retten.«

Er wandte sich wieder seinem Taschenbuch zu, überflog die geschriebenen Seiten und setzte den Bleistift wieder in Tätigkeit.

»So war die Lage gestern abend, nachdem die Minerva mit dem flüchtigen Präsidenten den Hafen verlassen hatte und die Aufrührer in die Vorstadtviertel zurückgedrängt waren. Ich saß mit Nostromo auf den Stufen der Kathedrale, nachdem ich die Kabelbotschaft abgesandt hatte, um eine mehr oder minder aufmerksame Welt von den Geschehnissen zu unterrichten. Obwohl die Amtsräume der Kabelgesellschaft sich in demselben Gebäude befinden wie das ›Porvenir‹, hatte der Pöbel, merkwürdig genug, die Apparate im Innenflügel unberührt gelassen, während meine Druckpressen aus dem Fenster gestürzt und die Typen über die ganze Plaza verstreut worden waren. Während ich so im Gespräch mit Nostromo dasaß, trat Bernhardt, der Telegraphist, mit einem Blatt Papier in der Hand aus den Arkaden. Der kleine Mann hatte sich an einen ungeheuern Säbel gebunden und war über und über mit Revolvern behängt. Er ist lächerlich, aber der tapferste Deutsche seiner Größe, der je auf einen Morsetaster drückte. Er hatte aus Cayta die Nachricht bekommen, daß die Transportschiffe mit Barrios' Truppen eben in den Hafen einliefen; der Bericht schloß mit den Worten: ›Die größte Begeisterung herrscht.‹ Ich ging fort, um am Brunnen einen Schluck Wasser zu trinken, und wurde von der Alameda aus von jemand, der sich hinter einem Baum verbarg, beschossen. Aber ich trank und kümmerte mich nicht darum; mit Barrios in Cayta und der großen Kordillere zwischen uns und Monteros siegreicher Armee schien es mir, trotz den Herren Gamacho und Fuentes, als hielte ich meinen neuen Staat auf der flachen Hand. Ich wollte schlafen; als ich aber bis zur Casa Gould kam, fand ich den Innenhof voll von Verwundeten, die auf Stroh gebettet lagen. Lichter brannten, und in dem eingeschlossenen Hof hatte sich die heiße Nachtluft mit dem Geruch von Chloroform und Blut gesättigt. Am einen Ende verband Dr. Monygham, der Arzt der Mine, die Wunden; am andern, nahe bei der Stiege, nahm Vater Corbelàn kniend die Beichte eines sterbenden Cargadors entgegen. Frau Gould wanderte diese Fleischbank auf und ab, eine große Flasche in einer Hand und einen Bausch Verbandwatte in der andern. Sie sah mich flüchtig an, ohne mir auch nur zuzuzwinkern. Ihre Kammerzofe folgte ihr, trug auch eine Flasche und schluchzte leise vor sich hin.

Eine Zeitlang beschäftigte ich mich damit, aus der Zisterne Wasser für die Verwundeten zu schöpfen. Dann ging ich die Stiegen hinauf und traf einige der ersten Damen von Sulaco, bleicher, als ich sie je gesehen hatte, mit Wundbinden über den Armen. Sie waren nicht alle auf die Schiffe geflohen. Ziemlich viele hatten für diesen Tag in der Casa Gould Zuflucht gesucht. Auf dem Treppenabsatz kniete ein Mädchen mit halbgelöstem Haar, unter der Wandnische, in der die Madonna in blauen Kleidern mit der goldenen Krone auf dem Kopfe steht. Ich glaube, es war das älteste Fräulein Lopez. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, erinnere mich aber, daß mir der hohe französische Absatz ihres kleinen Schuhs auffiel. Sie gab keinen Laut von sich, regte sich nicht, schluchzte nicht; sie verharrte dort, ganz still, ganz schwarz gegen die weiße Mauer, ein stummes Bild inniger Frömmigkeit. Ich bin sicher, daß sie nicht verängstigter war als die anderen blassen Damen mit den Verbandstoffen, denen ich begegnete. Eine von ihnen saß auf der obersten Stufe und riß hastig ein Stück Leinen in Streifen – die junge Gattin eines ältlichen, reichen Bürgers. Sie unterbrach sich, um meine Verbeugung mit einem Schwenken der Hände zu beantworten, als führe sie in ihrer Kutsche durch die Alameda. Die Frauen unseres Landes sind es wohl wert, daß man sie sich während einer Revolution ansieht. Das künstliche Rot und der Perlpuder fallen ab, zugleich mit der teilnahmlosen Haltung gegen die Außenwelt, die Erziehung, Herkommen und Sitte ihnen von Kindheit an auferlegen. Ich dachte an Dein Gesicht, das von Kind auf den Stempel der Klugheit getragen hat, anstatt des geduldigen und ergebenen Ausdrucks, der sich hier zeigt, wenn ein politischer Aufruhr den Schleier der Schönheitspflege und des Herkommens wegreißt.

Und in der großen Sala im ersten Stock hatte sich so etwas wie eine Junta der Notabeln zusammengetan, ein Rest der verschwundenen Provinzialversammlung. Don Juste Lopez' Bart war halb abgesengt von dem Mündungsfeuer eines Schießprügels; von der Ladung aus groben Eisenstücken hatte ihn zum Glück kein Splitter erreicht. Wie er nun den Kopf von einer Seite zur anderen wandte, schien es, als steckten zwei Männer in seinem Gehrock: ein feierlicher, mit vornehmem Backenbart, und ein verstümmelter, erschreckter.

Bei meinem Eintritt schrien sie: ›Decoud! Don Martin!‹ Ich fragte: ›Worüber beraten Sie, meine Herren?‹ Es schien keinen Vorsitzenden zu geben, obwohl Don José Avellanos am Kopfende des Tisches saß. Sie antworteten alle zugleich: ›Über die Rettung von Leben und Eigentum.‹ – ›Bis zur Ankunft der neuen Beamtenschaft‹, erklärte mir Don Juste und kehrte mir dabei die feierliche Seite seines Gesichtes zu. Es war, als träfe ein kalter Wasserguß meine glühende Idee des neuen Staates. Es sauste mir in den Ohren, und das Zimmer verschwamm mir vor den Augen, als hätte es sich plötzlich mit Dampf gefüllt.

Ich tappte wie betrunken bis zum Tisch hin. ›Sie beraten die Übergabe‹, sagte ich. Sie saßen alle ganz still, die Nasen über den Bogen Papier gebeugt, den jeder, Gott weiß warum, vor sich liegen hatte. Nur Don José verbarg sein Gesicht in den Händen und murmelte: ›Niemals! Niemals!‹ Als ich ihn aber ansah, da schien es mir, als könnte ich ihn mit einem bloßen Hauch wegblasen, so elend, so schwach, so verfallen sah er aus. Was immer auch geschieht, er wird es nicht überleben. Die Enttäuschung ist zu groß für einen Mann seines Alters; und hat er nicht auch die Bogen von ›Fünfzig Jahre Mißwirtschaft‹, die wir auf den Pressen des ›Porvenir‹ zu drucken begonnen hatten, über die Plaza verstreut, in den Rinnsteinen flattern sehen, als Pfropfen für Donnerbüchsen über einer Ladung von Drucktypen benutzt, im Winde fliegend oder in den Schmutz getreten? Ich habe sogar einzelne Blätter auf dem Wasser des Hafens treiben sehen. Es wäre unvernünftig, anzunehmen, daß er es überleben sollte. Es wäre grausam.

›Wissen Sie‹, rief ich, ›was die Übergabe für Sie bedeutet, für Ihre Frauen, für Ihre Kinder, Ihr Eigentum?‹

Ich redete fünf Minuten lang, ohne Atem zu schöpfen, scheint es mir, stützte mich auf unsere besten Aussichten, auf die Grausamkeit Monteros, den ich als ein so mächtiges Untier hinstellte, wie er es zweifellos gern wäre, hätte er nur Verstand genug, sich den rechten Begriff von Schreckensherrschaft zu bilden. Und dann ließ ich durch weitere fünf Minuten einen leidenschaftlichen Aufruf an ihren Mut und ihre Männlichkeit los, mit all der Inbrunst meiner Liebe zu Antonia. Nun, wenn je ein Mann gut gesprochen hat, so gewiß nur aus persönlichem Empfinden heraus, sei es, daß er einen Feind anklagte, sich selbst verteidigte oder für das eintrat, was vielleicht wirklich teurer sein mag als das Leben. Mein liebes Mädel, ich habe sie einfach angedonnert. Es schien, als sollte meine Stimme die Wände zersprengen, und als ich innehielt, da sah ich alle die erschreckten Augen zweifelnd auf mich gerichtet. Und das war die ganze Wirkung, die ich erreicht hatte. Nur Don Josés Kopf war tiefer und tiefer auf seine Brust gesunken. Ich beugte mein Ohr zu seinen blassen Lippen und konnte ihn flüstern hören, etwas wie: ›In Gottes Namen denn, Martin, mein Sohn!‹ Ich weiß es nicht genau. Der Name Gottes kam darin vor, das ist sicher. Es scheint mir, als hätte ich seinen letzten Atemzug belauscht – den Hauch seiner scheidenden Seele auf seinen Lippen.

Er lebt noch, es ist wahr; ich habe ihn seither gesehen; aber es war nur ein greiser Leib, auf dem Rücken liegend, bis zum Kinn in Decken gehüllt, mit offenen Augen und so still, daß man hätte meinen können, es sei kein Leben mehr in ihm. So verließ ich ihn und Antonia, die neben seinem Bette kniete, bevor ich hierher in die Posada dieses Italieners kam, wo gleichfalls der allgegenwärtige Tod lauert. Aber ich weiß, daß Don José wahrhaft dort gestorben ist, in der Casa Gould, mit der geflüsterten Mahnung an mich, das zu versuchen, was seine in der Heiligkeit diplomatischer Verträge und feierlicher Erklärungen befangene Seele zweifellos verabscheut haben muß. Ich hatte sehr laut ausgerufen: ›Niemals wird es einen Gott in einem Lande geben, wo die Männer sich nicht selbst helfen wollen.‹

Inzwischen hatte Don Juste eine salbungsvolle Ansprache begonnen, deren feierliche Wirkung ein wenig durch das lächerliche Mißgeschick mit seinem Bart beeinträchtigt wurde. Ich wartete das Ende nicht ab. Er schien ausführen zu wollen, daß Monteros (er nannte ihn General) Absichten wahrscheinlich nicht schlecht wären, obwohl, fuhr er fort, ›dieser ausgezeichnete Mann‹ (knapp eine Woche vorher pflegte er ihn eine Gran' bestia zu nennen) ›vielleicht bezüglich der rechten Mittel im Irrtum war‹. Wie Du Dir denken kannst, hielt ich mich nicht damit auf, das Ende abzuwarten. Ich kenne die Absichten von Monteros Bruder Pedrito, des Guerilleros, den ich vor einigen Jahren in Paris bloßstellte, in einem von südamerikanischen Studenten besuchten Café, wo er sich als Legationssekretär auszugeben versuchte. Er pflegte hereinzukommen und stundenlang zu reden, wobei er seinen Filzhut in haarigen Tatzen drehte; es schien sein Ehrgeiz, eine Art von Duc de Morny neben einer Art Napoleon zu werden. Damals schon pflegte er von seinem Bruder in geschwollenen Tönen zu reden. Er schien sich vor Entdeckung recht sicher zu fühlen, denn die Studenten, durchwegs Mitglieder der Blanco-Familien, verkehrten, wie Du Dir vorstellen kannst, nicht in der Gesandtschaft. Nur Decoud, ein Mann ohne Glauben und Grundsätze, wie sie sagten, ging ab und zu dorthin – des Spaßes halber, wie zu einer Vorführung abgerichteter Affen. Ich kenne Pedritos Absichten. Ich habe ihn bei Tisch die Teller wechseln sehen. Wer immer auch unter dem Terror wird weiterleben dürfen –: ich muß des Todes sterben.

