Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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V

Der Wagen der Goulds war der erste, der vom Hafen in die leere Stadt zurückkehrte. Auf dem alten Pflaster, das ursprünglich in schönem Muster gelegt, mit der Zeit aber holprig und löcherig geworden war, verhielt der verständige Ignacio, auf die Federn des Pariser Landauers bedacht, die Tiere zum Schritt, und Decoud betrachtete von seiner Ecke aus verdrießlich die Innenseite des Tors. Die stämmigen Seitentürme hielten zwischen sich das massige Mauerwerk, das dicht mit Gras bewachsen war und im Scheitelpunkt des Bogens ein altes, graues, reichverschnörkeltes Schild trug; das Wappen von Spanien war darin nur noch ganz verwaschen zu erkennen, als sollte es in Bälde dem neuen Sinnbild des andrängenden Fortschritts Platz machen.

Der aufdringliche Lärm des Güterzugs schien Decouds Verdruß noch zu steigern. Er murmelte etwas vor sich hin und begann dann in kurzen, ärgerlichen Sätzen gegen das Schweigen der beiden Frauen anzureden. Sie sahen ihn nicht an; und Don José, dessen halbdurchscheinendes, wächsernes Gesicht im Schatten des weichen grauen Hutes lag, machte an Frau Goulds Seite die Schwankungen des Wagens leise mit.

»Dieser Ton ist nur ein neuer Beweis für eine sehr alte Wahrheit.«

Decoud sprach französisch, vielleicht wegen Ignacio auf dem Kutschbock; der alte Kutscher, dessen breiter Rücken in eine kurze, silbergestickte Jacke gezwängt war, hatte große Ohren, deren dicke Muscheln weit von dem geschorenen Kopf abstanden.

»Jawohl, der Lärm vor den Stadtmauern ist neu, aber der Grundsatz ist alt.«

Er kaute eine Weile an seinem Ärger und fuhr dann mit einem Seitenblick auf Antonia fort:

»Nun, stellen Sie sich doch unsere Vorfahren in Sturmhauben und Harnischen vor, in Schlachtordnung vor eben diesem Tor, einer Rotte von Abenteurern gegenüber, die eben von ihren Schiffen im Hafen gelandet sind. Diebe, natürlich; auch Spekulanten. Ihre Fahrten stellten durchwegs Spekulationen sehr ernster und achtbarer Leute in England dar. Das ist Geschichte, wie dieser lächerliche Seebär Mitchell immer sagt.«

»Mitchells Vorkehrungen für die Einschiffung der Truppen waren ausgezeichnet!« rief Don José.

»Das! – Das! – Oh, das ist in Wahrheit das Werk dieses Genueser Seemanns. Aber um auf meinen Lärm zurückzukommen: in alten Tagen gab es Trompetenschall vor diesem Tor. Kriegstrompeten! Ich bin sicher, daß sie Trompeten hatten. Ich habe irgendwo gelesen, daß Drake, der Größte dieser Männer, an Bord seines Schiffes, allein in seiner Kajüte, bei Trompetenschall zu speisen pflegte. Damals war diese Stadt sehr reich. Die Männer kamen, um den Reichtum zu holen. Nun ist das ganze Land wie ein Schatzhaus, und alle diese Menschen brechen bei uns ein, während wir uns gegenseitig die Kehlen abschneiden. Der einzige Grund, der sie noch etwas zurückhält, ist gegenseitige Eifersucht. Aber eines Tages werden sie sich untereinander verständigen – und wenn wir einmal unsere Zwistigkeiten beigelegt haben und gesittet und ehrenwert sein werden, dann wird nichts mehr für uns übrig sein; es war immer so. Wir sind ein wundervolles Volk, aber es ist immer unser Schicksal gewesen« – er sagte nicht »beraubt«, sondern fuhr nach einer Pause fort: »ausgebeutet zu werden!«

Frau Gould sagte: »Oh, das ist ungerecht!« und Antonia warf ein: »Antworten Sie ihm nicht, Emilia, er greift mich an«

»Sie dachten doch gewiß nicht, daß ich etwa Don Carlos meinte!« erwiderte Decoud.

Und dann hielt der Wagen vor der Türe der Casa Gould. Der junge Mann bot den Damen die Hand. Sie gingen voran ins Haus; Don José ging neben Decoud, und der gichtische alte Pförtner trottete mit ein paar Decken über dem Arm hinter ihnen drein. Don José schob seine Hand unter den Arm des Journalisten von Sulaco.

»Das ›Porvenir‹ muß einen langen und zuversichtlichen Artikel über Barrios und die Unwiderstehlichkeit seiner Armee von Cayta bringen! Wir müssen die öffentliche Meinung im Lande stützen. Wir müssen ermutigende Auszüge nach Europa und den Vereinigten Staaten telegraphieren, um auch im Auslande eine günstige Meinung aufrechtzuerhalten.«

Decoud murmelte: »O ja, wir müssen unsere Freunde, die Spekulanten, trösten.«

Die lange offene Galerie lag im Schatten, die Blüten der Topfpflanzen längs des Geländers hingen reglos, und alle die Glastüren der Empfangsräume standen offen. Am jenseitigen Ende erstarb das Klirren von Sporen.

Basilio trat gegen die Wand beiseite und sagte höflich zu den vorbeigehenden Damen: »Der Señor Administrador ist eben vom Gebirge zurück.«

In der großen Sala, in der das Durcheinander alter spanischer und moderner europäischer Einrichtungsstücke unter der hohen weißen Decke verschiedene Sammelpunkte zu schaffen schien, blinkte das Silber und Porzellan des Teegeschirrs aus einer Gruppe zwerghafter Stühle, die aus einem Damenboudoir genommen schienen und in das Ganze die Note fraulicher Häuslichkeit trugen.

Don José ließ sich in seinem Schaukelstuhl nieder, den Hut auf den Knien, und Decoud wandelte die ganze Länge des Raumes auf und ab, an Tischen mit Nippsachen vorbei; zeitweilig verschwand er fast hinter den hohen Lehnen lederbezogener Sofas. Er dachte an das ärgerliche Gesicht Antonias; er vertraute darauf, daß er mit ihr Frieden machen würde. Er war nicht nach Sulaco gekommen, um mit Antonia zu streiten.

Martin Decoud ärgerte sich über sich selbst. Alles, was er ringsum sah und hörte, ging gegen seine auf Grund europäischer Gesittung vorgefaßten Meinungen. Es war etwas ganz andres, Revolutionen aus der Entfernung der Pariser Boulevards zu betrachten. Hier an Ort und Stelle war es nicht möglich, das Tragikomische mit einem kurzen »Quelle farce!« abzutun.

Die Wirklichkeit der politischen Vorgänge war unbestreitbar und wurde noch packender durch Antonias Glauben an die gute Sache. Die Roheit des Geschehens verletzte sein Feingefühl. Er war über seine Empfindlichkeit selbst überrascht.

›Ich glaube fast, daß mehr vom Costaguanero in mir ist, als ich selbst gemeint hatte‹, dachte er.

Seine Mißachtung wuchs, als wehrte sich seine Spottsucht gegen die Handlungsweise, zu der er durch seine Neigung zu Antonia gedrängt worden war. Er tröstete sich mit der Feststellung, daß er kein Patriot, sondern ein Liebhaber sei.

Die Damen kamen ohne Hüte herein, und Frau Gould ließ sich vor dem kleinen Teetisch nieder. Antonia nahm in vollendet anmutiger Haltung, den Fächer in der Hand, ihren während der Empfangsstunde gewohnten Platz ein – die Ecke des Ledersofas. Decoud bog von der geraden Richtung seines Auf-und-nieder-Wandelns ab und lehnte sich an die Rücklehne ihres Sitzes.

Er sprach lange von rückwärts in ihr Ohr, zärtlich, mit einem halben Lächeln und dem Ausdruck vertraulicher Abbitte. Sie hielt ihren Fächer lose auf den Knien. Sie wandte dem Mann keinen Blick zu. Seine hastigen Worte wurden immer eindringlicher und zärtlicher. Schließlich wagte er ein leises Lachen.

»Nein, wirklich, Sie müssen mir vergeben. Manchmal muß man auch ernsthaft sein.« Er brach ab. Sie wandte den Kopf ein wenig; ihre blauen Augen glitten langsam zu ihm empor, in weichem Fragen.

»Sie glauben doch nicht, daß ich ernsthaft bin, wenn ich Montero jeden zweiten Tag im ›Porvenir‹ eine Gran' bestia nenne? Das ist keine ernsthafte Beschäftigung. Keine Beschäftigung ist ernsthaft, nicht einmal, wenn eine Kugel durchs Herz die Strafe für den Mißerfolg ist.«

Ihre Hand schloß sich fester um den Fächer.

»Ein wenig Vernunft, Sie verstehen, ich meine: ein wenig gesunder Menschenverstand mag sich in das Denken einschleichen; ein Schimmer von Wahrheit. Ich meine echte Wahrheit, für die in der Politik oder im Journalismus kein Platz ist. Ich habe zufällig ausgesprochen, was ich dachte, und Sie sind ärgerlich! Wenn Sie die Güte haben wollen, ein wenig nachzudenken, dann werden Sie einsehen, daß ich wie ein Patriot gesprochen habe.«

Sie öffnete zum erstenmal ihre roten Lippen, nicht unfreundlich.

»Ja – aber Sie sehen nie das Ziel. Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind. Ich glaube, daß niemand wahrhaft selbstlos ist, außer, vielleicht, Sie selbst, Don Martin.«

»Gott behüte! Das ist das Letzte, was Sie von mir glauben sollten, wenn es nach mir geht!« sagte er lebhaft und verstummte.

