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XX.
Schlussfolgerungen, die Wichtigkeit der Orthodoxie betreffend

Ob der menschliche Geist fortschreiten kann oder nicht, ist eine zu wenig erörterte Frage, denn nichts ist gefährlicher, als unsere soziale Philosophie auf eine Theorie aufzubauen, die bestreitbar ist, jedoch nicht bestritten wird. Aber wenn wir dem Argument zuliebe annehmen, dass es in der Vergangenheit eine Entwicklung gegeben hat, oder dass die Zukunft erst das Wachstum und die Vervollkommnung der menschlichen Intelligenz bringen soll, so bleibt uns über die moderne Auffassung dieses Fortschreitens ein grosses Bedenken. Der Fehler dieser modernen Auffassung ist, dass sie stets mit einem Loslösen aller Bande, einer Verschiebung der Schranken, einem Verwerfen des Dogmas zu tun hat. Aber wenn von einem Wachstum die Rede ist, so kann damit nur ein Wachstum in immer bestimmtere Überzeugungen und Dogmen sein. Der menschliche Verstand ist eine Maschine, die es auf Schlussfolgerungen abgesehen hat; wenn sie zu keinen Schlussfolgerungen gelangen kann, so wird sie rostig. Wenn man uns von jemandem sagt, dass er zu gescheit ist, um gläubig zu sein, so ist dies der buchstäblich sie Widerspruch. Es ist gerade, als ob man sagen würde, dass ein Nagel zu gut sei, um einen Teppich anzunageln; oder dass ein Riegel zu stark sei, um eine Türe zu verriegeln. Der Mensch kann schwerlich, wie Garlyle es meint, als ein Tier bezeichnet werden, das Werkzeuge macht; Ameisen und Biber und viel andere Tiere machen Werkzeuge, insofern sie einen Apparat herstellen. Man kann den Menschen als ein Tier definieren, das Dogmen aufstellt. Wenn er Lehre auf Lehre, Schlussfolgerung auf Schlussfolgerung häuft, um ein ungeheueres Philosophie- und Religionsschema aufzustellen, so ist er im wahren und einzigen Sinn des Wortes Mensch. Wenn er skeptisch Lehre auf Lehre verwirft, an kein System sich binden will, über Definitionen hinaus ist, an kein Ende glaubt, sich zum Gott über alles erhebt und die Rolle eines Betrachters spielt, dann sinkt er zur Unbewusstheit der unbewussten Tiere und Pflanzen herab. Bäume haben keine Dogmen. Rüben sind ungewöhnlich tolerant und weitdenkend.

Wenn es also einen geistigen Fortschritt geben soll, so kann er nur im Ausbau einer bestimmten Lebensphilosophie geschehen. Und diese Lebensphilosophie muss richtig und die anderen müssen falsch sein. Es ist keineswegs ein skeptischer Fortschritt, der uns bei Rudyard Kipling auffällt; und es ist absolut nichts Gemeinplätziges an Bernhard Shaw. Das Heidentum Lowes Dickinsons ist feierlicher als das Christentum zu irgendeiner Zeit. Sogar der Opportunismus von Wells ist dogmatischer als irgendein anderer Idealismus. Jemand soll sich einmal bei Matthew Arnold beklagt haben, dass dieser ebenso dogmatisch wie Garlyle werde. »Das mag wohl sein,« erwiderte er, »allein Sie vergessen eines: ich bin dogmatisch und habe recht, Garlyle aber ist dogmatisch und hat unrecht.« Der ausserordentliche Humor dieser Bemerkung lässt uns den tiefen Ernst und den klaren Menschenverstand Arnolds nicht übersehen; es sollte keiner die Feder in die Hand oder sogar das Wort in den Mund nehmen, wenn er nicht fest überzeugt ist, dass er recht und der andere unrecht hat. Und so behaupte ich, dass ich dogmatisch und auf rechtem Wege bin, während Shaw dogmatisch und auf falschem Wege ist. Aber was ich hier besonders betonen will, ist, dass sich der grösste Teil der oben besprochenen Schriftsteller mutig und offen als Dogmatiker, als Gründer eines Systems bekennt. Was mich an Shaw besonders interessiert, ist vielleicht, dass er unrecht hat. Aber es ist ebenso richtig, dass, was Shaw an Shaw selbst am meisten interessiert, der Umstand bleibt, dass er glaubt, recht zu haben. Shaw mag diesbezüglich allein stehen; aber das ist ihm gleichgültig. Er steht für die ungeheuere universale Kirche, deren einziges Mitglied er ist.