Nein, ich hielt mich nicht damit auf, Don Juste Lopez zu Ende zu hören, der sich selbst in einer ernsten Rede von der Milde und Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit und Reinheit der Brüder Montero zu überzeugen versuchte. Ich ging ohne weiteres hinaus, um Antonia zu suchen. Ich traf sie in der Galerie. Als ich die Türe öffnete, streckte sie mir die gerungenen Hände entgegen:

›Was tun Sie da drin?‹ fragte sie.

›Reden‹, sagte ich und sah ihr fest in die Augen.

›Ja, ja, aber . . .

›Leeres Gewäsch‹, unterbrach ich sie. ›Verstecken ihre Angst hinter blödsinnigen Hoffnungen. Lauter große Parlamentarier – nach englischem Muster, Sie wissen ja.‹ Ich war so wütend, daß ich kaum sprechen konnte. Sie machte eine Gebärde der Verzweiflung.

Durch die Türe, die ich hinter mir ein wenig offenhielt, hörten wir Don Justes gemessene, eintönige Stimme von Phrase zu Phrase weitergehen, wie in einem Anfall fürchterlich feierlichen Irrsinns.

›Letzten Endes haben vielleicht die demokratischen Bestrebungen ihre Berechtigung. Die Wege des menschlichen Fortschritts sind unergründlich, und wenn das Schicksal des Landes in Monteros Händen ist, so sollten wir . . .

Daraufhin schlug ich die Türe zu; es war genug; es war zuviel. Nie hat ein schönes Gesicht mehr Grauen und Verzweiflung ausgedrückt als Antonias Gesicht. Ich konnte es nicht ertragen. Ich faßte sie bei den Handgelenken.

›Haben Sie da drin meinen Vater getötet?‹ fragte sie.

Ihre Augen blitzten vor Empörung, als ich sie aber wie gebannt ansah, ging das Licht darin aus.

›Es ist eine Übergabe‹, sagte ich. Und ich erinnere mich, daß ich ihre Handgelenke schüttelte, die ich umfaßt hielt. ›Aber es ist mehr als Gerede. Ihr Vater hat mir gesagt, in Gottes Namen fortzufahren.‹

Mein liebes Mädel, Antonia hat etwas an sich, das mich an die Durchführbarkeit der unmöglichsten Sache glauben lassen könnte. Ein Blick auf ihr Gesicht genügt, um mein Gehirn in Brand zu setzen. Und doch liebe ich sie, wie jeder andere Mann es auch täte – mit dem Herzen, und nur mit dem. Sie ist mir mehr, als seine Kirche dem Vater Corbelàn (der Großvikar ist letzte Nacht aus der Stadt verschwunden. Vielleicht hat er sich der Bande des Hernandez angeschlossen). Sie ist mir mehr als dem sentimentalen Engländer seine Mine. Von seiner Frau will ich nicht reden. Die mag einmal sentimental gewesen sein; nun steht die San Tomé-Mine zwischen diesen beiden Leuten. ›Ihr Vater selbst, Antonia‹, wiederholte ich. ›Ihr Vater, verstehen Sie? hat mir gesagt, ich sollte fortfahren.‹

Sie wandte ihr Gesicht ab und rief mit gequälter Stimme:

›Hat er das? Dann, fürchte ich, wird er wirklich nie mehr sprechen.‹

Sie befreite ihr Handgelenk aus meinem Griff und begann in ihr Taschentuch zu weinen. Ich beachtete ihren Kummer nicht; ich wollte sie lieber elend als gar nicht sehen, nie wieder. Denn ob ich nun entfloh oder dablieb, um zu sterben, so gab es für uns doch kein Zusammenkommen, keine Zukunft; und da dies so war, so hatte ich auf die flüchtigen Augenblicke ihres Kummers keine Zeit zu verschwenden. Ich schickte sie in Tränen fort, um Doña Emilia und auch Don Carlos zu holen. Deren Gefühl war nötig, um meinem Plan Leben zu geben. Die Gefühlsduselei von Leuten, die nie etwas um ihres eigenen leidenschaftlichen Wunsches willen tun mögen, wenn es ihnen nicht im Märchenkleide einer Idee entgegentritt.

Spät in der Nacht bildeten wir zu viert eine kleine Junta – die beiden Frauen, Don Carlos und ich – in Frau Goulds blau und weißem Boudoir. El Rey de Sulaco hält sich selbst zweifellos für einen sehr ehrlichen Mann. Und das ist er auch, wenn man nur hinter seine Schweigsamkeit kommen könnte. Vielleicht glaubt er, daß diese allein seine Ehrenhaftigkeit makellos erhält. Diese Engländer leben in Illusionen, die ihnen aber doch auf irgendeine Weise helfen, das Wesen der Dinge zu erfassen. Wenn Don Carlos spricht, dann ist es nur ein seltenes ›ja‹ oder ›nein‹ – so unpersönlich wie die Worte eines Orakels. Mir aber konnte er mit dieser stummen Zurückhaltung nichts vormachen. Ich wußte, was er in seinem Kopfe hatte: die Mine. Und seine Frau hat nichts im Kopfe als seine kostbare Person, die er an die Gould-Konzession gehängt und mit dieser zusammen der kleinen Frau um den Hals gebunden hat. Macht nichts. Es kam darauf an, ihn dazu zu bringen, die Sache Holroyd (dem Stahl- und Silberkönig) auf solche Art darzustellen, daß der seinen finanziellen Beistand gewährte. Letzte Nacht um diese Zeit, gerade vor vierundzwanzig Stunden, glaubten wir das Silber der Mine in Sicherheit im Gewölbe des Zollamtes, bis der nordwärts gehende Dampfer kommen und es mitnehmen würde. Und solange der Silberstrom ungehemmt nordwärts fließt, wird der ausgemachte Gefühlsmensch Holroyd nicht von dem Gedanken lassen, nicht nur Gerechtigkeit, Gewerbefleiß, Frieden in diesen dunklen Erdteil zu bringen, sondern auch seinen Lieblingstraum, eine reinere Form von Christentum. Später kam der Erste der wirklichen Europäer in Sulaco, der Chefingenieur der Eisenbahn, vom Hafen aus die Calle heraufgeritten und wurde zu unserem Konklave zugelassen. Unterdessen beriet die Junta der Notabeln in der großen Sala immer noch. Nur war einer von ihnen in den Korridor herausgelaufen, um den Diener zu fragen, ob nicht etwas zu essen hineingeschickt werden könnte. Die ersten Worte des Chefingenieurs, als er in das Boudoir trat, waren: ›Was ist Ihr Haus, liebe Frau Gould? Unten ein Lazarett, oben scheinbar ein Restaurant. Ich habe gesehen, wie Platten voll guter Sachen in die Sala getragen wurden.‹

›Und hier in diesem Boudoir‹, sagte ich, ›sehen Sie das Kabinett der künftigen Westlichen Provinz versammelt.‹

Er war so in Gedanken, daß er dazu nicht einmal lächelte. Er schien nicht einmal überrascht.

Er erzählte uns, er sei eben mit den Anstalten zur Verteidigung des Bahneigentums im Güterbahnhof beschäftigt gewesen, als er in das Bahntelegraphenamt gerufen worden war. Der Ingenieur der Kopfstation, am Fuß des Gebirges, wünschte von seinem Ende des Drahtes her mit ihm zu sprechen. In dem Amtszimmer sei außer ihm selbst nur der Bahntelegraphist anwesend gewesen, der die Botschaft laut las, während der Papierstreifen sich auf dem Boden ringelte. Und die Botschaft, etwas hastig in einer Holzhütte im Walde abgeklappert, habe den Chefingenieur unterrichtet, daß Präsident Ribiera verfolgt worden sei oder noch verfolgt werde. Das allerdings war für uns alle in Sulaco eine Neuigkeit. Ribiera selbst, als wir ihn gerettet, gestärkt, beruhigt hatten, war der Meinung gewesen, er wäre nicht verfolgt worden.

Ribiera hatte den dringenden Vorstellungen seiner Freunde nachgegeben und das Hauptquartier seiner geschlagenen Armee allein verlassen, unter der Führung Bonifacios, des Maultiertreibers, der bereit gewesen war, die Verantwortung zugleich mit der Gefahr auf sich zu nehmen. Er war bei Anbruch des dritten Tages losgeritten. Der Rest seiner Streitkräfte hatte sich während der Nacht verlaufen. Bonifacio und er ritten auf Pferden eilig auf die Kordillere zu; dann verschafften sie sich Maultiere, schlugen die Paßwege ein und kreuzten das Paramo de Ivie, knapp bevor ein Schneesturm über die steinige Hochfläche wegfuhr und die kleine steinerne Schutzhütte, in der sie die Nacht zugebracht hatten, unter einer Schneewehe begrub. Danach hatte der arme Ribiera viele Abenteuer, wurde von seinem Führer getrennt, verlor sein Reittier, kämpfte sich zu Fuß bis ins Campo hinunter und wäre weit weg von Sulaco umgekommen, hätte er sich nicht der Gnade eines Ranchero empfohlen. Dieser Mann, der ihn, nebenbei gesagt, sofort erkannt hatte, gab ihm ein neues Maultier, das der Flüchtling, schwer und ungeübt, zu Tode ritt. Und es war richtig, daß er von einer Abteilung verfolgt worden war, die niemand Geringerer als Pedro Montero, der Bruder des Generals, befehligte. Zum Glück überraschte der kalte Wind des Paramo die Verfolger auf der Paßhöhe. Einige Männer und alle Tiere kamen in dem Schneesturm um. Die Nachzügler starben, der Kern der Schar aber blieb auf der Fährte. Sie fanden den armen Bonifacio halbtot an einem Schneewall und erstachen ihn mit Bajonetten, nach der rechten Art des Bürgerkrieges. Sie hätten auch Ribiera in die Hände bekommen, wenn sie nicht aus irgendeinem Grunde den alten Camino Real verlassen und sich dabei im Wald in den Hügelausläufern verirrt hätten. Und schließlich gerieten sie völlig unerwartet in das Lager der Bauabteilung. Der Ingenieur der Kopfstation unterrichtete seinen Vorgesetzten drahtlich, daß er Pedro Montero unmittelbar nahe, neben sich habe, im Amtszimmer; er höre dem Morseklappern zu. Er gedenke Sulaco im Namen der Demokratie in Besitz zu nehmen. Er gebärde sich sehr überheblich. Seine Leute schlachteten einiges Vieh aus der Herde der Bahngesellschaft, ohne um Erlaubnis zu fragen, und schickten sich an, das Fleisch zu rösten. Pedro habe sich sehr eingehend nach der Silbermine erkundigt und auch gefragt, was aus dem Ertrag der letzten sechs Monate geworden sei. Er habe gebieterisch gesagt: ›Fragen Sie drahtlich Ihren Chef dort unten, er muß es wissen. Sagen Sie ihm, daß Don Pedro Montero, Oberbefehlshaber des Campo und Minister des Innern der neuen Regierung, genau unterrichtet zu werden wünscht.‹