Sie begann sich langsam zu fächeln, ohne die Hand zu heben. Nach einer Weile flüsterte er leidenschaftlich:

»Antonia!«

Sie lächelte und streckte auf englische Art Charles Gould ihre Hand entgegen, der sich eben vor ihr verbeugte; Decoud, beide Ellbogen auf der Rücklehne des Sofas, senkte den Blick und murmelte: »Bon jour!«

Der Señor Administrador der San Tomé-Mine beugte sich kurz über seine Frau. Sie wechselten einige Worte, von denen nur Frau Goulds Satz »die größte Begeisterung« zu verstehen war.

»Jawohl«, murmelte Decoud von neuem. »Auch er!«

»Das ist glatte Verleumdung«, sagte Antonia, nicht sonderlich streng.

»Verlangen Sie doch von ihm, daß er seine Mine in den Schmelztiegel für die große Sache werfen soll«, flüsterte Decoud.

Don José hatte die Stimme erhoben; er rieb sich vergnügt die Hände. Das glänzende Aussehen der Truppen und die große Menge neuer tödlicher Gewehre auf den Schultern dieser braven Leute schienen ihn mit begeisterter Zuversicht zu erfüllen.

Charles Gould, sehr lang und mager, stand von seinem Stuhl auf und hörte zu, doch war in seinem Gesicht nichts als liebenswürdige Aufmerksamkeit zu entdecken.

Unterdessen hatte sich Antonia erhoben, hatte den Raum durchquert und stand nun an einem der drei hohen Fenster, die auf die Straße gingen. Decoud folgte ihr. Das Fenster stand offen, und er lehnte sich gegen die dicke Mauer. Der Damastvorhang, der in starren Falten von der breiten Messingstange niederfiel, verbarg ihn zum Teil den Menschen im Zimmer. Er kreuzte die Arme über der Brust und sah starr nach Antonias Profil.

Die vom Hafen zurückkehrenden Menschen belebten das Pflaster; das Scharren von Sandalen und leises Stimmengesumm tönten herauf. Ab und zu rollte eine Kutsche langsam über das holprige Pflaster der Calle de la Constitucion. Es gab nicht viel Privatwagen in Sulaco; selbst zur belebtesten Stunde konnte man sie auf der Alameda mit einem Blick zählen. Die großen Familienarchen schaukelten in starken Lederbändern und waren voll von hübschen und gepuderten Gesichtern, aus denen lebhafte schwarze Augen blitzten. Als erster fuhr Don Juste Lopez, der Präsident der Provinzialversammlung, mit seinen drei hübschen Töchtern vorbei. Er war sehr feierlich, im schwarzen Gehrock mit steifer weißer Binde, als leitete er von der Tribüne aus eine Debatte; obwohl sie alle die Augen hoben, unterließ Antonia doch den üblichen Gruß durch Handwinken, und die andern taten, als sähen sie die beiden jungen Leute nicht, diese Costaguaneros mit europäischen Manieren, deren Überspanntheiten hinter den vergitterten Fenstern der ersten Familien von Sulaco eifrig besprochen wurden. Dann fuhr die verwitwete Señora Gavilaso de Valdes vorbei, schön und würdig, in einer mächtigen Kutsche, in der sie zwischen der Stadt und ihrem Landhause hin und her zu reisen pflegte, umgeben von bewaffneten Begleitern in Lederanzügen und großen Sombreros, mit Karabinern über den Sattelknöpfen. Sie war eine Frau von sehr vornehmer Familie, stolz, reich und gütig. Ihr zweiter Sohn, Jaime, war eben mit Barrios' Stab abgegangen. Der älteste, ein unnützer, launischer Bursche, erfüllte Sulaco mit Gerüchten von seiner Verschwendung und spielte hoch im Klub. Die zwei jüngsten Söhne, gelbe Ribieristen-Kokarden an den Hüten, saßen der Mutter gegenüber. Auch sie tat, als sähe sie nicht, wie Señor Decoud öffentlich, unter Mißachtung jeglichen Herkommens, mit Antonia sprach. Und dabei war er nicht einmal ihr Novio, soviel man wußte! Obwohl es selbst in diesem Falle unpassend genug gewesen wäre. Aber die würdige alte Dame, hochgeachtet und bewundert von den ersten Familien, wäre sicher noch empörter gewesen, hätte sie die Worte hören können, die die beiden am Fenster wechselten.

»Sie sagten, daß ich das Ziel aus den Augen verloren hätte? Ich habe nur ein Ziel in der Welt.«

Sie machte eine fast unmerkliche verneinende Kopfbewegung, sah aber dabei weiter über die Straße weg nach dem Hause der Avellanos hinüber, das grau, mit Anzeichen des Verfalls und mit Eisengittern wie ein Gefängnis dalag.

»Und es wäre so leicht zu erreichen«, fuhr er fort, »dieses Ziel, das ich, wissentlich oder nicht, immer im Herzen gehabt habe – schon seit dem Tag, als Sie mich einmal in Paris so abkanzelten; Sie wissen doch.«

Ein leichtes Lächeln schien über die Gesichtshälfte zu zucken, die ihm zugekehrt war.

»Sie wissen doch, was für eine schreckliche Person Sie waren, so etwas wie eine Charlotte Corday in den Kleidern eines Schulmädels; eine wilde Patriotin. Ich nehme an, Sie hätten gerne Guzman Bento ein Messer in den Leib gejagt?«

Sie unterbrach ihn: »Sie tun mir zuviel Ehre an.«

»Jedenfalls«, sagte er und ging plötzlich zu bitterem Spott über, »hätten Sie mich ohne jedes Bedenken hingeschickt, um den Menschen zu erdolchen.«

»Ah, par exemple!« murmelte sie empört.

»Nun«, fuhr er mit gemachtem Ernst fort, »Sie halten mich doch nun hier fest und lassen mich diesen tödlichen Unsinn schreiben. Tödlich für mich! Er hat schon meine Selbstachtung getötet, und Sie können sich vorstellen«, fügte er leicht spöttisch hinzu, »daß Montero, im Falle seines Erfolges, seine Rechnung mit mir auf die einzige Weise begleichen würde, deren ein Vieh wie er fähig ist, wenn ihn ein Mann von Bildung wöchentlich dreimal eine Gran' bestia genannt hat. Es ist eine Art geistigen Todes; der andere Tod aber lauert im Hintergrund auf einen Journalisten meiner Begabung.«

»Falls Montero Erfolg hat«, sagte Antonia gedankenvoll.

»Sie scheinen hochbefriedigt darüber, daß mein Leben an einem Haar hängt«, gab Decoud mit breitem Lächeln zurück. »Und der andere Montero, der in den Aufrufen ›mein teurer Bruder‹ genannt wird, der Guerillero – habe ich von dem nicht geschrieben, daß er den Gästen in unserer Pariser Gesandtschaft die Mäntel abnahm und die Teller wechselte, wenn er nicht, zur Zeit Rojas, damit beschäftigt war, unsere Flüchtlinge zu bespitzeln? Er wird diese heilige Wahrheit mit Blut abwaschen. Mit meinem Blut! Warum sehen Sie so ärgerlich drein? Das ist nur ein Stück der Lebensgeschichte eines unserer großen Männer. Was glauben Sie wohl, was er mit mir tun wird? Es gibt da eine gewisse Klostermauer, gerade um die Ecke der Plaza, dem Tor der Stierkampf-Arena gegenüber; kennen Sie sie? Gegenüber dem Tor mit der Inschrift: ›Intrada de la Sombra.‹ Vielleicht sehr passend! Dort hat der Onkel unseres Hausherrn seinen englisch-südamerikanischen Geist aufgegeben. Und, bedenken Sie, er hätte fliehen können! Ein Mann, der mit der Waffe in der Hand gekämpft hat, darf fliehen. Sie hätten mich mit Barrios gehen lassen können, wenn Ihnen an mir gelegen wäre. Ich hätte eines dieser Gewehre getragen, auf die Don José so große Stücke hält, und wäre wunschlos in den Reihen der armen Peons und Indianer marschiert, die nichts von Vernunft oder Politik wissen. Die schwächste Hoffnung in der schwächsten Armee der Welt wäre immer noch sicherer gewesen als die, der zuliebe Sie mich hier festhalten. Wenn man Krieg führt, dann darf man fliehen, nicht aber, wenn man seine Zeit damit hinbringt, arme, unwissende Narren zu Mord und Tod aufzustacheln.«

Sein Ton blieb oberflächlich; und als hätte sie seine Gegenwart vergessen, stand Antonia reglos da, die Hände leicht gefaltet, und ließ aus schlaffen Fingern den Fächer niederhängen. Decoud wartete eine Zeitlang und fuhr dann fort:

»Ich komme an die Mauer«, sagte er mit spaßhafter Verzweiflung.