Die zwei genialen Typen, die ich hier nannte, sind ungemein symbolisch, und wäre es nur, weil sie bewiesen, dass die grimmigsten Dogmatiker die besten Künstler abgeben können. In der Fin de siècle-Atmosphäre behaupteten Alle, die Literatur müsse frei sein von allen Zwecken und moralischen Voraussetzungen. Die Kunst sollte nur ausgezeichnete Arbeit liefern und die Theaterstücke und Geschichten sollten alle geistvoll und glänzend sein. Und wenn sie ihren Wunsch erfüllt sahen, so waren es ein paar Moralisten, die ihm gerecht wurden. Die besten Geschichten verfasste ein Mann, der den Imperialismus predigte; die besten Stücke ein Mann, der den Sozialismus lehrte. Die Kunst aller anderen Künstler schien schal und langweilig neben dieser Kunst, die nur das Nebenprodukt einer Propaganda war.

Und der Grund ist sehr einfach. Ein Mann, der klug genug ist, ein grosser Künstler zu werden, hat auch den Wunsch, ein Philosoph zu sein. Ein grosser Künstler will über seine Kunst hinaus. Ein kleiner Künstler begnügt sich mit seiner Kunst. Ein grosser ist mit nichts zufrieden und trachtet nach Allem. Wenn nun wirkliche Kräfte (seien sie gut oder schlecht) wie Kipling und Shaw unsere Arena betreten, so bringen sie uns nicht nur ergreifende fesselnde Kunst, sondern auch ergreifende und fesselnde Dogmen. Und es liegt ihnen fast mehr an den Dogmen als an der Kunst, und sie verlangen das gleiche von ihren Lesern. Shaw ist ein guter Dramatiker, aber sein Wunsch ist vor allem, ein guter Politiker zu sein; Rudyard Kipling ist durch natürliches Genie und göttliche Laune ein unkonventioneller Dichter, aber er will vor Allem ein konventioneller Dichter sein. Er möchte der Dichter seines Volkes, Bein von dessen Bein, Fleisch von dessen Fleische sein, dessen Herkunft verstehen, dessen Schicksal besingen. Er möchte Poeta laureatus sein, gewiss ein vernünftiger, ehrenhafter, von gesundem Volkssinn beseelter Wunsch. Die Götter haben ihm Originalität in die Wiege gelegt, d. h. Auffassung, die ihn von der der Masse unterscheidet, und sein sehnlichster Wunsch ist, mit dieser Masse zu übereinstimmen. Noch auffallender als bei den obengenannten Dichtern liegt der Fall bei Wells. Was er uns zu Anfang bot, war kindlicher Wahnwitz reiner Kunst. Er schuf einen neuen Himmel und eine neue Erde, mit dem unverantwortlichen Instinkt, mit welchem man sich eine neue Krawatte oder eine Blume fürs Knopfloch kauft. Er sprach von den Sternen und dem Sternsystem als Kleinigkeiten, um uns seine Eintags-Anekdoten glaubwürdig zu machen; er tötete das Universum für einen Spass. Seitdem wurde er ernst und ernster und wie die Menschen, die ernster werden, wurde er immer spiessiger. Er behandelte die Götterdämmerung scherzend, aber ernsthaft einen Londoner Omnibus. Er war unbekümmert in »The Time Machine«, handelte es sich doch nur um das Schicksal aller Dinge, aber sorgfältig, ja furchtsam wird er in »The Mankind in the Making«, das von morgen und übermorgen handelt. Er fing zuerst mit dem Ende der Welt an, und das war leicht. Und fängt jetzt mit dem Anbeginn der Welt an und das ist bedeutend schwerer. Aber das Hauptresultat ist das gleiche wie in allen andern Fällen. Die wahren Künstler, die kühnen, realistischen, den Kompromiss verabscheuenden Künstler sind Jene, die mit Absicht und Zweck schrieben. Gesetzt, ein kalter zynischer Kunstkritiker, durchdrungen von der Überzeugung, dass die Künstler nur dann gross sind, wenn sie aus rein künstlerischen Motiven arbeiten, gesetzt, ein humaner Ästhet wie Max Beerbohm, oder ein grausamer Ästhet wie W. E. Henley hätte in der ganzen Romanliteratur des Jahres 1895 die drei besten, versprechendsten und originellsten Schriftsteller und Werke auszuwählen, so hätten sie sicherlich alle, was künstlerische Neuheit, künstlerische Zartheit, künstlerische Sensation anbelangt, »Soldiers Tree« von Rudyard Kipling, »Arms and the man« von Bernhard Shaw und »The Time Machine« von Wells als die besten bezeichnet. Und alle diese drei Männer sind eingefleischte Didakten. Vielleicht werden Sie sagen, dass wir zu grossen Künstlern gehen müssen, wenn wir belehrt werden wollen, aber vom psychologischen Standpunkt aus wäre das keine richtige Behauptung; richtig ist: wenn wir kühne ursprüngliche Kunst wollen, müssen wir sie bei Doktrinären suchen.