Er hatte die Füße mit blutigen Lappen umwickelt, ein mageres, eingefallenes Gesicht, wirres Haar und zerzausten Bart und war hinkend, auf einen krummen Baumast gestützt, hereingekommen. Seine Begleiter waren vielleicht in noch schlechterer Verfassung, hatten aber offenbar nicht ihre Waffen weggeworfen und gewiß auch nicht alle Munition. Ihre elenden Gesichter füllten die Türe und die Fenster des Telegraphenschuppens. Da dieser zugleich auch den Schlafraum des leitenden Ingenieurs darstellte, hatte sich Montero auf die sauberen Decken geworfen, lag frostzitternd da und diktierte Forderungen, die drahtlich nach Sulaco weitergegeben werden sollten. Er verlangte, daß augenblicklich ein Güterzug herübergeschickt würde, um seine Leute nach Sulaco zu bringen.

›Darauf antwortete ich von meinem Ende aus‹, berichtete uns der Chefingenieur, ›daß ich es nicht wagen könne, das rollende Material ins Innere zu schicken, da längs der ganzen Strecke wiederholt Versuche gemacht worden seien, Züge zur Entgleisung zu bringen. Das tat ich mit Rücksicht auf Sie, Gould‹, sagte der Chefingenieur. ›Die Antwort darauf war, in den Worten meines Untergebenen: Das schuftige Vieh auf meinem Bett sagt: »Und wenn ich Sie erschießen lasse?« Worauf mein Untergebener, der, wie es scheint, selbst telegraphierte, zurückgab, daß dies die Wagen nicht heraufbringen würde. Darauf habe der andere gähnend gesagt: »Macht nichts, es gibt ja Pferde genug auf dem Campo«, habe sich umgedreht und sei auf Harris' Bett eingeschlafen.‹

Darum, mein liebes Mädel, bin ich heute nacht ein Flüchtling. Die letzte Drahtnachricht von der Kopfstation besagt, daß Pedro Montero und seine Leute bei Tagesgrauen aufgebrochen sind, nachdem sie sich die ganze Nacht an geröstetem Ochsenfleisch vollgegessen hatten. Sie haben alle Pferde beschlagnahmt. Auf der Straße werden sie noch mehr finden; sie werden in weniger als dreißig Stunden hier sein, und darum ist in Sulaco kein Platz mehr, weder für mich noch für den großen Silberschatz der Gould-Konzession.

Aber dies ist nicht das Schlimmste. Die Garnison von Esmeralda ist zu der siegreichen Partei übergegangen. Das haben wir durch den Telegraphisten der Kabelgesellschaft erfahren, der früh am Morgen mit der Nachricht in die Casa Gould kam. Es war so früh, daß der Tag über Sulaco noch nicht völlig angebrochen war. Sein Kollege in Esmeralda hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, daß die Garnison einige der Offiziere erschossen und einen im Hafen liegenden Regierungsdampfer in Besitz genommen habe. Das ist wirklich ein schwerer Schlag für mich. Ich glaubte mich auf jeden Mann in dieser Provinz verlassen zu können. Es war ein Irrtum. In Esmeralda hat es eine Monteristen-Revolution gegeben, so, wie sie in Sulaco versucht worden ist, nur daß die dort drüben Erfolg gehabt hat. Der Telegraphist blieb ständig in Verbindung mit Bernhardt, und die letzten Worte, die er übermittelte, waren: ›Sie brechen die Tür ein und nehmen das Telegraphenamt in Besitz. Ihr seid abgeschnitten. Kann nichts mehr tun.‹

Tatsächlich aber brachte er es doch noch fertig, die Aufmerksamkeit seiner Wächter zu täuschen, die versucht hatten, seine Verständigung mit der Außenwelt zu verhindern. Er brachte es fertig. Wie, weiß ich nicht, aber ein paar Stunden später rief er Sulaco nochmals an und sagte: ›Die Insurgenten-Armee hat den staatlichen Transportdampfer mit Beschlag belegt und schifft Truppen ein, um längs der Küste nach Sulaco zu gehen. Darum seid auf eurer Hut. Sie werden in ein paar Stunden zur Abfahrt bereit sein und können vor Tagesanbruch bei euch eintreffen.‹

Das ist alles, was er sagen konnte. Diesmal scheinen sie ihn endgültig von seinem Apparat vertrieben zu haben, denn Bernhardt hat seither Esmeralda fortwährend angerufen, ohne Antwort zu erhalten.«

Nachdem er diese Worte in das Taschenbuch geschrieben hatte, das seiner Schwester zugedacht war, hob Decoud lauschend den Kopf. Aber es war kein Laut zu hören, weder im Zimmer noch im Hause, außer dem Tröpfeln des Wassers aus dem Filter in das große irdene Gefäß unter dem Holzgestell. Rings um das Haus herrschte tiefes Schweigen. Decoud beugte den Kopf wieder über das Taschenbuch.

»Ich laufe nicht davon, mußt Du wissen«, schrieb er weiter. »Ich gehe einfach mit dem großen Silberschatz fort, der um jeden Preis gerettet werden muß. Pedro Montero vom Campo her und die aufständische Garnison von Esmeralda von der See her rücken beide darauf los. Daß das Silber gerade hier für sie bereitliegt, ist nur ein Zufall. Das wahre Ziel ist die San Tomé-Mine selbst, wie Du Dir wohl vorstellen kannst. Sonst wäre wohl die Westliche Provinz zweifellos noch lange Wochen in Frieden gelassen worden, um schließlich in aller Muße von der siegreichen Partei eingesackt zu werden. Don Carlos Gould wird genug damit zu tun haben, seine Mine mit ihrer Organisation und Bevölkerung zu retten; dieses ›Imperium in Imperio‹, dieses geldheckende Ding, in dem dieser Idealist so merkwürdig die Idee der Gerechtigkeit verkörpert sieht. Er klammert sich daran, wie manche Männer sich an die Idee der Liebe oder der Rache klammern. Wenn ich mich in dem Mann nicht sehr irre, so muß die Mine unverletzt bleiben oder durch einen Akt seines eigenen Willens zugrunde gehen. Eine Leidenschaft hat sich in sein kaltes, idealistisches Leben eingeschlichen. Eine Leidenschaft, die ich nur verstandesmäßig begreifen kann. Eine Leidenschaft nicht von der Art, wie wir sie kennen, wir Männer eines andern Bluts. Aber sie ist so gefährlich wie nur eine der unseren.

Auch seine Frau hat das begriffen. Darum ist sie mir eine so wertvolle Verbündete. Sie nimmt alle meine Anregungen in dem sicheren Gefühl auf, daß sie letzten Endes zur Sicherheit der Gould-Konzession beitragen. Und er fügt sich ihr, vielleicht weil er ihr vertraut, aber, denke ich mir, eher noch, weil er ein geheimes Unrecht gutzumachen wünscht, diese gefühlsmäßige Untreue, die das Glück und das Leben der Frau einer verführerischen Idee unterordnet. Die kleine Frau hat entdeckt, daß er weniger für sie als für die Mine lebt. Aber lassen wir sie sein. Jedem sein Schicksal, durch Leidenschaft oder Gefühl geformt. Die Hauptsache ist, daß sie meinen Vorschlag unterstützt hat, das Silber aus der Stadt, aus dem Lande hinauszubringen, sofort, um jeden Preis, auf jede Gefahr hin. Don Carlos' Aufgabe ist es, den guten Ruf seiner Mine fleckenlos zu erhalten; Frau Goulds Aufgabe ist es, ihn vor den Einwirkungen dieser kalten und überwältigenden Leidenschaft zu bewahren, die sie mehr fürchtet, als gälte sie einer anderen Frau. Nostromos Aufgabe ist es, das Silber zu retten. Der Plan geht dahin, es in den größten Leichter der O. S. N. Gesellschaft zu laden und quer über den Golf nach einem kleinen Hafen außerhalb des Gebietes von Costaguana zu senden, unmittelbar hinter Azuera. Der erste nordwärts gehende Dampfer wird Befehl erhalten, es von dort aus mitzunehmen. Die See ist hier ruhig. Wir werden uns in die Dunkelheit des Golfes hinausstehlen, bevor die Rebellen von Esmeralda ankommen; und bis der Tag über dem Ozean anbricht, werden wir außer Sicht sein, von Azuera verborgen, das von Sulaco aus selbst nur wie ein verschwommenes blaues Wölkchen am Horizont aussieht.

Der unbestechliche Capataz de Cargadores ist der Mann für diese Aufgabe; und ich, der Mann mit einer Leidenschaft, doch ohne Aufgabe, ich gehe mit ihm, um zurückzukehren und meine Rolle in der Posse zu Ende zu spielen und, wenn ich Erfolg habe, meinen Lohn zu empfangen, den niemand als Antonia mir geben kann.

Ich werde sie nun nicht wiedersehen, bevor ich abfahre. Ich habe sie, wie ich Dir sagte, an Don Josés Lager verlassen. Die Straße war dunkel, die Häuser geschlossen, und ich ging durch die Nacht, aus der Stadt hinaus. Seit zwei Tagen war keine einzige Straßenlaterne angezündet, und der Bogen des Stadttors türmte sich verschwommen in der Dunkelheit; ich hörte ein leises Klagen, das dem Murmeln einer Männerstimme zu antworten schien.

In dieser Stimme erkannte ich eine gewisse unbeteiligte Nachlässigkeit, das Merkmal jenes Genueser Seemanns, der, wie ich, zufällig hierhergekommen ist, um in Ereignisse verwickelt zu werden, die seiner Zweifelsucht, genau wie der meinen, offenbar etwas verächtlich erscheinen. Das einzige, was ihm am Herzen liegt, soviel ich entdecken konnte, ist gute Nachrede. Ein Ehrgeiz, der edlen Seelen ziemt, doch auch für alle ungewöhnlich gewitzten Schurken von Vorteil sein könnte. Jawohl. Seine eigenen Worte: ›Man soll gut von mir sprechen. Si, Señor!‹ Er scheint zwischen Sprechen und Denken keinen Unterschied zu machen. Ist das blanke Einfalt oder ein scharfer Wirklichkeitssinn, möchte ich wohl wissen? Außergewöhnliche Persönlichkeiten ziehen mich immer an, weil sie so gut der allgemeinen Formel für den sittlichen Durchschnitt der Menschheit entsprechen.