Auch diese Erklärung bewog das Mädchen nicht, ihn anzusehen; ihr Kopf blieb reglos, die Augen auf das Haus der Avellanos gerichtet, dessen zerbröckelnde Pfeiler und Simse und sonstigen Verfall die zunehmende Dunkelheit nun verhüllte. Nur die Lippen regten sich in Antonias Gesicht, während sie die Worte formte:

»Martin, Sie werden mich zum Weinen bringen.«

Er verharrte einen Augenblick schweigend, wie bestürzt, überwältigt geradezu von einem Glücksschauer, den letzten Schatten des spöttischen Lächelns noch um seinen Mund und ungläubige Überraschung in den Augen. Der Wert eines Ausspruchs liegt in der Persönlichkeit, von der er stammt; denn nichts Neues kann gesagt werden, von Mann oder Weib; und dies nun waren die letzten Worte, so schien es ihm, die je von Antonia zu erwarten gewesen wären. Nie zuvor in all ihren kurzen Begegnungen war er mit ihr so weit ins reine gekommen; doch bevor sie noch Zeit gefunden hatte, sich ihm voll zuzukehren, was sie mit anmutiger Zurückhaltung tat, hatte er schon auf sie einzureden begonnen:

»Meine Schwester wartet nur darauf, Sie umarmen zu können. Mein Vater ist außer sich vor Freude. Von meiner Mutter will ich gar nicht reden! Unsere Mütter waren wie Schwestern. Nächste Woche geht ein Postdampfer nach dem Süden – fahren wir doch fort! Dieser Morago ist ein Narr! Ein Mann wie Montero ist zu bestechen; es ist Landesbrauch. Es ist Überlieferung – Politik; lesen Sie doch ›Fünfzig Jahre Mißwirtschaft‹.«

»Lassen Sie den armen Papa in Frieden, Don Martin, er glaubt . . .«

»Ich empfinde die größte Zärtlichkeit für Ihren Vater«, fuhr er hastig fort. »Aber ich liebe Sie, Antonia! Und Morago hat diese Geschichte elend verpfuscht. Vielleicht auch Ihr Vater. Ich weiß es nicht. Montero war zu bestechen. Ich denke mir, er verlangte nichts weiter als seinen Anteil an dieser famosen Anleihe für Nationalen Aufbau. Warum haben ihn die dummen Leute von Sta. Marta nicht mit einer Sendung nach Europa betraut, oder mit sonst etwas? Er hätte sich im voraus fünf Jahre Gehalt geben lassen und wäre nach Paris abgegangen, um dort herumzulumpen, dieser blöde, wilde Indio!«

»Der Mann«, sagte sie nachdenklich und sehr ruhig vor seinem Ausbruch, »war von Eitelkeit verblendet. Wir waren genau unterrichtet, nicht nur durch Morago, auch von anderer Seite. Sein Bruder schürte auch.«

»O ja!« sagte er. »Sie wissen das natürlich. Sie wissen ja alles. Sie lesen den ganzen Briefwechsel, Sie schreiben alle die Papiere – alle diese Staatspapiere, die hier in diesem Raum beraten werden, in blinder Befolgung eines Grundsatzes von politischer Sauberkeit. Hatten Sie nicht Charles Gould vor Augen! Rey de Sulaco! Er und seine Mine sind der greifbare Beweis dafür, was hätte getan werden können. Glauben Sie, daß er seinen Erfolg seiner Treue zu tugendhaften Grundsätzen verdankt? Und alle diese Eisenbahner mit ihrer ehrlichen Arbeit! Natürlich ist Arbeit ehrlich! Aber wie dann, wenn man nicht ehrlich arbeiten kann, bevor nicht die Diebe befriedigt sind? Hätte nicht er, ein Gentleman, diesem Sir John Soundso sagen können, daß dieser Montero ausgekauft werden müßte – er und alle seine Negroliberalen, die an seinen goldgestickten Rockschößen hängen? Er hätte ausgekauft werden müssen, mit seinem eigenen dummen Gewicht in Gold – seinem Gewicht in Gold, sage ich, mit Stiefeln, Säbel, Sporen, Dreispitz und dem Rest.«

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es war unmöglich«, murmelte sie.

»Er wollte das Ganze einschieben? Wie?«

Sie sah ihm nun in der tiefen Fensternische voll ins Gesicht, ganz nahe und reglos. Ihre Lippen bewegten sich hastig. Decoud lehnte den Rücken gegen die Mauer und hörte mit gekreuzten Armen und gesenkten Augenlidern zu. Er trank den Laut ihrer anmutigen Stimme und beobachtete, wie ihre Kehle bebte, als stiegen Gefühlswellen aus ihrem Herzen hoch, um sich in der Luft zu Worten zu formen. Auch er hatte seinen Ehrgeiz. Er dachte, sie mit sich fortzuführen aus diesem lächerlichen Kleinkram von Pronunziamentos und Reformen. All dies war verkehrt – hoffnungslos verkehrt; doch sie bezauberte ihn, und manchmal durchbrach die treffende Klugheit eines Satzes diesen Zauber und ersetzte ihn durch eine halb widerwillige Anteilnahme. Manche Frauen hielten sich hart an der Schwelle des Genies, überlegte er. Sie wünschten nicht zu wissen, zu denken oder zu verstehen. Leidenschaft ersetzte das alles, und er war bereit, zu glauben, daß manche überraschend tiefsinnige Bemerkung, manche Kennzeichnung oder manches Urteil über ein Ereignis an das Wunderbare grenzten. Er konnte mit außerordentlicher Schärfe in der gereiften Antonia das ernste Schulmädchen früher Tage sehen. Sie nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Mitunter konnte er ein beifälliges Murmeln nicht unterdrücken. Dann und wann warf er einen ganz ernsthaften Widerspruch ein. Allmählich gerieten sie in ein Gespräch; der Vorhang verbarg sie halb den Menschen in der Sala.

Draußen war es dunkel geworden. Aus dem tiefen Abgrund des Schattens zwischen den Häusern, schwach von den wenigen Straßenlampen erhellt, stieg die abendliche Stille von Sulaco auf; die Stille einer Stadt mit wenigen Kutschen, unbeschlagenen Pferden und einer Bevölkerung, die weiche Sandalen trug. Die Fenster der Casa Gould warfen ihre leuchtenden Rechtecke auf das Haus der Avellanos. Dann und wann zog unten am Fuß der Mauer der leichte Schall von Schritten zugleich mit dem flackernden Glühpünktchen einer Zigarette vorbei. Die Nachtluft, als wäre sie gekühlt von den Schneefeldern des Higuerota, erfrischte ihre Gesichter.

»Wir Leute vom Westen«, sagte Martin Decoud und gebrauchte dabei den Namen, den die Bewohner der Provinz von Sulaco sich selbst beilegten, »sind immer grundverschieden und abgesondert gewesen. Solange wir Cayta halten, kann uns nichts erreichen. Während aller der Wirren hat nie eine Armee dieses Gebirge überquert. Revolutionen in den Mittelprovinzen schließen uns augenblicklich ab. Sehen Sie doch, wie völlig diese Abgeschlossenheit jetzt ist! Die Nachricht von Barrios' Auszug wird nach den Vereinigten Staaten gekabelt werden und erst auf diesem Wege, über das Kabel an der andern Küste, Sta. Marta erreichen. Wir haben die größten Reichtümer, die größte Fruchtbarkeit, das reinste Blut in unseren großen Familien, die arbeitsamste Bevölkerung. Die westliche Provinz sollte für sich bleiben. Der frühere Föderalismus war für uns nicht schlecht. Dann kam diese Union, der sich Don Henrique Gould widersetzte. Sie hat der Tyrannei den Weg gebahnt; und seither hängt uns hier der Rest von Costaguana wie ein Mühlstein am Halse. Die westliche Provinz ist so groß, wie sie sich ein Mann für sein Vaterland nur wünschen kann. Sehen Sie die Berge! Die Natur selbst scheint uns zuzurufen: ›Trennt euch!‹«

Sie machte eine Gebärde nachdrücklicher Verneinung. Ein Schweigen trat ein.

»O ja! Ich weiß, das widerspricht den Lehrsätzen, die in der ›Geschichte von fünfzig Jahren Mißwirtschaft‹ niedergelegt sind. Ich versuche nur, vernünftig zu sein. Aber meine Vernunft scheint für Sie immer ein Anlaß zur Kränkung. Habe ich Sie mit der Darlegung dieses durchaus vernünftigen Ehrgeizes sehr verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie sei nicht verletzt, aber der Gedanke ginge gegen ihre früheren Überzeugungen. Ihr Patriotismus reiche weiter. Sie habe diese Möglichkeit nie ins Auge gefaßt.

»Und doch wird sie vielleicht für einige Ihrer Überzeugungen noch die Rettung bedeuten«, sagte er.

Sie antwortete nicht. Sie schien abgespannt. Sie lehnten nebeneinander am Geländer des kleinen Balkons, sehr freundschaftlich, und gaben sich nun, da die Politik erschöpft war, schweigend dem Gefühl ihrer Nähe hin, in einer jener tiefen Pausen, wie sie sich nach dem Aufwallen der Leidenschaft ergeben. Vom Ende der Straße, gegen die Plaza zu, glimmte längs dem Rand des Bürgersteigs die rote Kohlenglut in den Brazeros der Marktweiber, die sich ihr Abendessen kochten. Im Lichtkegel einer Straßenlampe tauchte lautlos ein Mann auf und ließ kurz den farbigen Überschlag seines breitgesäumten Ponchos sehen, der ihm von den Schultern bis über das Knie hinunterhing. Vom Hafenende der Calle her kam ein Reiter auf leise schreitendem Pferd, das im Schein jeder Straßenlampe unter der dunklen Gestalt des Reiters silbergrau aufglänzte.