Zum Schluss dieses Buches möchte ich deshalb ernstlich bitten, Männer wie die eben genannten, nicht mit der Titulierung Künstler zu beschimpfen. Es hat niemand das Recht, das Werk Shaws zu geniessen, – man könnte ebensogut sagen, dass sich einer freut, wenn die Franzosen in sein Land dringen und es verheeren. Shaw schreibt, um uns zu überzeugen oder uns wütend zu machen. Es hat keinen Sinn, dass einer ein Kiplingianer ist, wenn er nicht zu gleicher Zeit ein Politiker und ein imperialistischer Politiker ist. Wenn wir einen Menschen verehren, so verehren wir ihn der Ideen wegen, die ihm das Höchste sind. Wenn eine Persönlichkeit uns überzeugt, so geschieht dies durch ihre Überzeugung. Wenn wir ein Gedicht Kiplings seiner leidenschaftlichen politischen Tendenz wegen hassen, so hassen wir es aus demselben Grund, aus dem er selbst es liebte; wenn wir ihn seiner Anschauungen halber hassen, so hassen wir ihn aus den besten Gründen. Wenn sich ein Mann im Hydepark aufstellt und zu predigen anfängt, so haben wir das Recht, ihn zu verhöhnen; aber es wäre unhöflich, ihm als einen Tanz-Bären Beifall zu klatschen. Und ein Künstler ist nur ein Tanzbär im Vergleich zu dem gewöhnlichsten Sterblichen, der glaubt, dass er der Menschheit etwas zu sagen hat.