Er holte mich auf der Straße nach dem Hafen ein, nachdem ich den dunklen Torbogen, ohne anzuhalten, durchschritten hatte. Aus Anstandsgefühl schwieg ich, während er an meiner Seite ging. Nach einer Weile begann er selbst zu sprechen. Es war nicht, was ich erwartet hatte. Es war nur eine alte Frau, eine alte Spitzenklöpplerin, die ihren Sohn suchte, einen der Straßenkehrer in Diensten der Gemeinde. Tags zuvor, in der Morgendämmerung, waren Freunde an die Türe der Hütte gekommen und hatten ihn hinausgerufen. Er war mit ihnen gegangen, und sie hatte ihn seither nicht gesehen; sie hatte das vorbereitete Essen halbfertig auf dem erloschenen Herd stehenlassen und war bis zum Hafen hinausgekrochen; dort hatte sie gehört, daß einige Mozos aus der Stadt an dem Morgen des Aufstands getötet worden waren. Einer der Cargadores, die das Zollamt bewachten, hatte eine Laterne herausgebracht und ihr geholfen, die wenigen Toten zu besichtigen, die in der Nähe liegengeblieben waren. Nun humpelte sie wieder nach Hause, da ihre Suche ergebnislos geblieben war. Auf der steinernen Bank unter dem Torbogen hatte sie sich jammernd niedergesetzt, weil sie sehr müde war. Der Capataz hatte sie ausgefragt und ihr, nachdem er ihre abgerissene Erzählung angehört, geraten, unter den Verwundeten im Innenhof der Casa Gould weiterzusuchen. Er hatte ihr auch einen Vierteldollar gegeben, wie er nachlässig erwähnte.

›Warum taten Sie das?‹ fragte ich. ›Kennen Sie sie?‹

›Nein, Señor. Ich glaube nicht, sie je zuvor gesehen zu haben. Wie sollte ich auch? Sie ist wahrscheinlich seit Jahren nicht auf der Straße gewesen. Sie ist eines jener alten Weiber, die man hierzulande im Hintergrund von Hütten finden kann, über den Herd gebeugt, einen Krückstock neben sich auf dem Boden und fast zu schwach, um die streunenden Hunde von den Kochtöpfen wegzutreiben. Caramba! Ich konnte an ihrer Stimme erkennen, daß der Tod sie vergessen haben muß. Aber alt oder jung, sie lieben das Geld und werden gut von einem Mann reden, der ihnen welches gibt.‹ Er lachte ein wenig. ›Señor, Sie hätten das Zupacken ihrer Klaue fühlen sollen, als ich ihr die Münze zusteckte.‹ Er hielt inne. ›Meine letzte noch dazu‹, schloß er.

Ich sagte nichts dazu. Er ist bekannt für seine Freigebigkeit und sein Pech im Monte-Spiel, was beides ihn so arm erhält, wie er hergekommen ist.

›Ich vermute, Don Martin‹, hob er nachdenklich und bedächtig wieder an, ›daß der Señor Administrador der San Tomé-Mine mich eines Tages belohnen wird, wenn ich sein Silber rette!‹

Ich sagte, daß es natürlich nicht anders sein könnte. Er ging weiter und murmelte vor sich hin: ›Si, si, ohne Zweifel, ohne Zweifel; und sehen Sie doch, Señor Martin, was es ausmacht, gute Nachrede zu haben. Es gibt keinen andren Mann, an den man für eine solche Sache auch nur hätte denken können. Ich werde eines Tages etwas Großes dafür bekommen. Und mag es bald sein‹, knurrte er. ›Die Zeit vergeht in diesem Land so schnell wie sonstwo.‹

Dies, sœur chérie, ist mein Gefährte bei der großen Rettung im Dienste der großen Sache. Er ist eher unbefangen als scharfsichtig, eher großartig als schlau, dabei freigebiger mit seiner Person, als es die Leute, die ihn benutzen, mit ihrem Gelde sind. Das wenigstens glaubt er selbst – mit mehr Stolz als Gefühl. Ich bin froh, daß ich ihn zum Freunde gewonnen habe. Als Gefährte gewinnt er mehr Bedeutung, als er sie je zuvor hatte – als er für mich nur ein nebensächlicher Bekannter, ein urwüchsiger italienischer Matrose war, dem ich erlaubte, während der toten Stunden des Tages heraufzukommen und mit dem Herausgeber des ›Porvenir‹ zu plaudern, während die Zeitung durch die Presse lief. Und es ist mir sehr merkwürdig, einen Mann getroffen zu haben, für den der Wert des Lebens in persönlicher Geltung zu bestehen scheint.

Ich warte nun hier auf ihn. Als wir in Violas Posada ankamen, fanden wir die Kinder allein im Erdgeschoß, und der alte Genuese rief seinem Landsmann zu, er solle den Doktor holen. Sonst wären wir wohl an den Kai gegangen, wo, wie es scheint, Kapitän Mitchell mit ein paar europäischen Freiwilligen und ein paar ausgesuchten Cargadores das Silber in den Leichter schafft, das aus Monteros Klauen gerettet werden muß, um zu Monteros Niederwerfung dienen zu können. Nostromo galoppierte wild in die Stadt zurück. Er ist schon lange fort. Diese Verzögerung läßt mir Zeit, mich mit Dir zu unterhalten. Bis dieses Taschenbuch Dich erreicht, wird sich viel ereignet haben. Jetzt aber gibt es eine Pause, im Schatten der Todesfittiche, in diesem stillen Haus, das in schwarzer Nacht begraben liegt, mit seiner sterbenden Frau, den beiden Kindern, die lautlos in einer Ecke kauern, und dem alten Mann, den ich durch die dicken Mauern hinauf und herunter gehen hören kann, mit leichtem Rascheln, nicht lauter als das einer Maus. Und ich, allein mit ihnen, weiß wirklich nicht, ob ich mich zu den Lebenden oder zu den Toten zählen soll. Quien sabe? wie die Leute hier gerne auf jede Frage antworten. Doch nein: mein Gefühl für Dich ist sicher nicht tot, und alles, das Haus, die dunkle Nacht, die schweigenden Kinder in diesem dämmerigen Raum, sogar meine Gegenwart hier – alles ist Leben, muß Leben sein, da es so sehr einem Traum gleicht.«

Beim Schreiben der letzten Zeile überkam Decoud ein Augenblick völligen und jähen Selbstvergessens. Er lehnte sich über den Tisch, als hätte ihn eine Kugel getroffen. Gleich darauf setzte er sich wieder auf, verwirrt, mit dem Eindruck, er habe seinen Bleistift über den Fußboden rollen hören. Die niedere Tür des Cafés, weit offen, war von Fackelschein erfüllt und ließ ein halbes Pferd sehen, das mit dem Schweif gegen das Bein seines Reiters und dessen langen Eisensporn an nackter Ferse schlug. Die beiden Mädchen waren fort, und Nostromo stand mitten im Zimmer und sah unter der Krempe seines tief in die Augen gezogenen Sombreros hervor Decoud an. »Ich habe diesen griesgrämigen englischen Doktor in Señora Goulds Wagen hergebracht«, sagte Nostromo. »Ich zweifle, ob er diesmal mit all seiner Weisheit die Padrona wird retten können. Sie haben nach den Kindern geschickt. Ein schlechtes Zeichen, das.« Er setzte sich auf die Ecke einer Bank. »Sie will ihnen ihren Segen geben, vermute ich.«

Decoud bemerkte verwirrt, daß er fest eingeschlafen sein müsse, und Nostromo erwiderte ihm mit leichtem Lächeln, er habe zum Fenster hereingespäht und Decoud mit dem Kopf auf den Armen über dem Tisch liegen sehen. Die englische Señora sei gleichfalls im Wagen mitgekommen und sofort mit dem Doktor hinaufgegangen. Sie habe ihm befohlen, Don Martin nicht zu wecken; er sei in das Café gekommen, als nach den Kindern geschickt worden war.

Das halbe Pferd mit seinem halben Reiter wandte vor der Türe; die Fackel aus Werg und Harz, in einem Eisenkorb an langer Stange auf dem Sattelknopf getragen, flammte einen Augenblick gerade durch die Türe, und Frau Gould trat hastig ein, mit sehr bleichem, müdem Gesicht; die Kapuze ihres dunkelblauen Mantels war zurückgefallen. Beide Männer erhoben sich.

»Teresa möchte dich sehen, Nostromo«, sagte sie.

Der Capataz rührte sich nicht. Decoud kehrte dem Tisch den Rücken und begann seinen Rock zuzuknöpfen.

»Das Silber, Frau Gould, das Silber«, murmelte er auf englisch. »Vergessen Sie nicht, daß die Garnison von Esmeralda sich einen Dampfer verschafft hat. Die Kerle können jeden Augenblick im Hafen auftauchen.«

»Der Doktor sagte, daß keine Hoffnung mehr ist«, meinte Frau Gould hastig, gleichfalls englisch. »Ich werde Sie in meinem Wagen mit zum Hafen hinunternehmen und dann zurückkommen, um die Mädchen fortzuholen.« Sie sprach spanisch weiter, zu Nostromo gewandt: »Warum verlierst du Zeit? Die Frau des alten Giorgio will dich sehen.«

»Ich gehe zu ihr, Señora«, murmelte der Capataz.

Dr. Monygham erschien und brachte die Kinder zurück. Auf Frau Goulds Blick schüttelte er nur den Kopf und ging sofort wieder hinaus, von Nostromo gefolgt.

Das Pferd des Fackelträgers ließ reglos den Kopf hängen, und der Reiter hatte die Zügel fallen lassen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Der Fackelschein umspielte die Stirnseite des Hauses; von den großen schwarzen Lettern der Inschrift trat nur das Wort ITALIA deutlich hervor. Der flackernde Lichtkreis reichte bis zu Frau Goulds Wagen, der auf der Straße wartete; der gelbgesichtige, stattliche Ignacio schien auf dem Bock zu schlafen. Basilio an seiner Seite, dunkel und mager, hielt mit beiden Händen einen Winchester-Karabiner vor sich hin und spähte furchtsam in die Dunkelheit. Nostromo berührte leicht des Doktors Schulter.

»Liegt sie wirklich im Sterben, Señor Doctor?«

»Ja«, sagte der Doktor mit einem eigentümlichen Zucken seiner zernarbten Wange. »Und warum sie dich sehen will, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Es ist ihr auch schon früher so gegangen«, meinte Nostromo wie prüfend und sah zur Seite.

