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XI.
Die Wissenschaft und die Wilden

Ein ständiger Nachteil, welcher aus dem Studium der Volkslehre und ähnlichen Studien erwächst, besteht in der Tatsache, dass der Mann der Wissenschaft selten ein Mann ist, der die Welt kennt. Er studiert die Natur, selten die menschliche Natur. Und sogar bei jenen, welche diese Schwierigkeit überwunden und bis zu einem gewissen Grade des Menschen Natur erforscht haben, bedeutet es meist nur den leisesten Anfang zu persönlichem Menschentum. Denn das Studium der primitiven Rassen und Religionen steht abseits aller anderen wissenschaftlichen Forschungen. Es kann einer von Astronomie etwas verstehen, nur indem er Astronom ist, von Entomologie nur, indem er Entomologe (oder vielleicht ein Insekt) ist. Aber es kann einer viel von Anthropologie erfassen, indem er einfach ein Mensch ist. Er selbst ist das Tier, das er erforscht. Daher die alte Tatsache, dass der trockene, abgesonderte Verstand, der in Astronomie und Botanik Wunder tut, vollständig versagt, wenn es sich um das Studium der Mythologie handelt. Um einem Mikroben gerecht zu werden, muss man aufhören, ein Mensch zu sein; um dem Menschen gerecht zu werden, ist das nicht vonnöten.

Derselbe Mangel an Sympathie, Intuition und jeglichem Spürsinn, welcher einen Gelehrten besonders befähigt, den Magen einer Spinne zu erforschen, wird ihn besonders stupide machen, wenn es gilt, des Menschen Herz zu ergründen. Er wird absichtlich inhuman, um die Menschheit verstehen zu lernen. Viele Gelehrte prahlen mit ihrer Ignoranz der anderen Welt. Das Übel aber ist nicht, dass sie vom Jenseits, sondern vom Diesseits keine Ahnung haben. Denn die Kunst der Anthropologie und ihrer verschlossenen Wunder lernt sich nicht aus Büchern, sondern aus dem gewöhnlichen Verkehr des Menschen mit dem Menschen.

Den Schlüssel zu dem Rätsel, warum eine gewisse Sorte von Wilden die Affen und den Mond anbeten, findet man nicht auf einer Forschungsreise und durch Aufschreiben ihrer Antworten in Notizbücher (obwohl der klügste Forscher diesen Weg einschlagen mag), sondern das Rätsel kann er in England, in London, ja, in seinem eigenen Herzen lösen. Wer einmal herausgefunden hat, warum die Herren in Bond-Street schwarze Hüte tragen, der wird zur selben Zeit entdeckt haben, warum die Leute in Timbuktu mit roten Federn sich putzen.

Der mysteriöse Sinn eines wilden Kriegertanzes wird einem nicht in wissenschaftlichen Reisebüchern, sondern auf einem Subskriptionsball kund. Wer die Religionsquellen studieren will, reise nicht nach den Sandwichinseln, sondern gehe in seine Kirche. Wer die menschliche Gesellschaft (vom philosophischen Standpunkt aus) ergründen und wissen will, wie sie entstanden ist, der gehe nicht in das British Museum, sondern in die Gesellschaft.