Es gibt in der Tat eine Klasse moderner Schriftsteller, die hier nicht ganz übergangen werden darf, obwohl uns hier kein Raum bleibt, sie eingehender zu besprechen; und ich gestehe, es wäre nur, um sie heftig zu kritisieren. Ich rede von Jenen, die über all die Abgründe leicht hinweggleiten und im versöhnlichen Tone von der einen und der anderen Seite der Wahrheit sprechen; die da sagen, Kipling zeige uns eine Seite der Wahrheit, William Watson eine andere, ebenso Shaw und Gunningham Graham, ebenso H. G. Wells und Goventry Patmore. Ich will nur sagen, dass dies Ausflüchte sind, die nicht einmal in geschickten Worten vorgebracht wurden. Wenn wir von der einen Seite einer Wahrheit reden, so ist es klar, dass wir zu wissen vorgeben, was denn Wahrheit ist; gerade wie wir, wenn wir von dem Hinterbein eines Hundes sprechen, zu wissen vorgeben, was ein Hund ist. Der Philosoph, der von den verschiedenen Seiten der Wahrheit spricht, fragt leider auch immer: »Was ist Wahrheit?« Oft leugnet er die Existenz der Wahrheit, oder behauptet, dass sie von der menschlichen Intelligenz nicht verstehbar sei. An was kann er dann die verschiedenen Seiten der Wahrheit erkennen? Ich möchte der Künstler nicht sein, der einem Baumeister einen architektonischen Plan mit der Bemerkung unterbreitet: »Dies hier ist die Südansicht von Sea View Cottage; Sea View Cottage natürlich existiert nicht.« Ich möchte unter solchen Umständen nicht einmal gerne zu erklären haben, dass Sea View Cottage existieren könnte, aber für den menschlichen Intellekt nicht denkbar sei. Ich möchte auch jener Pfuscher und absurde Metaphysiker nicht sein, der behauptet, überall Seiten der Wahrheit zu sehen, die nicht da ist. Natürlich gibt es in Kipling, Shaw und Wells grosse Wahrheiten. Aber es ist uns nur in dem Masse vergönnt, sie zu erkennen, in welchem wir selber eine bestimmte Anschauung von dem, was Wahrheit ist, haben. Es ist lächerlich, zu behaupten, dass wir das Gute in allen Dingen desto mehr zu erkennen imstande sind, je skeptischer wir sind. Es ist klar, dass, je bestimmter unsere Ansichten über das Gute sind, unser Urteil und unsere Erkenntnis über das Gute in allen Dingen desto sicherer sein werden.

Somit plädiere ich dafür, dass wir mit diesen Männern übereinstimmen oder ihnen widersprechen sollen. Insofern sollten wir wenigstens mit ihnen übereinstimmen, dass wir einen abstrakten Glauben haben. Ich weiss wohl, dass die moderne Welt gegen diesen abstrakten Glauben vage Einwendungen zu machen pflegt, und bevor wir weitergehen, wollen wir sie streifen. Die erste Einwendung ist allbekannt. Extreme Überzeugungen sind heutzutage leicht der Bigotterie verdächtig, aber auch nur eine kleine persönliche Erfahrung wird diese irrige Anschauung zuschanden machen. Die wirklichen bigotten Menschen haben gar keine Überzeugungen. Die Economisten der Manchesterschule, die dem Sozialismus feindlich gegenüberstehen, nehmen diesen sehr ernst. Aber der Jüngling in Bond Street, der gar nicht einmal weiss, was Sozialismus ist, geschweige dass er ihn zu befehden imstande wäre, er ist's, der überzeugt ist, dass diese sozialistischen Kerle viel Lärm um nichts machen. Wer von kalvinistischer Philosophie genügend versteht, um ihr anzuhängen, muss auch die katholische verstehen, um diese zu verwerfen. Der vage Moderne, der an nichts Bestimmtes glaubt, ist von der Überzeugung durchdrungen, dass Dante ganz im Irrtum steckte. Die ernsten Gegner der katholischen Kirche, die uns auf deren Greueltaten in der Geschichte hinweisen, müssen wissen, dass sie grosse Heilige hervorbrachte. Der hartgesottene Börseaner, der von Geschichte nichts weiss und an nichts glaubt, ist vollkommen überzeugt, dass alle Priester Schufte sind. Der Anhänger der Heilsarmee mag bigott sein, aber so bigott ist er nicht, dass er nicht mit einiger Sehnsucht nach den eleganten Leuten hinschielt, die aus der Zwölf-Uhr-Messe kommen. Diese aber sind so bigott, dass sie die Heilsarmeeprediger vollständig ignorieren. Man kann sagen, dass die Bigotterie im allgemeinen die Wut aller Jener ist, die keine Überzeugung haben. Sie ist der Hass aller, bis zum Exzess mit unbestimmten Ideen gefüllten Menschen dem Überzeugten gegenüber. Man könnte die Bigotterie die Erbitterung des Indifferenten nennen. Sie ist in der Tat etwas Schreckliches und sie ist es, die all die entsetzlichen Verfolgungen ins Leben rief. Man kann sagen, dass nie die überzeugten Gegner die Verfolger waren (ihre Zahl war zu unbedeutend), sondern dass die Indifferenten die Welt mit Feuer und Schwert bedrängten. Ihre Hand war es, die den Holzstoss zündete, ihre Hand, welche die Folter streckte. Leidenschaftliche Eiferer haben auch bestimmte Verfolgungen angeordnet, ihr Beweggrund war jedoch nicht Bigotterie, sondern Fanatismus; etwas sehr Anderes und etwas Wunderbares und grundverschieden von Bigotterie. Die Bigotterie war im grossen Ganzen die Allgewalt der Gleichgültigen, welche die Überzeugten mit Kerker und Tod verfolgten.