»Nun, Capataz, ich kann dir versichern, daß es ihr nie wieder so gehen wird«, schnarrte Dr. Monygham. »Du kannst zu ihr gehen oder wegbleiben. Es hat sehr wenig Wert, mit Sterbenden zu reden. Aber sie sagte zu Doña Emilia in meiner Gegenwart, daß sie wie eine Mutter zu dir gewesen ist, seit dem ersten Augenblick, wo du hier den Fuß an Land gesetzt hast.«

»Si! Und sie wußte nie zu jemand ein gutes Wort über mich zu sagen. Es hat eher den Anschein, als wollte sie es mir nicht vergeben, daß ich lebe und noch dazu gerade so ein Mann bin, wie ihr Sohn gerne einer hätte sein sollen.«

»Vielleicht!« rief eine bekümmerte Stimme nahe bei ihnen aus. »Die Frauen haben ihre eigene Weise, sich zu quälen.« Giorgio Viola war aus dem Hause gekommen. Er warf im Fackellicht einen schweren, schwarzen Schatten, und der grelle Schein fiel auf sein großes Gesicht mit dem buschigen weißen Haar. Er winkte den Capataz mit ausgestrecktem Arm ins Haus.

Dr. Monygham hatte sich an einem kleinen Arzneikasten aus poliertem Holz auf dem Sitz des Landauers zu schaffen gemacht, wandte sich nun dem alten Giorgio zu und drückte ein dunkles Glasfläschchen aus dem Kasten in des Alten zitterige, große Hand.

»Geben Sie ihr ab und zu einen Teelöffel hiervon in Wasser«, sagte er. »Es wird ihr Linderung verschaffen.«

»Und sonst ist nichts für sie zu tun?« fragte der alte Mann geduldig.

»Nein, nicht auf Erden«, sagte der Doktor, kehrte ihm den Rücken und ließ das Schloß des Arzneikastens einschnappen.

Nostromo durchquerte langsam die große Küche, die ganz dunkel lag, bis auf das Glühen eines kleinen Kohlenhäufchens unter dem mächtigen Rauchfang der Feuerstelle, wo in einem großen Eisentopf Wasser laut brodelnd kochte. Zwischen den zwei Seitenwänden der engen Treppe fiel von oben aus dem Krankenzimmer greller Lichtschein herunter, und der prachtvolle Capataz de Cargadores ging lautlos in weichen Ledersandalen hinauf und sah mit dem buschigen Backenbart, dem sehnigen Hals und der bronzebraunen Brust, die das gewürfelte Hemd freiließ, wie ein mittelländischer Matrose aus, der gerade von einer mit Wein oder Früchten beladenen Feluke an Land gekommen ist. Auf dem oberen Stiegenabsatz hielt er an, stand breitschultrig, schlank, mit schmalen Hüften und sah nach dem großen Bett hin. Es glich mit vielem schneeigem Leinen einem Prunklager, und die Padrona saß ungestützt, gebeugt da, das schöne Gesicht mit den schwarzen Brauen tief auf die Brust gesenkt. Eine Flut rabenschwarzen Haares mit nur wenig weißen Fäden darin bedeckte ihre Schulter; eine dicke Strähne war nach vorne gefallen und verhüllte ihre Wange halb. Sie verharrte völlig regungslos in ihrer Stellung, die körperliche Beklemmung und Unrast ausdrückte; ihre Augen kehrten sich Nostromo zu.

Der Capataz trug eine rote Schärpe vielfach um die Hüften gewunden und einen schweren Silberring auf dem Zeigefinger der Hand, die er erhob, um seinen Schnurrbart zu drehen.

»Ihre Revolutionen, ihre Revolutionen«, keuchte Signora Teresa. »Sieh doch, Giambattista, nun hat es mich doch umgebracht.«

Nostromo sagte nichts, und die kranke Frau beharrte, mit einem Aufblicken: »Sieh doch, diese eine hat mich umgebracht, während du weg warst und für eine Sache gekämpft hast, die dich nichts anging, närrischer Mann.«

»Warum redest du so«, murmelte der Capataz durch die Zähne. »Wirst du niemals an meinen gesunden Menschenverstand glauben? Mir liegt daran, das zu bleiben, was ich bin: alle Tage der gleiche.«

»Du änderst dich nie, wirklich nicht«, sagte sie bitter. »Denkst immer nur an dich und läßt dich mit schönen Worten von Leuten bezahlen, die sich nichts aus dir machen.«

Zwischen den beiden bestand ein ewiger Widerspruch, der in seiner Art eine so enge Nähe schuf wie Übereinstimmung und Zuneigung. Nostromos Entwicklung hatte Teresas Erwartungen nicht entsprochen. Sie war es gewesen, die ihn ermutigt hatte, sein Schiff zu verlassen, in der Hoffnung, ihren Mädchen einen Freund und Verteidiger zu sichern. Die Frau des alten Giorgio war sich ihres schlechten Gesundheitszustandes bewußt und litt unter Ängsten wegen der Einsamkeit ihres alten Gatten und der schutzlosen Verlassenheit der Kinder. Sie hätte gewünscht, diesen scheinbar ruhigen und beständigen jungen Mann an die Familie zu binden; er schien liebefähig, schmiegsam, war von frühestem Alter an Waise, wie er ihr gesagt hatte, ohne Verwandte in Italien, bis auf einen Onkel, den Eigner und Schiffer einer Feluke, vor dessen Mißhandlungen er noch vor dem vierzehnten Jahr entlaufen war. Frau Teresa hatte ihn für mutig gehalten, für einen harten Arbeiter, entschlossen, seinen Weg in der Welt zu machen. Aus Dankbarkeit und Gewohnheit sollte er für sie und Giorgio wie ein Sohn werden; und dann, wer weiß, wenn Linda herangewachsen war . . . zehn Jahre Unterschied zwischen Mann und Frau waren nicht soviel. Ihr eigener großer Gatte war fast zwanzig Jahre älter als sie. Giambattista war außerdem noch ein anziehender junger Bursche: anziehend für Männer, Frauen und Kinder, gerade durch die ausgeglichene Ruhe, die, wie ein heiteres Zwielicht, die Reize seiner kräftigen Gestalt und die Entschlossenheit seines Verhaltens noch verführerischer erscheinen ließ.

Der alte Giorgio, völlig ohne Ahnung von den Ansichten und Hoffnungen seiner Frau, empfand große Achtung für seinen jungen Landsmann. »Ein Mann soll nicht zahm sein«, pflegte er ihr zu sagen, indem er das spanische Sprichwort zur Verteidigung des prächtigen Capataz anführte. Sie wurde eifersüchtig auf seinen Erfolg. Er entglitt ihr, fürchtete sie. Sie war weltklug, und er schien ihr die törichteste Verschwendung mit den Vorzügen zu treiben, die ihn so wertvoll machten. Er zog zuwenig Nutzen daraus. Er verschwendete sich zu sehr mit vollen Händen an zu viele Leute, fand sie. Legte kein Geld beiseite. Sie spottete über seine Armut, seine Taten, seine Abenteuer, seine Liebesgeschichten und seinen Ruf; im tiefsten Herzen aber hatte sie ihn nie aufgegeben; als wäre er wirklich ihr Sohn gewesen.

Jetzt sogar, so krank sie war, krank genug, um den Eiseshauch des nahenden Endes zu fühlen, hatte sie ihn doch zu sehen gewünscht. Es war, als streckte sie die bebende Hand aus, um neuen Halt über ihn zu gewinnen. Aber sie hatte ihrer Kraft zuviel zugemutet. Sie konnte ihren Gedanken nicht befehlen; sie waren trüb geworden, zugleich mit ihrem Gesicht. Die Worte kamen zögernd über ihre Lippen; und nur die ewige qualvolle Angst und der Wunsch ihres Lebens schienen noch zu stark für den Tod.

Der Capataz sagte: »Ich habe diese Dinge oft gehört. Du bist ungerecht, aber es kränkt mich nicht. Nur scheinst du mir gerade jetzt nicht viel Kraft zum Sprechen zu haben, und ich habe nur wenig Zeit zum Zuhören. Ich bin an einer sehr wichtigen Arbeit beteiligt.«

Sie fragte ihn mit Anstrengung, ob es wahr sei, daß er sich die Zeit genommen habe, einen Doktor für sie zu holen. Nostromo nickte zustimmend.

Sie war erfreut. Es linderte ihre Leiden, zu wissen, daß der Mann soviel für die getan hatte, die seine Hilfe wirklich brauchten. Es war ein Freundschaftsbeweis. Ihre Stimme wurde stärker.

»Ich brauche einen Priester noch mehr als den Doktor«, sagte sie gefühlvoll. Sie bewegte den Kopf nicht, nur ihre Augen wanderten in den Höhlen, um das Bild des Capataz zu erfassen, der neben ihrem Bette stand. »Würdest du nun gehen und einen Priester für mich holen? Bedenke, eine sterbende Frau bittet dich!«

Nostromo schüttelte entschlossen den Kopf. Er glaubte nicht an Priester in Ausübung ihres Amtes. Ein Arzt konnte von Nutzen sein; ein Priester, als Priester, war nichts und unfähig, Gutes oder Böses zu wirken. Nostromo scheute nicht einmal ihren Anblick, wie es der alte Giorgio tat. Die völlige Nutzlosigkeit dieses Ganges war es, die ihn zunächst berührte.

»Padrona«, sagte er. »Es ist dir schon früher so gegangen, und nach ein paar Tagen hat es sich gebessert. Ich habe dir schon die letzten Augenblicke meiner verfügbaren Zeit geopfert. Bitte Señora Gould, dir einen zu schicken.«

Die Gottlosigkeit seiner Weigerung bedrückte ihn. Die Padrona glaubte an Priester und beichtete ihnen. Aber alle Frauen taten das. Es konnte nicht viel auf sich haben. Und doch zog sich ihm das Herz zusammen bei dem Gedanken, was die Absolution für sie bedeuten mußte, wenn sie auch nur ein klein wenig daran glaubte. Einerlei. Es war ganz wahr, daß er ihr schon den allerletzten verfügbaren Augenblick geopfert hatte.

»Und du weigerst dich, zu gehen?« keuchte sie. »Oh, du bleibst wirklich immer du selbst.«

»Sei doch vernünftig, Padrona«, sagte er. »Man braucht mich, um das Silber der Mine zu retten! Hörst du? Um einen größeren Schatz zu retten als den, den die Geister und Teufel auf Azuera bewachen, wie man sagt. Es ist wahr. Ich bin entschlossen, dies zu der verzweifeltsten Sache zu machen, in der ich zeit meines Lebens die Hände hatte.«

Sie fühlte ohnmächtigen Zorn. Die letzte Probe war mißlungen. Da Nostromo über ihr stand, so konnte er ihr verzerrtes Gesicht nicht sehen, das ein Übermaß von Schmerz und Ärger ausdrückte. Doch begann sie am ganzen Leibe zu zittern. Ihr gebeugter Kopf bebte, ihre breiten Schultern zuckten.

»Dann wird Gott mir vielleicht gnädig sein! Aber sieh du dazu, Mann, daß du von deinem Unternehmen noch etwas anderes hast als die Reue, die dich eines Tages überfallen wird.«

Sie lachte leise. »Hole dir endlich einmal Reichtümer, du unentbehrlicher, bewunderter Giambattista, dem die Seelenruhe einer sterbenden Frau weniger bedeutet als das Lob von Leuten, die dir einen dummen Spitznamen gegeben haben – nichts sonst – als Gegenwert für deine Seele und deinen Leib.«

Der Capataz de Cargadores fluchte in sich hinein.