»Da sehen Sie den berühmten Capataz de Cargadores«, sagte Decoud gutgelaunt, »wie er in aller Pracht von getaner Arbeit kommt. Der zweite Große Mann von Sulaco, nach Don Carlos Gould. Aber er ist gutmütig und hat mir gestattet, mich mit ihm zu befreunden.«

»Oh, wirklich«, sagte Antonia. »Wie wurden Sie Freunde?«

»Ein Journalist soll den Finger auf dem Puls des Volkes haben, und dieser Mann ist einer der Führer des Volkes. Ein Journalist soll bemerkenswerte Leute kennen – dieser Mann ist in seiner Art bemerkenswert.«

»O ja!« sagte Antonia nachdenklich. »Es ist bekannt, daß dieser Italiener großen Einfluß hat.«

Der Reiter war unter ihnen vorbeigezogen, und der schwache Lichtschein hatte auf der breiten Kruppe der grauen Stute aufgeglänzt, auf einem blanken, schweren Steigbügel, auf einem langen Silbersporn; doch der schwache gelbe Lichtschimmer in der Dämmerung war machtlos vor der geheimnisvollen Verhüllung der dunklen Gestalt, deren unsichtbares Gesicht ein großer Sombrero verbarg.

Decoud und Antonia blieben weiter über den Balkon gelehnt, Seite an Seite; ihre Ellbogen berührten sich, ihre Köpfe schwebten über der Dunkelheit der Straße; die hellerleuchtete Sala lag in ihrem Rücken. Dies war ein außergewöhnlich unschickliches tête-à-tête, dessen im ganzen Bereich der Republik nur die überspannte Antonia fähig war – das arme mutterlose Mädchen, nie begleitet, mit einem sorglosen Vater, der nur daran gedacht hatte, sie studieren zu lassen. Sogar Decoud selbst schien zu empfinden, daß diese Ungestörtheit so viel war, wie er nur erwarten konnte, bis – bis die Revolution vorüber war und er sie nach Europa mitnehmen konnte, weg von dem endlosen Bürgerzwist, dessen Sinnlosigkeit noch unerträglicher erschien als seine Niedertracht. Auf einen Montero würde ein anderer folgen, die Gesetzlosigkeit des Gesindels von allen Farben und allen Rassen, Barbarei, unabänderliche Gewaltherrschaft; wie der große Befreier Bolivar in seiner Verbitterung gesagt hatte: »Amerika ist nicht zu regieren. Für seine Unabhängigkeit arbeiten, heißt die See pflügen.« Daran liege ihm nichts, erklärte er freimütig; er benutzte jede Gelegenheit, um ihr zu sagen, daß er, wenn sie auch einen Blanco-Journalisten aus ihm gemacht habe, doch kein Patriot sei. Vor allem habe das Wort keinen Sinn für den Gebildeten, dem die Beschränkung in jedem Glauben verhaßt sei; und zum zweiten sei es durch die Verbindung mit den ewigen Wirren dieses unglücklichen Landes hoffnungslos besudelt; es habe zum Kampfruf für finstere Barbarei gedient, einen Mantel für Gesetzlosigkeit, Verbrechen, Raub und offenen Diebstahl abgegeben.

Er war selbst überrascht von der Wärme seiner Ausführungen. Er brauchte die Stimme nicht zu senken; sie hatte die ganze Zeit über leise geklungen, wie ein bloßes Murmeln im Schweigen der dunklen Häuser, deren Fensterläden nach dem Brauch von Sulaco gegen die Nachtluft frühe geschlossen waren. Nur die Sala der Casa Gould schickte trotzig den Schein ihrer vier Fenster hinaus, wie ein Bekenntnis zu hellem Licht in der trostlosen Dunkelheit der Straße. Nach kurzem Schweigen hob das Flüstern auf dem Balkon wieder an.

»Aber wir arbeiten ja daran, dies alles zu ändern«, widersprach Antonia. »Das ist es ja, was wir ersehnen. Es ist unser Ziel, es ist die große Sache. Und das Wort, das Sie verachten, hat auch für Aufopferung gegolten, für Mut, Beharrlichkeit und Leiden. Papa, der . . .«

»Die See pflügen«, warf Decoud ein und sah zu Boden.

Von unten klangen hastige, schwere Schritte.

»Ihr Onkel, der Großvikar der Kathedrale, ist eben in den Torweg eingebogen«, bemerkte Decoud. »Er hat heute morgen auf der Plaza für die Truppen eine Messe gelesen. Sie hatten ihm aus Trommeln einen Altar gebaut und alle die bemalten Holzklötze an die Luft herausgeschafft. Alle die hölzernen Heiligen standen oben auf der großen Treppe militärisch in Reih und Glied. Sie sahen wie eine phantastische Ehrenwache für den Generalvikar aus. Ich habe die feierliche Handlung von den Fenstern des ›Porvenir‹ aus mit angesehen. Er ist fabelhaft, Ihr Onkel, der Letzte der Corbelàns. Er glitzerte nur so in seinen Gewändern, mit dem großen scharlachroten Samtkreuz über dem Rücken. Die ganze Zeit über saß unser Retter Barrios an einem offenen Fenster des Amarilla-Klubs und trank Punsch. Esprit fort – unser Barrios. Ich erwartete jeden Augenblick, daß Ihr Onkel über die ganze Plaza weg der schwarzen Augenbinde dort im Fenster einen Bannfluch zuschleudern würde. Aber durchaus nicht. Schließlich marschierten die Truppen ab. Später kam Barrios mit einigen seiner Offiziere herunter und stand, den Uniformrock ganz aufgeknöpft, plaudernd am Rand des Platzes. Plötzlich tauchte Ihr Onkel in der Tür der Kathedrale auf, nicht mehr glitzernd, sondern ganz schwarz, mit dem drohenden Ausdruck, der ihm eigen ist – Sie wissen ja, wie ein rächender Geist. Er tat einen langen Blick, ging gerade auf die Gruppe der Militärs zu und führte den General am Ellbogen fort. Er hat ihn eine Viertelstunde lang im Schatten einer Mauer in Bewegung gehalten, dabei keinen Augenblick den Ellbogen losgelassen, die ganze Zeit aufgeregt gesprochen und dazu mit einem langen schwarzen Arm gefuchtelt. Es war ein merkwürdiges Bild. Die Offiziere schienen verblüfft. Bemerkenswerter Mann, Ihr Onkel Missionar. Er haßt einen Ungläubigen weit weniger als einen Ketzer und zieht einen Heiden weitaus einem Ungläubigen vor. Er läßt sich liebenswürdig herab, mich gelegentlich einen Heiden zu nennen, müssen Sie wissen.«

Antonia hörte zu und öffnete und schloß den Fächer mit leichter Bewegung der Hände, die über das Geländer hingen; Decoud sprach etwas hastig, als fürchtete er, daß sie ihn bei der ersten Pause verlassen würde. Ihre Abgeschiedenheit, das köstliche Gefühl von Nähe, die leichte Berührung ihrer Arme schufen in ihm eine leise Ergriffenheit; dann und wann schlich sich ein zärtlicher Unterton in sein spöttisches Murmeln.

»Jedes kleinste Zeichen von Wohlwollen von Seiten eines Ihrer Verwandten ist mir willkommen, Antonia. Und vielleicht versteht er mich im Grunde! Aber auch ich kenne ihn, unsren Padre Corbelàn. Für ihn besteht der Begriff politischer Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Lauterkeit in der Herausgabe der beschlagnahmten Kirchengüter. Nichts sonst hätte diesen eifrigen Bekehrer wilder Indianer aus dem Urwald locken können, um hier für die Sache der Ribieristen zu wirken. Nichts sonst als diese kühne Hoffnung! Er selbst würde für eine solche Sache ein Pronunziamento machen, gegen jede beliebige Regierung, wenn er nur Parteigänger finden könnte. Was denkt Don Carlos Gould darüber? Aber natürlich, bei seiner englischen Undurchdringlichkeit kann ja niemand sagen, was er denkt. Wahrscheinlich denkt er an nichts als an seine Mine, an sein ›Imperium in Imperio‹, und Frau Gould denkt an ihre Schulen, ihre Spitäler, an die Mütter mit den kleinen Kindern, an jeden kranken alten Mann in den drei Dörfern. Wollten Sie den Kopf wenden, dann könnten Sie sehen, wie sie dem finstern Doktor in dem gewürfelten Hemd – wie heißt er doch? Monygham – einen Bericht entlockt oder Don Pépé ins Gebet nimmt oder vielleicht Padre Roman zuhört. Die alle sind heute hier – alle ihre Staatsminister. Nun, sie ist eine vernünftige Frau, und vielleicht ist Don Carlos ein vernünftiger Mann. Es gehört zur gesunden englischen Vernunft, nicht zuviel zu denken, nur darauf zu achten, was im Augenblick das Zweckmäßigste sein könnte. Diese Menschen sind nicht wie wir. Wir haben keine politische Vernunft; wir haben politische Leidenschaft – manchmal. Was ist eine Überzeugung? Eine nüchterne oder gefühlsmäßige, in jedem Falle sehr persönliche Erkenntnis unseres eigenen Vorteils. Niemand ist umsonst ein Patriot. Das Wort kommt uns gut zustatten. Aber ich sehe scharf und werde es nicht Ihnen gegenüber gebrauchen, Antonia. Ich mache mir keine patriotischen Illusionen. Nur die eine, höchste, des Liebenden.«

Er brach ab und murmelte dann kaum hörbar: »Doch auch die kann einen sehr weit führen.«

Hinter ihnen konnte man die politische Flutwelle, die regelmäßig einmal in vierundzwanzig Stunden im Salon der Goulds einsetzte, in vielfältigem Stimmengesumm ansteigen hören. Männer waren einzeln oder zu zweit und zu dritt hereingekommen: die höheren Beamten der Provinz, Bahningenieure, sonnverbrannt, in lichten Anzügen; zwischen den munteren jungen Gesichtern bewegte sich nachsichtig lächelnd der bereifte Kopf des Chefingenieurs. Scarfe, der Liebhaber von Fandangos, hatte sich schon fortgeschlichen, um, ganz gleich wo, am Rande der Stadt eine Tanzerei ausfindig zu machen. Don Juste Lopez war, nachdem er seine Töchter nach Hause gebracht hatte, feierlich eingetreten, im schwarzen, leicht zerknitterten Gehrock, den er bis unter den breiten braunen Vollbart hinauf hochgeknöpft trug. Die wenigen anwesenden Mitglieder der Provinzialversammlung scharten sich um ihren Präsidenten, um die Kriegsnachrichten und den letzten Aufruf des Rebellen Montero, dieses elenden Montero, zu erörtern, der im Namen einer »in gerechtem Zorn entflammten Demokratie« alle Provinzialversammlungen der Republik aufgefordert hatte, ihre Sitzungen einzustellen, bis sein Schwert Ruhe geschaffen haben und der Wille des Volkes würde erforscht werden können. Es lief tatsächlich auf eine Aufforderung zur Auflösung hinaus: eine unerhörte Kühnheit dieses bösen Narren.