Es gibt jedoch Menschen, die noch tiefer in die möglichen Gefahren des Dogmas tauchen. Sie glauben, dass streng philosophische Überzeugungen, die (wie sie sich überzeugen konnten) nicht die alberne, von Grund auf frivole Bigotterie erzeugen, zu einem gewissen Starrsinn, zu jener Übertreibung und fieberhaften Unruhe führen, die wir Fanatismus nennen. Sie behaupten kurz, dass Ideen gefährlich sind. Es wird zum Beispiel in der Politik allgemein und nachdrücklich bemerkt, dass das Übermass von Ideen eines Mannes wie Balfour oder John Morley gefahrbringend sei. Aber die Wahrheit ist sehr einfach. Ideen sind in der Tat etwas Gefährliches, aber am wenigsten für den, der die Ideen hat. Er ist an sie gewöhnt, er bewegt sich unter ihnen wie ein Löwenbändiger. Ideen sind etwas Gefährliches, aber am gefährlichsten für den, der keine hat, denn die erste Idee, die sich ihm präsentiert, wird so gefährlich wie ein Glas Wein für einen Abstinenzler. Es ist ein grosser Irrtum der radikalen Idealisten meiner eigenen Partei, zu glauben, dass die Geschäfts- und Finanzleute eine Gefahr für das britische Reich seien, weil sie so geizig und materiell gesinnt seien. Wahrheit ist, dass sie eine Gefahr für das Reich sind, weil sie Sentimentalität bei der erstbesten Gelegenheit und Idealismus bei dem erstbesten Ideal, das ihnen in den Weg kommt, entfalten können. Gerade so wie ein Jüngling, der wenig Erfahrung mit Frauen hat, geneigt ist, die erste Frau, die er antrifft, für die Frau zu halten, so neigen diese praktischen Geschäftsleute dazu, das nächstbeste Ideal, welches sie finden, für das Ideal zu halten. Viele zum Beispiel wurden blinde Verehrer Cecil Rhodes, weil dieser einen Zukunftstraum hatte. Sie hätten ebensogut sagen können, dass sie ihn verehren, weil er eine Nase mitten im Gesicht hatte. Ein Mann, der nicht eine Art Traumbild der Vollendung in sich trägt, ist eine ebensogrosse Monstruosität wie ein Mann ohne Nase. Die Leute sagen von dem oder jenem mit einem gewiss verzückten Flüsterton: »Der weiss, was er will.« Sie könnten mit demselben Entzücken sich ebensogut zuflüstern: »Er schneuzt seine eigene Nase.« Die menschliche Natur kann einfach ohne irgend Hoffnung und Ziel nicht bestehen. Das alte Testament schon sagt so gesund: »wenn die Weissagung abnimmt, wird zerstreuet das Volk.« Aber gerade weil der Mensch Ideale braucht, ist derjenige, der keine besitzt, in permanenter Gefahr, fanatisch zu werden. Nichts macht jemanden empfänglicher, sich plötzlich einem sinnlosen Ideal hinzugeben, als die Pflege von Geschäftsgewohnheiten. Ein jeder von uns kennt diese Geschäftsmann-Typen, die glauben, dass die Erde flach ist, und dass der Präsident Krüger an der Spitze einer grossen militärischen Despotie stand, und dass es grasfressende Menschen gibt, und dass Bacon den Shakespeare schrieb. Religiöse und philosophische Glauben sind in der Tat so gefährlich wie Feuer und nichts kann von ihnen die Schönheit dieser Gefahr nehmen. Nur eines aber bewahrt uns vor der allzugrossen Gefahr, die ihnen innewohnt: nämlich in Philosophie und Religion ganz unterzutauchen.