Das vollständige Missverstehen vom wahren Wesen des Zeremoniells gab Anlass zu der verkehrtesten und denkbar falschesten Deutung der wilden Sitten wilder Länder. Der Mann der Wissenschaft, der sich nicht klar wird, dass die Zeremonien ohne Grund entstehen, wird für jede Art Zeremonie einen Grund und meistens einen recht absurden Grund finden; denn er ist nicht dem Kopf eines einfachen Wilden, sondern dem sophistischen Hirn eines Professors entsprungen. Der Gelehrte sagt z. B.: »Die Ureinwohner Mumbojumbos glauben, dass die Toten essen können und Nahrung brauchen auf ihrer Reise nach der Ewigkeit. Die Tatsache, dass die Mumbojumbaner Speisen in die Gräber ihrer Verstorbenen legen und dass alle Angehörigen, die sich diesem Ritus entziehen, den Zorn der Priester und des ganzen Stammes herausfordern, beweist es uns zur Genüge.« Wer immer mit der Geschichte der Menschheit vertraut ist, wird zugeben, dass dies Gerede ganz verdreht ist. Es ist gerade, als ob man sagen wollte: »Die Engländer im 20. Jahrhundert glaubten, dass die Toten Geruchsinn hätten. Dass die Menschen ihnen Lilien, Veilchen und andere Blumen auf die Gräber legten, beweist es uns zur Genüge; auch muss die Nichtachtung dieser Vorschrift zivile wie priesterliche Strafen nach sich gezogen haben. Denn es wird uns verschiedene Male von alten Damen erzählt, die in höchste Aufregung gerieten, weil ihre Kränze nicht zur rechten Zeit zu dem Begräbnis kamen.« Es mag ja sein, dass es Wilde gibt, die den Glauben haben, dass die Verstorbenen essen und kämpfen können, ich meinerseits glaube es nicht. Ich glaube, sie geben den Toten Speise und Waffen mit, aus demselben Grund, warum wir ihnen Blumen mitgeben, weil es höchst natürlich und selbstverständlich ist. Warum es so natürlich und selbstverständlich ist, wissen wir freilich nicht; aber alle wichtigen Gesten unserer menschlichen Existenz sind vor allem unrationell. Wir verstehen den Wilden so wenig, als er uns versteht und aus demselben Grund. Der Wilde versteht sich so wenig, wie wir uns selbst verstehen.

Soviel ist sicher: sobald ein Ding das menschliche Hirn durchkreuzt hat, ist es für wissenschaftliche Zwecke untauglich. Es wird hoffnungslos mysteriös und unendlich. Der Sterbliche drückte ihm den Ewigkeitsstempel auf. Sogar unsere materiellen Wünsche sind geistiger, weil menschlicher Art. Die Wissenschaft kann ein Schweinskotelett analysieren und auseinandersetzen, wieviel Phosphor und wieviel Protein darin enthalten ist; aber die Wissenschaft kann das Verlangen eines Menschen nach diesem Schweinskotelett nicht ergründen, und beweisen, wieviel auf Hunger, wieviel auf Gewohnheit, oder nervöses Verlangen, oder Schönheitssinn kommt. Des Menschen Verlangen nach dem Schweinskotelett bleibt faktisch so rätselhaft und ätherisch als sein Verlangen nach der Ewigkeit. Alle Versuche, eine Wissenschaft auf Grund menschlicher, historischer, soziologischer und volkskundlicher Forschung zu gründen, ist daher nicht nur hoffnungslos, sondern auch absurd. Die Sozialökonomie kann so wenig beweisen, ob eines Menschen Verlangen nach Geld reines Verlangen nach Geld ist, wie die Heiligenlegende beweisen kann, dass eines Heiligen Verlangen nach Gott ein reines Gottesverlangen war. Das Wahre und Unsichere auf diesem Gebiete ist endgültig ein lähmendes Moment für die Wissenschaft.

Die Menschen können eine Wissenschaft mit wenigen oder ganz primitiven Werkzeugen aufbauen, aber niemand hienieden wird eine Wissenschaft mit unsicheren Bausteinen errichten können. Es kann einer das ganze mathematische System mit einer Hand voll Kieselsteinen erklären, aber nicht mit einer Hand voll Erde, die immer wieder in neuen Fragmenten auseinander- und in neuen Kombinationen zusammenfällt. Man kann Himmel und Erde mit einem Schilf messen, nicht aber mit einem im Wachstum begriffenen Schilf.