In der Schar der Abgeordneten hinter José Avellanos herrschte große Erregung. Don José hob die Stimme und rief ihnen über die hohe Lehne seines Stuhls weg zu: »Sulaco hat darauf geantwortet, indem es ihm heute eine Armee in die Flanke schickte. Wenn alle die anderen Provinzen nur halb soviel Patriotismus zeigen wie wir Leute vom Westen . . .«

Lauter Beifall übertönte die helle Stimme des Mannes, der das Leben und die Seele der Partei war. Jawohl! Jawohl! Wahr! Sehr wahr! Sulaco war in erster Reihe, wie immer. Es war ein Ausbruch des Stolzes und der Hoffnungsfreude, von dem Ereignis des Tages diesen Caballeros aus dem Campo eingegeben, die an ihre Herden dachten, an ihre Ländereien, an die Sicherheit ihrer Familien. Alles stand auf dem Spiel . . . Nein! Es war unmöglich, daß Montero die Oberhand behalten sollte! Dieser Verbrecher, dieser unverschämte Indio! Der Lärm hielt eine Zeit an, und jedermann in dem Raum sah nach der Gruppe hin, wo Don Juste seine unparteiische Amtsmiene aufgesetzt hatte, als führte er den Vorsitz bei einer Tagung der Nationalversammlung. Decoud hatte sich umgedreht, den Rücken an die Brüstung gelehnt, und rief nun mit aller Lungenkraft in den Raum: »Gran' bestia!«

Dieser unerwartete Schrei schuf plötzlich Stille. Alle Augen kehrten sich in beifälliger Erwartung dem Fenster zu; aber Decoud hatte schon wieder dem Zimmer den Rücken gedreht und lehnte sich in die schweigende Straße hinaus.

»Das ist die Quintessenz meines Journalismus; der letzte Beweisgrund«, sagte er zu Antonia. »Ich habe dies Kennwort erfunden, den Schlüssel zu einer großen Frage. Aber ich bin kein Patriot. Ich bin es nicht mehr, als der Capataz der Sulaco-Cargadores, dieser Genueser, der so Großes für diesen Hafen getan hat – der Pförtner, der dem Rüstzeug unseres Fortschritts die Türe offen hält. Sie haben ja Kapitän Mitchell wieder und immer wieder versichern hören, daß er, ehe er diesen Mann in Diensten hatte, niemals sagen konnte, wie lange das Löschen einer Schiffsladung dauern würde. Das ist schlimm für den Fortschritt. Sie haben ihn nun nach getaner Arbeit auf seinem berühmten Pferd vorbeireiten sehen: er wird wohl den Mädchen in irgendeinem Tanzlokal mit gestampftem Lehmboden die Köpfe verdrehen. Er ist ein glücklicher Bursche. Seine Arbeit besteht in der Ausübung persönlicher Macht; seine Muße bringt er damit hin, die Beweise außerordentlicher Verehrung entgegenzunehmen. Und es macht ihm Spaß. Kann man glücklicher sein? Gefürchtet und bewundert werden, ist . . .«

»Und ist das Ihr höchster Ehrgeiz, Don Martin?« unterbrach Antonia.

»Ich sprach von einem Mann dieses Schlages«, sagte Decoud kurz. »Die Helden der Welt sind gefürchtet und bewundert worden. Was konnte er mehr wünschen?«

Decoud hatte es schon oft erlebt, daß seine gewohnten Spötteleien an Antonias Ernst zunichte wurden. Sie reizte ihn oft, als hätte auch sie unter der unerklärlichen weiblichen Begriffsstutzigkeit gelitten, die so oft der Verständigung zwischen einem Mann und einer Durchschnittsfrau entgegensteht. Aber er überwand seinen Ärger sofort. Er war weit davon entfernt, Antonia für eine Durchschnittsfrau zu halten, welche Selbstbeurteilung ihm seine eigene Zweifelsucht auch eingeben mochte. Mit inbrünstiger Zärtlichkeit in der Stimme versicherte er ihr, daß sein einziger Ehrgeiz einem Glück gelte, wie es auf Erden wohl kaum zu verwirklichen wäre.

Sie errötete ungesehen, mit einer Glut, gegen die der Luftzug von der Sierra in der jähen Schneeschmelze seine kühlende Kraft verloren zu haben schien. Decouds Flüstern hatte wohl kaum so weit in die Ferne wirken können, wenn auch Feuer genug in seiner Stimme gewesen war, um ein Herz von Eis zu schmelzen. Antonia wandte sich unvermittelt ab, als wollte sie seine geflüsterte Zusicherung mit sich nehmen in den Raum, der in hellem Licht, von Stimmenlärm erfüllt, vor ihr lag.

Die Flut der politischen Erörterungen ging hoch innerhalb der vier Wände der großen Sala, als würde sie von einer starken Hoffnungsbrise aufgepeitscht. Don Justes fächerförmiger Bart bildete immer noch den Mittelpunkt lauter und angeregter Gespräche. In all den Stimmen klang Selbstvertrauen mit. Sogar die wenigen Europäer rings um Charles Gould – ein Däne, zwei Franzosen, ein schweigsamer, beleibter Deutscher, der lächelnd, mit niedergeschlagenen Augen dasaß; sie alle die Vertreter der materiellen Interessen, die in Sulaco unter dem mächtigen Schirm der San Tomé-Mine Fuß gefaßt hatten –, auch diese Europäer ließen durch alle Hochachtung freudige Zuversicht durchschimmern. Charles Gould, dem sie ihre Aufwartung machten, war der sichtbare Beweis für die Beständigkeit, die auf dem unsicheren Grund der Revolutionen zu erreichen war. Die Männer alle hatten die beste Hoffnung für ihre eigenen Unternehmungen. Einer der beiden Franzosen, klein, schwarz, mit Augen, die wie verloren aus einem ungeheuren buschigen Bartdickicht glitzerten, schwenkte aufgeregt die kleinen braunen Hände an zarten Gelenken. Er hatte für ein Syndikat europäischer Kapitalisten das Innere der Provinz bereist. Sein förmliches Monsieur l'Administrateur schrillte alle Augenblicke lang aus dem gleichmäßigen Gesumm der Unterhaltung hervor. Er berichtete von seinen Entdeckungen. Er war begeistert. Charles Gould sah höflich zu ihm hinunter.

Es war Frau Goulds Gewohnheit, sich während dieser notwendigen Empfänge in einem gegebenen Augenblick in einen kleinen Nebensalon zurückzuziehen, der ausschließlich ihr gehörte. Sie hatte sich erhoben und hörte nun, während sie auf Antonia wartete, mit leicht abgespannter Liebenswürdigkeit dem Chefingenieur der Eisenbahn zu, der gebückt vor ihr stand und ihr ganz langsam, ohne die kleinste Gebärde, etwas offenbar Heiteres erzählte, denn seine Augen glitzerten belustigt. Bevor Antonia in das Zimmer zurückging, um sich Frau Gould zuzugesellen, wandte sie den Kopf über die Schultern weg Decoud zu, nur einen Augenblick.

»Warum sollte einer von uns glauben, daß sein Ehrgeiz nicht zu verwirklichen wäre?« fragte sie rasch.

»Ich will an dem meinen bis zum Ende festhalten, Antonia«, antwortete er durch zusammengebissene Zähne und verbeugte sich tief aus einiger Entfernung.

Der Chefingenieur war mit seiner heiteren Geschichte noch nicht fertig. Die Begleitumstände des Eisenbahnbaus in Südamerika sagten seinem ausgesprochenen Sinn für Torheiten zu, und er zählte Beispiele von verbohrter Voreingenommenheit und gleich verbohrter Bauernschläue auf. Nun hörte ihm Frau Gould mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu, während er an ihrer Seite die Damen hinausbegleitete. Schließlich durchschritten alle drei unbemerkt die Glastüre nach der Galerie. Nur ein hochgewachsener Priester, der schweigend die lärmende Sala durchmaß, hielt an, um ihnen nachzublicken. Vater Corbelàn, den Decoud vom Balkon aus in den Torweg der Casa Gould hatte einbiegen sehen, hatte seit seinem Eintritt noch niemand angesprochen. Die lange, knappe Soutane ließ seine Gestalt noch schlanker erscheinen; er trug den mächtigen Oberkörper vorgebeugt; und der gerade schwarze Strich der zusammengewachsenen Augenbrauen, der kämpferische Schnitt des knochigen Gesichts, das weiße Mal einer Narbe auf den bläulichen, rasierten Wangen (eine Anerkennung seines apostolischen Eifers von Seiten eines nichtbekehrten Indianerstammes) erweckten den Eindruck von etwas Ungesetzlichem hinter seinem Priestertum, den Gedanken etwa an einen Kaplan von Banditen.