Die zwei polaren Gefahren Bigotterie und Fanatismus, die grosse Ungewissheit der einen, die grosse Konzentration und Starrheit des andern wollen wir nicht, und sagen, dass die Bigotterie von dem Glauben, der Idealismus von Ideen kuriert wird. Die besten Theorien unserer Existenz zu ergründen und die beste nach unserem besten Wissen und Gewissen zu wählen, wird das sicherste Mittel sein, uns von Bigotterie und Fanatismus zu bewahren; wir werden weniger vage als die bigotten Menschen und schrecklicher als die fanatischen werden, d. h. wir werden eine bestimmte Meinung besitzen. Aber die Basis des menschlichen Denkens muss dieser Meinung zugrunde liegen, und dieses nicht als belanglos hingestellt werden, wie etwa die Religion, welche die Menschen heute so oft als belanglos verabschieden. Selbst wenn wir die Religion als etwas Unlösbares betrachten, können wir nicht sagen, dass sie nicht in Betracht kommt. Und wenn wir sogar persönlich keine bestimmten Anschauungen über die letzten Dinge besitzen, so fühlen wir, dass, wo immer in einem Menschen solche Anschauungen existieren, diese ihm wichtiger als alles andere sind. Sobald etwas aufhört, unergründlich zu sein, wird es unentbehrlich.