»Laß du meine Seele in Frieden, Padrona, und ich werde schon wissen, wie ich meinen Leib in acht nehmen muß. Was ist schlimmes dabei, daß die Leute mich brauchen? Was habe ich dir und den Kindern geraubt, daß du mich darum beneiden solltest? Gerade die Leute, die du mir da in die Zähne wirfst, haben mehr für den alten Giorgio getan, als es ihnen je eingefallen wäre, für mich zu tun.«

Er schlug sich mit der flachen Hand an die Brust; seine Stimme war leise geblieben, obwohl er mit Nachdruck gesprochen hatte. Er drehte beide Spitzen seines Schnurrbarts, eine nach der andern, und ließ die Augen durch das Zimmer wandern.

»Ist es mein Fehler, daß ich der einzige Mann für ihre Zwecke bin? Was redest du in deinem Ärger für Unsinn daher, Mutter? Sähest du mich lieber, schüchtern und dumm, auf dem Marktplatz Wassermelonen verkaufen oder Fahrgäste im Boot durch den Hafen rudern, wie einen weichen Neapolitaner, ohne Mut und Namen? Möchtest du, daß ein junger Mann wie ein Mönch leben sollte? Ich glaube es nicht. Willst du für deine älteste Tochter einen Mönch haben? Laß sie aufwachsen. Wovor fürchtest du dich? Du hast mir alles und jedes, was ich seit Jahren tat, übel ausgelegt, seit damals, als du zum erstenmal ohne des alten Giorgio Wissen mit mir über Linda gesprochen hast. Der einen Gatte und der andern Bruder, sagtest du? Nun, warum nicht! Ich mag die Kleinen gern, und ein Mann muß einmal heiraten. Aber seit damals hast du mich allen Leuten gegenüber heruntergesetzt. Warum? Hast du dir eingebildet, du könntest mir ein Halsband und eine Kette umlegen, als wäre ich einer der Wachhunde, die sie dort drüben im Güterbahnhof halten? Sieh her, Padrona, ich bin derselbe Mann, der eines Abends an Land kam, in der baufälligen Hütte niedersaß, in der ihr damals lebtet, auf der andern Seite der Stadt, und dir seine Geschichte erzählte. Damals wart ihr nicht ungerecht gegen mich. Was ist seither geschehen? Ich bin kein dummer Junge mehr. Ein guter Name ist ein Schatz, sagt Giorgio, Padrona.«

»Sie haben dir mit ihrem Lob den Kopf verdreht«, keuchte die kranke Frau. »Sie haben dich mit Worten bezahlt. Deine Narrheit wird dich in Armut bringen, in Elend und Hunger. Die letzten Leperos noch werden über dich lachen – den großen Capataz.«

Nostromo stand eine Weile wie vom Donner gerührt. Sie sah nicht nach ihm. Ein selbstsicheres, freudloses Lächeln schwand rasch von seinen Lippen, und dann wich er zurück. Seine unbeachtete Gestalt versank jenseits des Türrahmens. Er stieg die Treppe rücklings hinab, in dem gewohnten Gefühl, durch die Geringschätzung dieser Frau um den guten Ruf gebracht zu sein, den er sich errungen hatte und zu bewahren wünschte.

Unten in der großen Küche brannte eine Kerze inmitten der tiefen Schatten der Wände und der Decke, aber der grelle Lichtschein vor der offenen Außentüre war verschwunden. Der Wagen mit Frau Gould und Don Martin, mit dem Fackelreiter voraus, war zum Hafen hinuntergefahren. Dr. Monygham, der zurückgeblieben war, saß auf der Kante eines Hartholztisches nahe beim Leuchter, sein unschönes, rasiertes Gesicht seitlich geneigt, die Arme auf der Brust gekreuzt, die Lippen vorgeschoben, und starrte aus seinen vortretenden Augen unbewegt auf den schwarzen Lehmboden. Nahe bei dem überhängenden Rauchfang der Feuerstelle, wo der Wassertopf immer noch heftig kochte, stand der alte Giorgio, das Kinn in der Hand, einen Fuß vorgeschoben, als hätte ihn ein plötzlicher Gedanke angehalten.

»Adios, viejo«, sagte Nostromo, fühlte nach dem Kolben seines Revolvers im Gürtel und lockerte das Messer in der Scheide. Er nahm einen blauen, rotgesäumten Poncho vom Tisch auf und zog ihn sich über den Kopf. »Adios, sieh nach den Sachen in meinem Schlafzimmer, und wenn du nichts mehr von mir hörst, gib den Koffer Paquita. Es ist nicht viel Wertvolles darin, außer meinem neuen Serape aus Mexiko und ein paar Silberknöpfen an meiner besten Jacke. Einerlei, die Sachen werden gut genug aussehen auf dem nächsten Liebhaber, den sich das Mädel nimmt, und der Mann braucht sich nicht zu fürchten, daß ich nach meinem Tode mich auf Erden herumtreiben werde, wie diese Gringos, die auf Azuera spuken.«

Dr. Monygham verzog die Lippen zu einem bittern Lächeln. Nachdem der alte Giorgio mit einem fast unmerklichen Nicken und ohne ein Wort die enge Stiege hinaufgegangen war, sagte er:

»Wie denn, Capataz! Ich dachte, Ihnen könnte nichts schiefgehen!«

Nostromo sah geringschätzig nach dem Doktor, verweilte ein wenig in der Türe, um sich eine Zigarette zu drehen, strich dann ein Zündholz an und hielt es brennend über seinen Kopf, bis ihm die Flamme fast die Finger versengte:

»Kein Wind«, murmelte er vor sich hin. »Sehen Sie, Señor – machen Sie sich einen Begriff von meinem Unternehmen?«

Dr. Monygham nickte mürrisch.

»Es ist, als wollte ich einen Fluch auf mich nehmen, Señor Doctor. Denn hierzulande muß ein Mann mit einem Schatz jedes Messer längs der ganzen Küste auf sich gerichtet sehen. Verstehen Sie das, Señor Doctor? Ich werde wie ein Vogelfreier hintreiben, bis ich irgendwo den nordwärts gehenden Dampfer der Gesellschaft treffe; und dann allerdings wird man von dem Capataz de Cargadores von Sulaco von einem Ende Amerikas bis zum andern reden.«

Dr. Monygham lachte sein kurzes, heiseres Lachen. Nostromo wandte sich im Türrahmen um.

»Wenn aber Euer Gnaden einen andern Mann zu finden vermögen, der zu einem solchen Geschäft bereit und tauglich ist, dann will ich zurückstehen. Ich bin nicht geradezu meines Lebens müde, obwohl ich so arm bin, daß ich alles, was ich habe, auf meinem Pferd mit mir nehmen könnte.«

»Sie spielen zuviel und sagen nie ›nein‹ zu einem hübschen Gesicht, Capataz«, sagte Dr. Monygham mit gespielter Einfalt. »Das ist nicht der Weg, zu Reichtümern zu kommen. Aber niemand, soviel ich weiß, hat Sie je für arm gehalten. Ich hoffe, Sie werden einen guten Handel gemacht haben, wenn Sie heil von diesem Abenteuer zurückkommen.«

»An welchen Handel denken Euer Gnaden?« fragte Nostromo und blies eine Rauchwolke durch die Türe.

Dr. Monygham horchte einen Augenblick in das Stiegenhaus hinauf, bevor er, wieder mit seinem kurzen, abgerissenen Lachen, zurückgab:

»Glorreicher Capataz, sollte ich den Fluch des Todes auf mich nehmen, wie Sie es nennen, dann könnte mir nichts als der ganze Schatz genügen.«

Nostromo verschwand aus dem Türrahmen, mit einem übellaunigen Knurren wegen der spöttischen Antwort. Dr. Monygham hörte ihn fortgaloppieren. Nostromo ritt wütend durch die Dunkelheit. In den Gebäuden der O. S. N. Gesellschaft am Hafen brannten Lichter, doch bevor er dahin kam, begegnete er dem Gouldschen Wagen. Der Fackelträger ritt voraus, und der Schein fiel auf die trabenden weißen Maultiere, den stattlichen Ignacio, der kutschierte, und Basilio, der mit dem Karabiner neben ihm auf dem Bock saß. Aus dem dunklen Landauer rief Frau Goulds Stimme: »Sie erwarten dich, Capataz!« Sie kehrte zurück, fröstelnd und aufgeregt, Decouds Taschenbuch immer noch in der Hand. Er hatte es ihr anvertraut, damit sie es an seine Schwester sende. »Vielleicht meine letzten Worte an sie«, hatte er gesagt und Frau Goulds Hand gedrückt.

Der Capataz mäßigte die Gangart nicht. Am Kopfende der Landungsbrücke sprangen undeutliche Gestalten mit Gewehren seinem Pferde an den Kopf; andere umringten ihn – Cargadores der Gesellschaft, die von Kapitän Mitchell auf Wache gestellt waren. Auf ein Wort Nostromos traten sie mit unterwürfigem Murmeln zurück, da sie seine Stimme erkannten. Am anderen Ende der Landungsbrücke, nächst einem Lastkran, wurde in einer dunklen Gruppe mit glimmenden Zigarren Nostromos Name im Ton der Erlösung genannt. Die meisten der Europäer von Sulaco waren dort um Charles Gould versammelt, als wäre das Silber der Mine das Sinnbild einer gemeinsamen Sache, das Wahrzeichen der überragenden Wichtigkeit materieller Interessen gewesen. Sie hatten es mit ihren eigenen Händen im Leichter verstaut. Nostromo erkannte Don Carlos Gould, eine magere, hohe Gestalt, der schweigend etwas abseits stand und zu dem eine andere hohe Gestalt, der Chefingenieur, laut sagte: »Wenn es schon verloren sein muß, dann wäre es millionenmal besser, es ginge auf den Meeresgrund.«

Martin Decoud rief aus dem Leichter: »Au revoir, Messieurs, bis wir uns über der neugeborenen Westlichen Republik wieder die Hände reichen.« Nur ein gedämpftes Gemurmel antwortete den hellen, klingenden Worten; und dann schien es, als glitte die Landungsbrücke in die Nacht davon. Es war aber Nostromo, der schon mit einem der schweren Ruder von einem Pfosten abstieß. Decoud regte sich nicht; ihm schien es, als glitte er in den Weltraum hinaus. Ein- oder zweimal hörte man ein Klatschen im Wasser, und dann nichts mehr als den Schall von Nostromos Schritten im Boot. Er hißte das große Segel; ein Windhauch traf Decouds Wange. Alles war verschwunden, bis auf das Licht der Laterne, die Kapitän Mitchell am Ende der Landungsbrücke an einem Pfosten hochgezogen hatte, um Nostromo ein Richtzeichen für die Fahrt zu geben.