Er löste seine knochigen Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hielt, um Martin mit dem Finger zu drohen.

Decoud war hinter Antonia ins Zimmer getreten. Aber er ging nicht weit. Er war knapp am Vorhang stehengeblieben, mit dem Ausdruck eines nicht ganz echten Ernstes, wie ein Erwachsener, der an einem Kinderspiel teilnimmt. Er sah dem drohenden Finger ruhig entgegen.

»Ich habe gesehen, wie Sie, Hochwürden, auf der Plaza General Barrios in einer Privatpredigt bekehrten«, sagte er, ohne die kleinste Bewegung zu machen.

»Was für ein elender Unsinn!« Vater Corbelàns tiefe Stimme dröhnte durch den ganzen Raum, daß alle Köpfe auf den Schultern herumfuhren. »Der Mann ist ein Trunkenbold. Señores, der Gott Ihres Generals ist die Flasche!«

Seine verächtliche, eigenwillige Stimme schuf eine unbehagliche Stille, als hätte ein Schlag das Selbstvertrauen der Versammlung erschüttert. Doch niemand nahm Vater Corbelàns Erklärung auf.

Es war bekannt, daß Vater Corbelàn aus der Wildnis gekommen war, um die heiligen Rechte der Kirche mit der gleichen fanatischen Furchtlosigkeit zu verteidigen, mit der er blutdürstigen Wilden gepredigt hatte, die menschlichen Mitgefühls wie der andächtigen Ehrfurcht bar waren. Gerüchte von geradezu legendenhaftem Ausmaß erzählten von seinen Erfolgen als Missionar jenseits des Gesichtskreises der Christenheit. Er hatte ganze Stämme von Indianern getauft, indem er selbst mit ihnen wie ein Wilder lebte. Man erzählte sich, daß der Padre tagelang mit seinen Indianern zu reiten pflegte, halb nackt, mit einem Schild aus Ochsenhaut und wohl auch mit einem langen Speer – wer weiß? Daß er in Felle gehüllt irgendwo nächst der Schneegrenze der Kordillere herumgewandert war, auf der Suche nach Proselyten. Von diesen Taten hörte man Padre Corbelàn selbst niemals sprechen. Doch machte er kein Geheimnis aus der Ansicht, daß die Politiker von Sta. Marta hartherziger und verderbter seien als die Heiden, zu denen er Gottes Wort getragen hatte. Sein unbedenklicher Eifer für die zeitliche Wohlfahrt der Kirche schadete der Sache der Ribieristen. Es war allgemein bekannt, daß er die Ernennung zum Titularbischof der Westlichen Diözese nicht hatte annehmen wollen, solange der beraubten Kirche nicht ihr Recht geworden wäre. Der politische Jefe von Sulaco (der gleiche Würdenträger, den Kapitän Mitchell später vor dem Pöbel rettete) deutete mit harmlosem Zynismus an, daß ihre Exzellenzen, die Minister, wohl zweifellos den Padre in der schlimmsten Jahreszeit über die Berge nach Sulaco geschickt hatten, weil sie hofften, er würde in den eisigen Stürmen der hohen Paramos erfrieren. Man wußte ja, daß jedes Jahr ein paar verwegene Maultiertreiber – wetterharte Leute – auf diese Art ums Leben kamen. Aber – nun, ihre Exzellenzen hatten sich wohl nicht klargemacht, welch ein zählebiger Priester der Padre war. Inzwischen ging unter der ungebildeten Masse das Gerücht um, die Ribieristen-Reformen liefen einfach darauf hinaus, dem Volk alles Land wegzunehmen. Ein Teil davon sollte an die Fremden gegeben werden, die Bahnen bauten, und der größte Teil an die Padres gehen.

Diese Ergebnisse hatte der Eifer des Großvikars gezeitigt. Nicht einmal aus der kurzen Ansprache an die Truppen auf der Plaza (die nur die ersten Glieder verstanden haben konnten) hatte er seine fixe Idee wegzulassen vermocht, daß die beleidigte Kirche auf Wiedergutmachung von seiten des reumütigen Landes warte. Der politische Jefe war verzweifelt gewesen. Doch konnte er ja nicht gut Don Josés Schwager in die Gefängnisse des Cabildo werfen. Der Regierungspräsident, ein leutseliger und beliebter Beamter, besuchte die Casa Gould, indem er nach Sonnenuntergang aus der Intendancia ohne Begleitung herüberkam und dabei mit würdiger Höflichkeit die Grüße von Hoch und Niedrig erwiderte. An jenem Abend war er geradewegs auf Charles Gould zugegangen und hatte ihm zugezischt, daß er gerne den Großvikar aus Sulaco deportiert hätte, irgendwohin auf eine wüste Insel, auf die Isabellen zum Beispiel. »Auf die eine ohne Wasser am besten – wie, Don Carlos?« hatte er in einem Ton zwischen Spaß und Ernst hinzugefügt. Dieser unberechenbare Priester, der das Angebot, den Bischofspalast zu bewohnen, ausgeschlagen und es vorgezogen hatte, seine schäbige Hängematte inmitten der Trümmer und Spinnweben des beschlagnahmten Dominikanerklosters aufzuhängen, dieser Mensch also hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine bedingungslose Begnadigung für den Banditen Hernandez zu erwirken. Und nicht genug damit; er schien Verbindungen mit dem kühnsten Verbrecher angeknüpft zu haben, den das Land seit Jahren gekannt hatte. Die Polizei von Sulaco wußte natürlich, was im Gange war. Padre Corbelàn hatte sich dieses rücksichtslosen Italieners versichert, des Capataz de Cargadores, des einzigen Mannes, der für einen solchen Gang zu brauchen war, und hatte durch ihn eine Botschaft geschickt. Vater Corbelàn hatte in Rom studiert und konnte italienisch sprechen. Man wußte, daß der Capataz bei Nacht das alte Dominikanerkloster aufsuchte. Ein altes Weib, das den Großvikar bediente, hatte den Namen Hernandez aussprechen hören; und am letzten Samstagnachmittag hatte man den Capataz aus der Stadt hinausgaloppieren sehen. Er kehrte zwei Tage lang nicht zurück. Die Polizei hätte den Italiener abgefangen, wäre nicht die Furcht vor den Cargadores gewesen, einer aufrührerischen Sippe, die wohl imstande war, einen Aufstand anzuzetteln. Heutzutage war es nicht so einfach, Sulaco zu regieren. Zweifelhaftes Volk strömte herein, angezogen von dem Geld in den Taschen der Bahnarbeiter. Das niedrige Volk wurde von Vater Corbelàns Reden aufgerührt. Und der hohe Beamte setzte Charles Gould auseinander, daß nun, wo die Provinz von Truppen entblößt war, jeder ungesetzliche Ausbruch die Behörden sozusagen mit gebundenen Händen antreffen müßte.

Dann setzte er sich verdrießlich in den Lehnstuhl und rauchte eine dünne, lange Zigarre, nicht sehr weit von Don José, mit dem er, sich seitwärts neigend, von Zeit zu Zeit einige Worte wechselte. Er beachtete den Eintritt des Priesters nicht, und sooft hinter ihm Vater Corbelàns Stimme erklang, zuckte er ungeduldig die Schultern.

Vater Corbelàn war eine Zeitlang reglos stehengeblieben, mit dem an Rächertum gemahnenden Ausdruck in seiner Unbeweglichkeit, der sein ganzes Gebaren zu kennzeichnen schien. Der düstere Abglanz starker Überzeugungen gab der schwarzen Gestalt ein besonderes Aussehen. Doch milderte sich der Grimm etwas, als der Padre, die Augen auf Decoud gerichtet, langsam und eindringlich seinen langen schwarzen Arm erhob.

»Und Sie – Sie sind ein völliger Heide«, sagte er mit leiser, tiefer Stimme.

Er trat einen Schritt näher und spielte mit dem Zeigefinger auf des jungen Mannes Brust. Decoud blieb sehr ruhig und tastete mit dem Kopf hinter sich nach der Wand hinter dem Vorhang. Dann lächelte er mit hochgerecktem Kinn.

»Ganz recht«, gab er mit der etwas müden Nachlässigkeit eines Mannes zu, der an solche Aussprüche gewöhnt ist. »Doch sollten Sie etwa noch nicht entdeckt haben, welchen Gott ich anbete? Mit unserem Barrios war die Sache leichter.«

Der Priester unterdrückte eine Gebärde der Entmutigung. »Sie glauben weder an Stock noch Stein«, sagte er.

»Noch an die Flasche«, fügte Decoud unbewegt hinzu. »Ebensowenig wie Ihr anderer Vertrauter, Hochwürden. Der Capataz de Cargadores, meine ich. Er trinkt nicht. Die Erkenntnis meines Charakters macht Ihrem Scharfblick alle Ehre. Aber warum nennen Sie mich einen Heiden?«

»Wahr«, gab der Priester zurück. »Sie sind zehnmal schlimmer. Auch ein Wunder könnte Sie nicht bekehren.«

»Gewiß glaube ich nicht an Wunder«, sagte Decoud ruhig. Vater Corbelán zuckte zweifelnd seine hohen, breiten Schultern.

»Eine Art Franzose – gottlos – ein Materialist«, sagte er langsam, als wöge er die Worte einer sorgsamen Analyse bedächtig ab. »Und weder der Sohn des eigenen, noch der eines andern Landes«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Kaum noch menschlich in der Tat«, ergänzte Decoud leise, den Kopf gegen die Wand gelehnt, den Blick nach der Decke gerichtet.