Bekanntlich teilt man heutzutage allgemein die Ansicht, dass es engherzig und unanständig, ja gemein sei, einen Menschen wegen seiner religiösen Überzeugungen anzugreifen und Schlüsse daraus zu ziehen in bezug auf seine Moral und seine Politik. Dass diese Ansicht selber grotesk eng ist, wird niemand bezweifeln. Ich nehme ein Beispiel aus der Gegenwart: wir wissen alle, dass es nicht selten vorkam, dass man einen Menschen für eine bigotte Vogelscheuche und einen Obskuranten hielt, weil er den Japanern Misstrauen entgegenbrachte oder deren Aufschwung beklagte, weil sie Heiden sind. Niemand aber findet etwas Altmodisches oder Fanatisches daran, wenn man einem Volk misstrauisch gegenübersteht, weil dessen Sitten und dessen politischer Mechanismus von dem unsern abweicht. Niemand wird es bigott finden, wenn einer sagt: »Ich traue ihnen nicht, weil sie Protektionisten sind«, und engherzig, wenn er sagt: »Ich beklage ihr Emporkommen, weil sie Sozialisten oder Manchesterleute oder Individualisten oder Verteidiger der allgemeinen Wehrpflicht sind«. Eine Meinungsverschiedenheit über den Parlamentarismus ist von grosser Wichtigkeit; aber eine Meinungsverschiedenheit über das Wesen der Sünde ist ohne Belang. Hochwichtig ist die Steuerfrage; die Fragen aber über Bestimmung und Zweck der menschlichen Existenz sind von ganz nebensächlicher Bedeutung. Wir haben das Recht, einem Menschen zu misstrauen, der in einem anderen Stadtbezirk wohnt, aber kein Recht, dem zu misstrauen, der in einer ganz anderen Welt lebt. Diese Art Aufklärung ist sicherlich ungefähr die denkbar unaufgeklärteste. Sie läuft etwa auf das hinaus, was ich zu Anfang des Buches sagte; dass alles wichtig sei, ausser alles. Religion kann unmöglich ausser Betracht gelassen werden, eben weil sie alles umfasst. Der zerstreuteste Mensch kann nicht sein Bündel schnüren und das Bündel vergessen. Wir machen uns einen allgemeinen Begriff über das Leben, ob wir es lieben oder nicht, einen Begriff, der alles, was wir tun, beeinflusst, ja, genauer gesagt, verursacht, ob wir nun wollen oder nicht. Wenn wir die Erde als einen Traum ansehen, so ist die Finanzfrage auch ein Traum. Wenn wir die Erde für einen schlechten Witz halten, so ist die St. Paulskirche in London auch nur ein Witz. Wenn alles schlecht ist, so müssen wir auch glauben, dass das Bier, wenn dies möglich wäre, etwas Schlechtes ist; wenn alles gut ist, so müssen wir zu dem fast phantastischen Schluss kommen, dass auch die wissenschaftliche Philanthropie gut ist. Jedermann muss sich an ein metaphysisches System halten und es festhalten. Die äusserste Möglichkeit ist, dass der Mensch es so lange und so treu festhält, dass er darüber ganz die Existenz des Systems vergessen hat.

Dies letzte ist nicht nur möglich, sondern in der Tat der Zustand, in dem sich die ganze moderne Welt befindet. Sie ist voll von Menschen, die an Dogmen so festhalten, dass sie gar nicht mehr wissen, dass es Dogmen sind. Man kann sogar sagen, dass die moderne Welt als Ganzes gewisse Dogmen so festhält, dass sie sich nicht bewusst wird, dass es Dogmen sind. Man findet es z. B. in gewissen sogenannten aufgeklärten Kreisen dogmatisch, an die Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen in einer anderen Welt zu glauben. Aber niemand findet es dogmatisch, an die Vervollkommnung der Menschen hienieden zu glauben, obwohl der Begriff Fortschritt so unbewiesen ist, wie der Begriff Unsterblichkeit und vom rationalistischen Standpunkt aus ebenso unbeweisbar ist. Der Fortschritt ist zufällig eines unserer modernen Dogmen und unter Dogma verstehen wir etwas Undogmatisches. Und wiederum erblicken wir absolut nichts »Dogmatisches« in der begeisternden, jedoch sehr überraschenden Theorie der Naturwissenschaften, dass wir Fakta um der Fakta willen sammeln, obwohl sie ganz nutzlos scheinen. Die Idee ist gross und suggestiv und mag, wenn man will, ihren Nutzen sich selber beweisen, aber dieser liegt ganz auf der abstrakten Seite, die ebenso bestreitbar ist als das Anrufen von Orakeln und Wunderakten, denen auch nachgesagt wird, dass sie sich selber beweisen. Und weil wir in einer zivilisierten Zeit leben, die nicht an Orakel und geweihte Stätten glaubt, sehen wir nur Wahn in jenen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um das Grab Christi zu suchen. Aber weil wir in einer zivilisierten Zeit leben, die dieses Dogma der Fakta der Fakta halber hochhält, ist es uns nicht gegeben, den ganzen Wahn jener zu erfassen, die ihr Leben für den Nordpol wagen. Ich spreche jetzt nicht von dem dauernden endgültigen Nutzen, der sicher aus den Kreuzzügen wie aus Polarexpeditionen erwächst. Ich bemerke bloss, dass wir nur eine äusserliche ästhetische Eigentümlichkeit und Sonderbarkeit in Männern erblicken, die an der Spitze von Heeren Europa durchziehen, um die Stätte zu erobern, wo ein Mensch starb. Und dass wir nichts Sonderbares oder Befremdendes in Männern finden, die Entbehrungen aller Arten und Todesqualen erleiden, um eine Stelle zu finden, die nur deshalb von Interesse ist, weil sie der Treffpunkt von einigen Linien sein soll, die nicht wirklich existieren.