Die beiden Männer, außerstande, einander zu sehen, verhielten sich schweigend, bis der Leichter, vor der günstigen Brise hingleitend, zwischen den fast unsichtbaren Vorgebirgen in die noch tiefere Dunkelheit des Golfs hinausgekommen war. Eine Zeitlang glänzte noch hinter ihnen das Licht der Laterne. Der Wind schlief ein und sprang dann wieder auf, doch so schwach, daß das große, halbgedeckte Boot lautlos hinglitt, als schwebte es in der Luft.

»Nun sind wir im Golf«, sagte Nostromos ruhige Stimme. Gleich darauf fügte er hinzu: »Señor Mitchell hat die Laterne niedergeholt.«

»Ja«, sagte Decoud; »jetzt kann uns niemand finden.«

Völlige Dunkelheit schloß sich um das Boot. Das Meer im Golf war so schwarz wie die Wolken darüber. Nostromo rieb ein paar Zündhölzer an, um einen Blick auf den Bootskompaß zu tun, den er im Leichter mithatte, und steuerte dann nach dem Windhauch auf seiner Wange.

Es war ein neuartiges Erlebnis für Decoud, diese Unerforschlichkeit der breiten Wasserfläche, die sich spiegelglatt dehnte, als hätte das Gewicht der schwarzen Nacht ihre Unrast erdrückt. Der Placido schlief fest unter seinem schwarzen Poncho.

Die Hauptsache für den Erfolg war es nun, von der Küste klarzukommen und die Mitte des Golfs zu erreichen, bevor der Tag anbrach. Die Isabellen mußten irgendwo in der Nähe sein. »Zu Ihrer Linken, wenn Sie vorausblicken, Señor«, sagte Nostromo plötzlich. Als seine Stimme schwieg, schien die ungeheure Stille, ohne Laut und Licht, wie ein starker Schlaftrunk auf Decouds Sinne zu wirken. Zeitweilig wußte er überhaupt nicht, ob er schlief oder wachte. Wie ein Mensch im Halbschlummer hörte er nichts, sah er nichts. Sogar die Hand, die er sich vor das Gesicht hielt, war für seine Augen nicht da. Der Wechsel nach der Aufregung, den Leidenschaften und Gefahren, dem Anblick und Lärm des Festlandes war so völlig, daß er, wären die Gedanken nicht lebendig geblieben, dem Tod hätte gleichen können. In diesem Vorgefühl des ewigen Friedens schwebten die Gedanken lebendig und gewichtslos dahin, wie unirdische, klare Träume von Weltdingen, die durch den Tod aus den Nebeln von Reue und Hoffnung erlöste Seelen heimsuchen mögen. Decoud schüttelte sich und schauderte ein wenig, obwohl der Luftzug, der an ihm vorbeistrich, warm war. Er hatte das zwingende Gefühl, als wäre seine Seele eben in seinen Leib zurückgekehrt, aus der umgebenden Dunkelheit, in der Land, See, Himmel, das Gebirge und die Klippen lagen, als wären sie nie gewesen.

Nostromos Stimme sprach, obwohl es schien, daß auch er am Steuer nicht da wäre. »Haben Sie geschlafen, Don Martin? Caramba! Wäre es denkbar, dann könnte auch ich glauben, ich wäre eingeschlummert. Es ist mir aber immer noch so, als hätte ich geträumt, hier ganz nahe beim Boot sei ein Schluchzen zu hören gewesen. Ein Laut, wie ihn ein bekümmerter Mann ausstoßen mag. Etwas zwischen einem Seufzer und einem Aufschluchzen.«

»Merkwürdig!« murmelte Decoud von seinem Lager auf den vielen Persenningen her, die die Silberkisten bedeckten. »Wäre es denkbar, daß noch ein anderes Boot außer uns im Golf heraußen ist? Wir könnten es nicht sehen, versteht sich.«

Nostromo lachte ein wenig über den törichten Einfall. Sie dachten beide nicht weiter daran. Die Einsamkeit war fast fühlbar, und als die Brise einschlief, schien es Decoud, als laste die Dunkelheit auf ihm wie ein Stein.

»Das ist überwältigend«, murmelte er. »Kommen wir überhaupt vom Fleck, Capataz?«

»Nicht so schnell wie ein krabbelnder Käfer, der sich im Gras verwickelt hat«, antwortete Nostromo, und seine Stimme klang wie erstickt durch den dichten Schleier der Dunkelheit, der sie warm und hoffnungslos umgab. Während langer Pausen gab er keinen Laut von sich, blieb unsichtbar, unhörbar, als hätte er geheimnisvoll den Leichter verlassen.

In der undurchdringlichen Nacht war Nostromo nicht einmal gewiß, welchen Kurs der Leichter hielt, nachdem der Wind gänzlich eingeschlafen war. Er spähte nach den Inseln. Kein Schatten davon war zu sehen, als wären sie auf den Grund des Golfs versunken. Schließlich warf er sich neben Decoud hin und flüsterte ihm ins Ohr, daß es, sollte sie das Tageslicht nahe bei der Küste überraschen, möglich sein würde, den Leichter hinter die Klippen am Steilende der Großen Isabelle zu rudern, wo er versteckt liegenbleiben könnte. Decoud war überrascht von der heftigen Besorgnis des andern. Für ihn bedeutete die Rettung des Schatzes nur einen politischen Schachzug. Es war aus mehreren Gründen notwendig, daß das Silber nicht in Monteros Hände fiel; hier aber war ein Mann, der eine ganz andere Anschauung von dem Unternehmen hatte. Die Caballeros dort drüben schienen nicht den leisesten Begriff davon zu haben, was sie ihm aufgetragen hatten. Nostromo schien heftig verärgert, als hätte ihn die Düsterkeit ringsum angesteckt. Decoud war überrascht. Der Capataz, gleichgültig gegen die Gefahren, die seinem Gefährten aufdringlich erschienen, verlor sich in heftige Betrachtungen über die toddrohende Seite des Vertrauens, das man ihm geschenkt hatte. Es sei gefährlicher, meinte Nostromo mit einem Lachen und einem Fluch, als wollte man einen Mann nach dem Schatz aussenden, der, wie die Leute sagten, von Teufeln und Gespenstern in den tiefen Schluchten von Azuera gehütet wurde. »Señor«, sagte er, »wir müssen den Dampfer auf See erwischen. Wir müssen uns auf hoher See halten und nach ihm ausschauen, bis wir alles gegessen und getrunken haben, was uns hier an Bord mitgegeben worden ist. Und wenn wir durch irgendein Pech den Dampfer verfehlen, dann müssen wir doch vom Land wegbleiben, bis wir schwach werden, verrückt vielleicht und sterben und tot hintreiben und einer oder der andere Dampfer der Gesellschaft auf das Boot mit den zwei toten Männern stößt, die den Schatz gerettet haben. Das, Señor, ist der einzige Weg, das Silber zu retten; denn, begreifen Sie, irgendwo an dieser Küste, auf einer Strecke von hundert Meilen, an Land zu gehen, würde für uns bedeuten, mit der nackten Brust in die Spitze eines Messers zu rennen. Diese Sache ist mir angehängt worden wie eine tödliche Krankheit. Wenn Menschen sie entdecken, dann bin ich tot, und Sie auch, Señor, da Sie ja mit mir kommen wollten. Das hier ist Silber genug, um eine ganze Provinz reich zu machen, geschweige denn ein Pueblo an der Küste, das von Dieben und Landstreichern bewohnt ist. Señor, sie würden meinen, der Himmel selbst habe ihnen diese Reichtümer in die Hände gespielt, und würden uns ohne Zögern die Kehlen abschneiden. Ich würde keinen Versicherungen, auch nicht des besten Mannes, längs der Ufer dieses Golfs trauen. Bedenken Sie auch, daß wir unser Leben nicht retten könnten, selbst wenn wir den Schatz auf das erste Verlangen herausgäben. Verstehen Sie das, oder muß ich es noch erklären?«

»Nein, du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte Decoud ein wenig nachlässig. »Ich kann es selbst gut genug sehen, daß der Besitz dieses Schatzes für Leute in unserer Lage wirklich eine tödliche Krankheit bedeutet. Aber er mußte aus Sulaco fortgebracht werden, und du wirst der Mann für diese Aufgabe sein.«

»Ich war es; aber ich kann nicht glauben«, sagte Nostromo, »daß der Verlust des Silbers Don Carlos Gould sehr viel ärmer gemacht hätte. Es gibt mehr davon im Gebirge. Ich habe es in ruhigen Nächten die Schüttrinne herunterprasseln hören, wenn ich nach Rincon ritt, um ein gewisses Mädel zu besuchen, nachdem meine Arbeit im Hafen getan war. Durch lange Jahre ist das reiche Erz mit einem Donnerlärm heruntergeströmt, und die Bergarbeiter sagen, es sei noch genug davon im Herzen des Gebirges, daß es noch viele Jahre weiterströmen könne. Und doch haben wir vorgestern gekämpft, um es vor dem Pöbel zu retten, und heute werde ich damit in die Dunkelheit hinausgeschickt, wo es nicht einmal Wind gibt, um uns das Fortkommen zu erleichtern; als wäre es das letzte bißchen Silber auf Erden, für das Brot für die Hungrigen gekauft werden sollte. Ha! Ha! Nun, ich will daraus die glorreichste und verzweifeltste Sache meines Lebens machen – Wind oder kein Wind! Es soll noch davon geredet werden, wenn die kleinen Kinder erwachsen und die erwachsenen Männer alt sind. Aha! Die Monteristen dürfen es nicht in die Hände bekommen, wurde mir gesagt, was immer auch mit Nostromo, dem Capataz, geschieht; und sie sollen es auch nicht haben, sage ich Ihnen, da es zur Sicherheit um Nostromos Hals gebunden worden ist.«

»Ich verstehe«, murmelte Decoud. Er verstand allerdings, daß sein Gefährte seine ganz eigene Anschauung von dem Unternehmen hatte.

Nostromo unterbrach seine Betrachtungen über die Art, in der, ohne jede tiefere Kenntnis der wahren Verhältnisse, die Vorzüge einzelner Männer in Anspruch genommen werden; er schlug vor, sie sollten die langen Riemen auslegen und den Leichter auf die Isabellen zu rudern. Es ginge nicht an, daß etwa das Tagesgrauen das Silberschiff kaum eine Meile vom Hafeneingang weg überraschte. Im allgemeinen waren ja, je tiefer die Dunkelheit, auch die Brisen um so stärker, auf die er gerechnet hatte, um Fahrt machen zu können; in dieser Nacht aber lag der Golf unter seinem Poncho von Wolken ohne einen Hauch da, eher tot als schlafend.