»Ein Opfer dieser glaubenslosen Zeit«, schloß Vater Corbelàn mit tiefer, bedrückter Stimme.

»Aber vielleicht als Journalist einigermaßen zu gebrauchen.« Decoud änderte seine Stellung und sprach lebhafter. »Haben Sie, Hochwürden, es unterlassen, die letzte Nummer des ›Porvenir‹ zu lesen? Ich versichere Ihnen, sie ist genau wie die andern. In der allgemeinen Politik fährt sie fort, Montero eine Gran' bestia zu nennen und seinen Bruder, den Guerillero, als ein Gemisch aus Lakai und Spitzel zu brandmarken. Was könnte wirkungsvoller sein? Unter Lokalnachrichten wird der Provinzialregierung dringend geraten, die Bande des Räubers Hernandez vollzählig in die Nationalarmee einzureihen, dieses Hernandez, der augenscheinlich der Protegé der Kirche oder zumindest doch des Großvikars ist. Nichts könnte vernünftiger sein.«

Der Priester nickte und wandte sich auf den Absätzen seiner Schnallenschuhe um, deren Spitzen geradlinig abgeschnitten waren. Wieder ging er auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und setzte die Füße fest auf. Bei jeder seiner raschen Wendungen flatterten die Schöße seiner Soutane leicht.

Die große Sala hatte sich langsam geleert. Als sich der politische Jefe zum Gehen erhob, standen die meisten der noch Anwesenden zum Zeichen der Hochachtung auf, und Don José Avellanos hielt seinen Schaukelstuhl an. Aber der gutmütige Erste Beamte machte eine abwehrende Handbewegung, winkte Charles Gould zu und verließ ohne Aufsehen das Zimmer.

In der verhältnismäßigen Ruhe des Raumes schien das schrille »Monsieur l'Administrateur« des schmächtigen, haarigen Franzosen zu übernatürlicher Stärke anzuschwellen. Der Forscher im Dienste des Kapitalistensyndikats war immer noch in Begeisterung. »Kupfer im Werte von zehn Millionen Dollar liegt frei zutage, Monsieur l'Administrateur. Zehn Millionen, frei zutage, und eine Bahn kommt – eine Bahn! Man wird meinem Bericht einfach nicht glauben. C'est trop beau.« Er verfiel in eine Art von Schreikrampf, inmitten weise nickender Häupter, vor Charles Goulds unbeirrbarer Ruhe.

Und nur der Priester fuhr in seinem Wandern fort und schwenkte bei jeder Wendung die Schöße seiner Soutane. Decoud murmelte ihm spöttisch zu: »Diese Herren sprechen über ihre Götter.«

Vater Corbelàn blieb kurz stehen, sah den Journalisten von Sulaco einen Augenblick fest an, zuckte leicht die Schultern und nahm seinen trampelnden Wanderschritt wieder auf.

Und nun begannen sich einer nach dem andern die Europäer aus der Gruppe um Charles Gould zu lösen, bis der Administrator der großen Silbermine frei in seiner ganzen schlanken Länge zu sehen war, vom Kopf bis zu Fuß, als hätte ihn die zurückebbende Flut seiner Gäste auf dem großen Viereck des Teppichs, das sich wie ein Blumenbeet unter seinen braunen Stiefeln breitete, als Strandgut zurückgelassen. Vater Corbelàn näherte sich Don José Avellanos' Schaukelstuhl.

»Komm, Bruder«, sagte er kurz, aber nicht unfreundlich und mit dem etwas ungeduldigen Drängen, wie man es gegen Ende einer völlig nutzlosen Versammlung empfinden mag. »A la Casa! A la Casa! Dies ist alles Geschwätz gewesen. Laß uns nun gehen und nachdenken und den Himmel um Rat anflehen.«

Er hob die dunklen Augen zum Himmel. An der Seite des schmächtigen Diplomaten, des Lebens und der Seele der Partei, erschien er riesenhaft, mit fanatischem Glanz im Blick. Aber die Stimme der Partei, oder vielmehr ihr Sprachrohr, der »junge Decoud« aus Paris, der um Antonias Augen willen Journalist geworden war, er wußte gut, daß an dem andern nichts Riesenhaftes, daß er nur ein eifriger Priester war, von einer einzigen Idee beherrscht, gefürchtet von den Frauen und gehaßt von den Männern im Volke. Martin Decoud, der Dilettant des Lebens, bildete sich ein, ein künstlerisches Vergnügen in der Beobachtung der Verranntheiten zu finden, zu denen eine ehrliche, nahezu heilige Überzeugung einen Mann verführen kann. »Es ist wie ein Irrsinn. Es muß ein Irrsinn sein – weil es auf Selbstzerstörung hinausläuft«, hatte sich Decoud oft gesagt. Ihm schien es, als verkehrte sich jede Überzeugung, sobald sie in Wirksamkeit trat, in jene Form von Wahnsinn, mit der die Götter die Menschen schlagen, die sie zu vernichten wünschen. In der Beobachtung dieses Sonderfalles aber fand er den bitteren Genuß eines Kenners, der zu wählen versteht. Diese beiden Männer kamen gut miteinander aus, als hätte jeder einzelne gefühlt, daß eine beherrschende Überzeugung so gut wie völlige Zweifelsucht einen Mann weit in politische Winkelzüge hineintreiben mag.

Don José gehorchte dem Druck der großen, haarigen Hand. Decoud folgte den Schwägern, und in der großen, leeren Sala, blau von Tabakrauch, blieb nur ein einziger Besucher, ein Mann mit schweren Augen, runden Wangen und einem hängenden Schnurrbart, ein Häutehändler aus Esmeralda, der mit einigen Peons über das Gebirge nach Sulaco geritten war. Er war noch ganz erfüllt von seiner Reise, die er hauptsächlich zu dem Zweck unternommen hatte, um von dem Señor Administrador der San Tomé-Mine einen gewissen Beistand für seinen Häuteexport zu erbitten. Er hoffte, das Geschäft nun, da das Land friedlicheren Zeiten entgegengehe, stark zu vergrößern. Es gehe friedlicheren Zeiten entgegen, wiederholte er mehrmals und entwürdigte dabei durch merkwürdig wehleidige Aussprache das volltönende Spanisch, das er schnatternd wie eine häßliche Mundart sprach. Ein ehrlicher Mann konnte nun daran denken, im Lande sein kleines Geschäft zu betreiben, und sogar daran, es in Sicherheit zu vergrößern. War es nicht so? Er schien Charles Gould um ein Wort, vielleicht nur um ein Knurren der Bestätigung anzuflehen, sogar nur um ein einfaches Nicken.

Er konnte nichts von alledem erreichen. Seine Unruhe wuchs, und während der Pausen schoß er hastige Blicke in die Runde; endlich verlor er sich, um nur nicht abbrechen zu müssen, in gefühlvolle Anspielungen auf die Gefahren seiner Reise. Der verwegene Hernandez hatte seine gewohnten Schlupfwinkel verlassen, das Campo von Sulaco durchkreuzt und lauerte nun, wie man wußte, in den Schluchten des Küstengebirges. Tags zuvor hatten der Häutehändler und seine Diener, wenige Stunden vor Sulaco, drei verdächtige Reiter auf der Straße halten sehen, deren Pferde die Köpfe zusammensteckten. Zwei davon ritten sofort weg und verschwanden zur Linken in einer kleinen Quebrada. »Wir machten halt«, fuhr der Mann aus Esmeralda fort, »und ich versuchte, mich hinter einem kleinen Gebüsch zu verstecken. Aber keiner meiner Mozos wollte sich vorwagen, um herauszubringen, was los war, und der dritte Reiter schien unser Herankommen zu erwarten. Es hatte keinen Sinn. Wir waren gesehen worden. So ritten wir denn zitternd näher. Er ließ uns vorüber – ein Mensch auf einem grauen Pferd, den Hut in die Augen gedrückt – ohne ein Wort des Grußes; doch bald hörten wir ihn hinter uns dreingaloppieren. Wir machten kehrt, aber das schien ihn nicht einzuschüchtern. Er ritt hart an, berührte mit seiner Stiefelspitze meinen Fuß und verlangte eine Zigarre, mit einem Lachen, das mir das Blut erstarren machte. Er schien unbewaffnet, als er aber mit der Hand nach den Streichhölzern zurückgriff, da sah ich, daß er einen ungeheuren Revolver am Gürtel hängen hatte. Ich schauderte. Er trug einen wahrhaft wilden Backenbart, Don Carlos, und da er keine Anstalten machte, weiterzureiten, so wagten wir uns nicht vom Fleck zu rühren. Schließlich blies er den Rauch meiner Zigarre durch die Nase in die Luft und sagte: ›Señor, es wäre vielleicht besser für Sie, wenn ich hinter Ihrem Trupp herritte. Sie sind nun nicht mehr sehr weit von Sulaco. Gehen Sie mit Gott.‹ Was wollen Sie? Wir ritten weiter. Es gab keinen Widerspruch. Er konnte ja Hernandez in eigener Person sein; obwohl mein Diener, der öfters zu See in Sulaco war, mir versicherte, daß er ihn ganz genau als den Capataz de Cargadores der Dampfergesellschaft erkannt habe. Später, am gleichen Abend, sah ich eben diesen Mann an der Ecke der Plaza mit einem Mädchen sprechen, einer Morenita, die neben seinem Steigbügel stand und die Hände auf die Mähne des grauen Pferdes gelegt hatte.«

»Ich versichere Ihnen, Señor Hirsch«, murmelte Charles Gould, »daß Sie bei dieser Gelegenheit keinerlei Gefahr liefen.«