Lasst uns denn den langen Weg und die schreckliche Forschungsreise antreten. Lasst uns wenigstens suchen und graben, bis wir unsere eigenen Anschauungen gefunden haben. Die Dogmen, an welchen wir wirklich festhalten, sind viel phantastischer und vielleicht viel schöner, als wir glauben. Ich fürchte, dass ich in manchem dieser Essays ab und zu von Rationalisten und Rationalismus und zwar in abfälligem Ton sprach. Voll der Güte, die einem am Schluss von allen Unternehmungen ergreifen soll, selbst am Ende eines Buches, bitte ich die Rationalisten um Entschuldigung dafür, dass ich sie Rationalisten genannt habe. Es gibt ja keine. Wir glauben alle an Märchen und leben in ihnen. Einige unter uns, die besonders prachtliebend sind, glauben an die Existenz des Weibes, das mit der Sonne bekleidet ist. Andere wieder, die mit einfacherem, elfenhaftem Sinn bedacht, glauben an die unerfassliche Sonne selbst. Einige glauben an das undemonstrierbare Dogma der Existenz Gottes, einige an das eben so unbeweisbare Dogma von der Existenz des Nachbarn.

Wahrheiten werden zu Dogmen, sobald sie bestritten werden. Jeder, der einen Zweifel laut werden lässt, definiert eine Religion. Und der Skeptizismus unserer Zeit zerstört wirklich nicht den Glauben, sondern ruft ihn ins Leben, gibt ihm seine Grenzen und seine klare, heraustretende Gestalt. Wir Liberale hielten den Liberalismus ehedem für ungefähr einen Gemeinplatz, jetzt, da er bestritten wurde, wird er uns zum brennenden Glaubensartikel. Wir, die wir an den Patriotismus glauben, glaubten ehedem, dass die Vaterlandsliebe etwas Vernünftiges sei und stellten keine langen Betrachtungen darüber an. Jetzt, da es heisst, dass der Patriotismus etwas Unvernünftiges ist, wissen wir, dass er das Rechte ist. Wir Christen erkannten die grosse philosophische und gesunde Klarheit, die in unserer mystischen Religion liegt, erst, als die antichristlichen Schriftsteller uns darauf hinwiesen. Die grosse geistige Zerstörung wird anhalten. Alles wird geleugnet werden. Alles wird Glaubensartikel werden. Man wird vernünftig die Steine auf der Strasse leugnen und Glaubenssache wird es sein, ihre Existenz zu behaupten. Die rationelle Thesis wird sagen, dass wir alle in einem Traum befangen sind; die mystische Gesundheit wird beweisen, dass wir alle wach sind. Holzstösse werden angezündet werden, um zu bezeugen, dass zwei mal zwei vier ist. Schwerter werden gezückt werden, um zu beweisen, dass das Laub im Sommer grün ist. Wir werden nicht nur die unglaublichen Tugenden und Gesundheiten menschlichen Lebens zu verteidigen haben, sondern etwas noch Unglaublicheres: dieses grosse unbegreifliche Universum, das uns ins Gesicht starrt. Wir werden für sichtbare Wunder zu kämpfen haben, als ob sie unsichtbar wären. Dem unglaublichen Gras und dem Firmament werden wir mit seltsamem Mut gegenüberstehen. Wir werden zu jenen gehören, die da sehen und dennoch glauben.

Ende

 


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