Don Martins weiche Hände schmerzten grausam bei der Handhabung des ungeheuren Ruders. Er hielt mannhaft, mit zusammengebissenen Zähnen, durch. Auch er hatte sich in die Irrgänge der Einbildungskraft verloren, und die merkwürdige Arbeit, einen Leichter zu rudern, schien notwendig zu der Idee eines neuen Staates zu gehören und durch die Liebe zu Antonia erhabene Bedeutung zu gewinnen. Trotz allen ihren Anstrengungen rührte sich der schwerbeladene Leichter kaum vom Fleck. Man konnte Nostromo zwischen dem gleichmäßigen Klatschen der Ruderschläge fluchen hören. »Wir fahren einen Bogen«, murmelte er. »Ich wollte, ich könnte die Inseln sehen.«

Aus Mangel an Übung überanstrengte sich Don Martin. Ab und zu rann ihm eine Muskelschwäche von den Spitzen der schmerzenden Finger durch jede Fiber seines Körpers und verging in jäher Hitze. Er hatte während der letzten achtundvierzig Stunden ohne Aufhören gekämpft, gesprochen, geistig und körperlich gelitten, in steter Anspannung. Er hatte keine Ruhe gehabt, sehr wenig zu essen, kein Nachlassen in der qualvollen Überreizung seiner Gedanken und Gefühle. Und sogar seine Liebe zu Antonia, aus der er Kraft und Begeisterung sog, hatte während der hastigen Unterredung an Don Josés Lager tragische Spannung erreicht. Und nun war er aus alledem plötzlich in diesen dunklen Golf verschlagen, dessen düsteres Schweigen, dessen atemloser Friede den qualvollen Zwang zu körperlicher Anstrengung noch steigerten. Er stellte sich mit einem Schauer des Entzückens vor, der Leichter könnte untergehen. ›Ich bin am Rande des Irrsinns‹, dachte er. Er zwang das Zittern aller seiner Glieder nieder, das Zittern in seiner Brust, das seinen erschöpften Körper der nervösen Spannkraft beraubte.

»Wollen wir rasten, Capataz?« schlug er nachlässig vor. »Wir haben noch viele Nachtstunden vor uns.«

»Richtig. Es ist kaum weiter als eine Meile, vermute ich. Rasten Sie Ihre Arme aus, Señor, wenn Sie das meinen. Sie werden keine andere Rast finden, das kann ich Ihnen versprechen, da Sie sich an diesen Schatz gehängt haben, dessen Verlust keinen armen Mann ärmer machen würde. Nein, Señor, es gibt keine Rast, bis wir auf einen nordwärts gehenden Dampfer stoßen, oder bis uns ein Schiff treibend findet, tot, auf des Engländers Silber ausgestreckt. Oder nein – por Dios! Ich will lieber mit der Axt ein Loch in den Bootsboden schlagen, bevor Durst und Hunger mir alle Kraft nehmen. Bei allen Heiligen und Teufeln, lieber soll die See den Schatz haben, als daß ich ihn einem Fremden zukommen lasse. Da es den Caballeros so gefallen hat, mich auf eine solche Fahrt auszuschicken, so sollen sie auch sehen, daß ich ganz der Mann bin, für den sie mich gehalten haben.«

Decoud lag keuchend auf den Silberkisten. Seine Eindrücke und Gefühle, so weit er zurückdenken konnte, erschienen ihm als der irrsinnigste aller Träume. Sogar seine leidenschaftliche Ergebenheit für Antonia, zu der er sich aus den Tiefen seiner Zweifelsucht emporgearbeitet, hatte jeden Anschein von Wirklichkeit verloren. Einen Augenblick lang war er die Beute einer sehr schlaffen, aber nicht unangenehmen Gleichgültigkeit.

»Ich bin sicher, niemand hatte die Absicht, daß Sie die Sache so verzweifelt wichtig nehmen sollten«, sagte er.

»Was war es dann? Ein Scherz?« knurrte der Mann, der auf den Lohnlisten der O. S. N. Niederlassung in Sulaco neben seiner Lohnziffer als ›Kaivorarbeiter‹ geführt wurde. »War es nur ein Scherz, daß sie mich nach zweitägigen Straßenkämpfen aus dem Schlaf weckten und mich dazu brachten, mein Leben auf eine schlechte Karte zu setzen? Und dabei weiß ja jedermann, daß ich Pech im Spiel habe.«

»Ja, jedermann kennt dein Glück bei Frauen, Capataz«, meinte Decoud begütigend.

»Sehen Sie, Señor«, fuhr Nostromo fort, »ich habe nicht den geringsten Einspruch erhoben. Sobald ich nur davon hörte, sah ich sofort, was für eine verzweifelte Sache es werden mußte, und entschloß mich, sie durchzuhalten. Jede Minute war kostbar. Erst mußte ich auf Sie warten. Dann, als wir in der Italia Una ankamen, rief mir der alte Giorgio zu, ich sollte den englischen Doktor holen. Später wollte mich diese arme sterbende Frau sehen, wie Sie wissen, Señor; ich ging widerwillig. Ich spürte schon, wie mir das verfluchte Silber schwer auf dem Rücken lastete, und fürchtete, daß die Frau, die ja wußte, daß sie im Sterben lag, von mir verlangen würde, ich sollte nochmals fortreiten und einen Priester holen. Vater Corbelàn, der keine Furcht kennt, wäre natürlich aufs erste Wort gekommen; aber Vater Corbelàn ist weit weg, in Sicherheit, bei der Bande Hernandez', und der Pöbel, der ihn gerne in Stücke gerissen hätte, ist gegen die Priester sehr aufgebracht. Kein einziger dieser fetten Padres hätte sich herbeigelassen, heute nacht den Kopf aus seinem Unterschlupf herauszustecken, um eine Christenseele zu retten. – Außer vielleicht unter meinem Schutz. Daran dachte die Frau. Ich tat so, als glaubte ich nicht, daß sie sterben würde. Señor, ich habe mich geweigert, für eine sterbende Frau einen Priester zu holen . . .«

Man hörte, wie Decoud sich regte.

»Das tatest du, Capataz!« rief er und änderte sofort den Ton: »Nun, weißt du – das war schön!«

»Sie glauben nicht an Priester, Don Martin? Ich auch nicht. Wozu hätte ich noch Zeit vergeuden sollen? Aber sie – sie glaubt. Das würgt mich in der Kehle. Nun ist sie vielleicht schon tot, und wir treiben hier, hilflos, ganz ohne Wind. Fluch auf allen Aberglauben! Sie starb in dem Gedanken, ich hätte sie um das Paradies betrogen, vermute ich. Es wird die verzweifeltste Sache meines Lebens.«

Decoud blieb in Gedanken versunken. Er versuchte die Empfindungen zu zergliedern, die die Worte seines Gefährten ausgelöst hatten. Die Stimme des Capataz ließ sich wieder hören.

»Jetzt, Don Martin, wollen wir wieder die Ruder nehmen und die Isabellen zu finden versuchen. Es gibt nur das oder die Versenkung des Leichters, wenn uns der Tag überrascht. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Dampfer mit den Truppen von Esmeralda jeden Augenblick daherkommen kann. Wir müssen uns richtig ins Zeug legen. Ich habe hier einen Kerzenstummel entdeckt, und wir müssen es wagen, ein kleines Licht zu brennen, um nach dem Bootskompaß unseren Kurs machen zu können. Der Wind ist nicht einmal stark genug, um die Kerze auszublasen – soll doch der Fluch des Himmels diesen blinden Golf treffen!«

Eine kleine, ganz ruhig brennende Flamme zeigte sich. In ihrem Licht erschienen die klobigen Rippen und der Boden des leergebliebenen Leichterteils. Decoud sah, wie Nostromo aufstand, um zu rudern. Er sah ihn bis zu der roten Hüftenschärpe und an seiner linken Seite den weißen Kolben eines Revolvers und den Holzgriff eines langen Messers. Decoud straffte sich für die Anstrengung des Ruderns. Gewiß war der Wind nicht stark genug, um die Kerze auszublasen, aber die Flamme schwankte ein wenig von der leisen Fahrt. Der Leichter war so schwer, daß sie ihn mit größter Anstrengung nicht schneller als etwa eine Meile in der Stunde vorwärtsbringen konnten. Das genügte immerhin, um sie lange vor Tagesanbruch bis an die Isabellen zu bringen. Sie hatten noch gute sechs Stunden Nacht vor sich, und die Entfernung vom Hafen bis zur Großen Isabelle betrug nicht mehr als zwei Meilen. Decoud hielt die schwere Arbeit der Ungeduld des Capataz zugute. Mitunter rasteten sie und strengten dann ihre Ohren an, um den Dampfer von Esmeralda zu hören. In dieser völligen Stille mußte ein fahrender Dampfer von weitem zu hören sein. Etwas zu sehen, kam gar nicht in Frage. Sie konnten einander nicht sehen. Sogar das Segel des Leichters, das sie gesetzt gelassen hatten, war unsichtbar. Sie rasteten sehr oft.

»Caramba!« sagte Nostromo plötzlich während einer dieser Pausen, in denen sie müßig gegen die schweren Ruder gelehnt standen. »Was ist das? Sind Sie so bekümmert, Don Martin?«

Decoud versicherte ihm, er sei nicht im geringsten bekümmert. Nostromo verhielt sich eine Zeitlang ganz ruhig und forderte dann Decoud flüsternd auf, achtern zu kommen.

Mit den Lippen an Decouds Ohr erklärte er, er glaube, es sei noch jemand außer ihnen im Leichter. Er habe nun zweimal ein unterdrücktes Schluchzen gehört.

»Señor«, flüsterte er verblüfft, »ich bin ganz sicher, daß jemand hier in diesem Leichter weint.«

Decoud hatte nichts gehört. Er sprach einen Zweifel aus. Immerhin sei es ja leicht genug, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Es ist ganz erstaunlich«, flüsterte Nostromo. »Hätte sich jemand an Bord verstecken können, während der Leichter längs der Landungsbrücke lag?«

»Und du sagst, es habe wie ein Schluchzen geklungen?« fragte Decoud und dämpfte gleichfalls die Stimme. »Wenn er weint, dann kann er nicht gefährlich sein, wer immer er auch ist.«

Sie kletterten über die in der Mitte aufgestaute kostbare Ladung, krochen am Mast vorbei und tasteten unter das Halbdeck. Ganz voraus, im engsten Teil des Bugs, trafen ihre Hände auf die Glieder eines Mannes, der totenstill liegenblieb. Selbst zu sehr erschrocken, um einen Ton von sich zu geben, zerrten sie ihn bei einem Arm und dem Rockkragen nach achtern. Er schien schlaff und leblos.

Das Licht des Kerzenstummels fiel auf ein rundes, hakennasiges Gesicht mit schwarzem Schnurrbart. Er war unsagbar schmutzig. Auf dem rasierten Teil seines Gesichts waren graue Bartstoppeln nachgewachsen. Die dicken Lippen waren leicht geöffnet, doch die Augen blieben geschlossen. Decoud erkannte zu seiner ungeheuren Überraschung Señor Hirsch, den Häutehändler aus Esmeralda. Auch Nostromo hatte ihn erkannt. Und sie sahen einander über diesen Körper weg an, der, die nackten Füße höher als der Kopf, in einer Ruhe dalag, die lächerlich genug Schlaf, Ohnmacht oder Tod vortäuschen sollte.

 


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