»Das mag sein, Señor, obwohl ich jetzt noch zittere. Ein ganz wilder Mensch – dem Aussehen nach. Und was sollte es bedeuten? Ein Angestellter der Dampfergesellschaft spricht mit Salteadores – kein Zweifel, Señor, die anderen Reiter waren Salteadores –, an einem einsamen Ort, und benimmt sich selbst wie ein Räuber! Eine Zigarre ist nichts. Aber was hätte ihn hindern sollen, meine Börse zu verlangen?«

»Nein, nein, Señor Hirsch«, murmelte Charles Gould und wandte den Blick etwas zerstreut von dem runden Gesicht, das sich ihm mit seiner Hakennase in fast wildem Flehen zukehrte. »Wenn es der Capataz de Cargadores war, den Sie getroffen haben – und darüber besteht ja kein Zweifel, oder? –, so waren Sie völlig sicher.«

»Danke, Sie sind sehr gütig. Ein ganz wild aussehender Mensch, Don Carlos. Er verlangte von mir in der vertraulichsten Weise eine Zigarre. Was wäre geschehen, wenn ich keine gehabt hätte? Ich zittere noch. Was hatte er an einem einsamen Ort mit Räubern zu reden?«

Aber Charles Gould, unverkennbar zerstreut jetzt, gab kein Zeichen, keinen Laut. In der Undurchdringlichkeit dieser Verkörperung der Gould-Konzession gab es oberflächliche Abstufungen. Einfache Wortarmut braucht nichts weiter zu sein als eine üble Eigenschaft. Der König von Sulaco aber hatte Worte genug, um seinem Schweigen geheimnisvollen Nachdruck zu verleihen. Sein Schweigen, hinter dem die Gabe der Rede stand, hatte so abgestufte Bedeutungen wie ausgesprochene Worte, um Zustimmung, Zweifel, Verneinung oder auch nur eine einfache Bemerkung auszudrücken. Manchmal schien es eindringlich zu sagen: »Überdenken Sie es!«, ein andermal: »Sprechen Sie weiter!« Ein einfaches leises »Ich verstehe«, von einem zustimmenden Nicken begleitet, nach einer halben Stunde geduldigen Zuhörens, hatte die Geltung eines mündlichen Vertrags, dem die Leute unbedingt zu vertrauen gelernt hatten, da hinter alldem die große San Tomé-Mine stand, der Kopf und die Front der materiellen Interessen; so stark, daß sie auf niemandes guten Willen im ganzen Bereich der Westlichen Provinz angewiesen war, das heißt, auf keinen guten Willen, den sie nicht hätte zehnfach überzahlen können. Der kleine Mann aus Esmeralda aber, ängstlich um den Häuteexport besorgt, las einen Mißerfolg aus Charles Goulds Schweigen. Ganz offenbar war dies nicht der Augenblick, in dem ein bescheidener Mann sein Geschäft vergrößern konnte. Er umfaßte in einem raschen stummen Fluch das ganze Land mit all seinen Bewohnern, Ribieristen und Monteristen zugleich; und aus dem Grunde seines stummen Ärgers wollten Tränen aufsteigen bei dem Gedanken an die zahllosen Ochsenhäute, die in den Weiten des Campos verdarben; des Campos, aus dem einzelne Palmen ragten, wie Schiffe auf hoher See inmitten des Horizonts, und Gruppen mächtiger Bäume, reglos wie feste Eilande aus Blättern, sich über das wogende Grasmeer erhoben. Dort verfaulten Häute, die niemand etwas nützten – verfaulten dort, wo Leute sie hingeworfen hatten, die dem dringenden Ruf politischer Revolutionen hatten folgen müssen. Der kühle Geschäftsverstand des Señors Hirsch wehrte sich gegen soviel Torheit, während er sich mit Achtung, wenn auch enttäuscht, von der Macht und Majestät der San Tomé-Mine in der Person Charles Goulds verabschiedete. Er konnte ein klägliches Murmeln nicht unterdrücken, das sich geradewegs aus einem wehen Herzen loszuringen schien.

»Es ist eine große, große Torheit, Don Carlos, all dies. Der Häutepreis in Hamburg ist gestiegen, gestiegen. Natürlich wird die Ribieristen-Regierung in alldem Ordnung schaffen – wenn sie einmal befestigt ist. Inzwischen . . .«

Er seufzte.

»Jawohl, inzwischen«, wiederholte Charles Gould undurchdringlich.

Der andere zuckte die Achseln. Aber er war noch nicht bereit, zu gehen. Es gab da noch eine kleine Angelegenheit, die er gerne erwähnt hätte, wenn es ihm gestattet wäre. Er hatte, wie sich zeigte, ein paar gute Freunde in Hamburg (er murmelte den Namen der Firma), die gerne einige Abschlüsse machen wollten; in Dynamit, erklärte er. Ein Liefervertrag auf Dynamit mit der San Tomé-Mine und dann, später vielleicht, mit andren Minen, die ja sicher . . . Der kleine Mann aus Esmeralda wollte sich darüber verbreiten, doch Charles Gould unterbrach ihn. Dem Señor Administrador schien endlich die Geduld auszugehen.

»Señor Hirsch«, sagte er, »ich habe Dynamit genug im Gebirge oben aufgestapelt, um einen ganzen Berg ins Tal zu stürzen« – er hob die Stimme ein wenig – »um halb Sulaco in die Luft fliegen zu lassen, wenn ich wollte.«

Charles Gould lächelte zu den runden, bestürzten Augen des Häutehändlers hinunter, der hastig murmelte: »Ganz recht, ganz recht.« Und nun ging er wirklich. Es war unmöglich, mit diesem Administrator, der so reichlich versehen und so entmutigend war, Geschäfte in Sprengstoffen zu machen. Señor Hirsch hatte für nichts und wieder nichts Todesängste im Sattel ausgestanden und sich den Grausamkeiten des Hernandez ausgesetzt. Weder Häute noch Dynamit –, und sogar noch die Schultern des unternehmenden Geschäftsmannes drückten Enttäuschung aus. An der Türe verbeugte er sich tief vor dem Chefingenieur. Am Fuß der Treppe aber, im Innenhof, blieb er stehen und legte in verwundertem Sinnen seine Polsterhand an die Lippen.

»Warum hält er soviel Dynamit auf Lager?« murmelte er. »Und warum spricht er so zu mir?«

Der Chefingenieur sah durch die Türe der leeren Sala, aus der die politische Flut bis auf den letzten unbedeutenden Tropfen abgelaufen war, und nickte vertraulich dem Hausherrn zu, der wie eine Bake zwischen den Sandbänken der Inneneinrichtung ragte.

»Gute Nacht, ich gehe. Habe mein Rad unten. Die Eisenbahn wird ja wissen, wohin sie sich um Dynamit wenden muß, wenn es uns einmal knapp wird. Wir sind nun mit den Einschnitten und Durchhieben für eine Weile fertig und werden nächstens mit den Sprengungen beginnen.«

»Kommen Sie nicht zu mir«, sagte Charles Gould mit ungetrübter Gemütsruhe. »Ich werde für niemand eine Unze übrig haben. Nicht eine Unze, nicht für meinen eigenen Bruder, wenn ich einen Bruder hätte und wenn er der Chefingenieur der aussichtsreichsten Eisenbahn der Welt wäre.«

»Was ist das?« fragte der Chefingenieur gleichmütig. »Unfreundlichkeit?«

»Nein«, sagte Charles Gould ungerührt. »Politik.«

»Radikal, sollte ich meinen«, bemerkte der Chefingenieur von der Türe her.

»Ist das das rechte Wort?« meinte Charles Gould von der Mitte des Raumes aus.

»Ich meine, es geht bis auf die Wurzeln, verstehen Sie mich?« erläuterte der Ingenieur, anscheinend belustigt.

»Nun ja«, sagte Charles Gould langsam, »nun ja, die Gould-Konzession hat in diesem Lande so tief Wurzeln geschlagen, in dieser Provinz, in dieser Bergschlucht dort, daß nichts als Dynamit sie soll vertreiben dürfen. Das ist meine Wahl. Es ist mein letzter Trumpf.«

Der Chefingenieur pfiff leise. »Ein schönes Spiel«, sagte er etwas behutsam. »Und haben Sie Holroyd von dieser außerordentlichen Trumpfkarte gesagt, die Sie da in Händen halten?«

»Eine Karte ist es nur, wenn ich sie ausspiele; wenn sie am Ende des Spieles fällt. Bis dahin mögen Sie es eine . . .«

»Waffe?« riet der Eisenbahner.

»Nein, Sie können es ein Beweismittel nennen«, verbesserte Charles Gould freundlich. »Und so habe ich es auch Herrn Holroyd dargestellt.«

»Und was sagte er dazu?« fragte der Ingenieur mit unverhohlener Spannung.

»Er«, sagte Charles Gould nach einer kleinen Pause, »er sagte etwas der Art, wie: man sollte bis zum letzten Atemzug durchhalten und auf Gott vertrauen. Ich kann mir vorstellen, daß er ziemlich erschrocken sein muß. Doch andrerseits«, fuhr der Administrator der San Tomé-Mine fort, »andrerseits ist er ja sehr weit weg, verstehen Sie, und, wie man in diesem Land sagt, Gott ist sehr hoch über uns.«

Das beifällige Lachen des Ingenieurs verklang im Stiegenhaus; die Madonna mit dem Kind auf ihrem Arm schien aus ihrer kleinen Nische dem breiten Mannesrücken nachzusehen, den das Lachen schüttelte.

 


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