Eine der ungeheueren Torheiten der Volkslehre ist die Übertragung ihrer Erzählungen und ihr Hinweis auf eine angeblich einheitliche Quelle. Eine Geschichte nach der anderen haben die wissenschaftlichen Mythologen ihrem Boden entrissen und dem Museum eigener Fabeln einverleibt. Ein guter Einfall und nicht ohne Reiz, der jedoch auf einer der plattesten Täuschungen beruht: Dass eine Geschichte zu gleicher Zeit an allen Orten erzählt wurde, beweist nicht nur nicht, dass sie nie passierte, sondern deutet auch nicht im geringsten darauf hin, dass sie aus der Luft gegriffen sei. Das mehrere Fischersleute angeblich berichten, dass sie einen zwei Ellen langen Fisch gefangen haben, beweist noch nicht, dass nicht ein Fischersmann einmal einen ähnlichen Fang tat. Dass unzählige Zeitungsschreiber (des Geldes halber) einen deutsch-französischen Krieg ankünden, hat mit dem Faktum, dass ein solcher stattfand, absolut nichts zu tun. In ein paar hundert Jahren werden die vielen frankogermanischen Kriege, die nie stattfanden, die wissenschaftliche Köpfe auch über den legendenartigen siebziger Krieg, der stattfand, aufklären. Und so wird es kommen, wenn es überhaupt noch Volks- und Sagenkundige gibt, weil deren Natur stets die gleiche bleibt; und ihre Verdienste werden nach wie vor grösser sein, als sie glauben. Denn diese Sorte Menschen tun Grösseres, als Volksgeschichte studieren: sie kreieren sie.

Es gibt zwei Arten von Sagen, die nach Aussage der Gelehrten falsch sein müssen, weil sie in aller Leute Mund sind: zu der ersteren gehören die Geschichten, die überall erzählt werden, weil sie wunderlich und seltsam sind: nichts auf der Welt weist darauf hin, dass sie dem oder jenen nicht passiert seien, wie sie da sicherlich in der Einbildung jemandem passiert sind. Schwerlich aber sind sie vielen passiert. Die zweite Sorte dieser Sagen wird überall erzählt aus dem einfachen Grunde, weil diese Sagen überall sich ereignet haben. Zu der ersteren gehört die Geschichte Wilhelm Tells, die jetzt zu den Legenden gerechnet wird, nur weil sie in den Sagen anderer Länder gefunden wurde. Nun wird diese Begebenheit überall erzählt, weil sie, wahr oder erfunden, eine hübsche Geschichte ist, seltsam schauerlich und mit einem Höhepunkt. Aber behaupten, dass eine ähnliche exzentrische Begebenheit in der ganzen Geschichte der Schützenkunst nie stattfand und dass es keinen Tell gegeben hat, ist eine Unverfrorenheit. Die Idee, nach einem Ziel zu treffen, dass an einem geliebten Wesen gesteckt wird, kann zweifelsohne jedem erfindungsreichen Dichter einfallen, aber auch jedem kühnen Schützen oder phantastischen Märchenerzähler oder phantastisch gelaunten Tyrannen. Es mag diese Geschichte sich einmal begeben haben und dann zur Sage geworden sein, oder umgekehrt, zuerst als Legende erzählt und dann im Leben passiert sein. Wenn, solange die Welt steht, niemals von eines Knaben Kopf ein Apfel geschossen wurde, so mag es morgen sich ereignen, und zwar durch jemanden, der von Wilhelm Teil etwas gehört hat.

Diese Art Geschichten gehen parallel mit den Anekdoten, die als Pointe eine recht schlagende Antwort haben. Die bekannte treffende Antwort auf jemandes Satz: – ›ich muss doch leben‹ –, »je ne vois pas la nécessité« wird Talleyrand, Voltaire, Heinrich IV., anonymen Richtern u. s. w. zugeschrieben. Aber dies beweist keineswegs, dass das Wort nie gefallen ist. Es ist sehr möglich, dass es von einem Unbekannten herrührt, es ist sehr möglich, dass es von Talleyrand ist. Auf jeden Fall fällt es nicht schwerer, anzunehmen, dass dieses Wort im Laufe des Gespräches von jemanden geäussert wurde, als anzunehmen, dass es dem Schriftsteller in den Sinn kam, als er Memoiren schrieb. Jeder von den oben Genannten könnte es gesagt haben. Aber das eine macht sich geltend: es ist nicht wahrscheinlich, dass sie alle zusammen die Äusserung taten. Und das ist's, worin die erste Sorte der sogenannten Mythen sich von der zweiten, der weiter oben besprochenen, unterscheidet. Es gibt Abenteuer, die fünf oder sechs Helden zugleich zugeschrieben werden, wie dem Siegfried, dem Herkules, dem Cid u. s. w., und das Eigentümliche an diesen Sagen ist, dass man ganz mit Recht sie nicht nur einem, sondern mehreren Helden attribuiert. Das tragische Los eines Helden zum Beispiel, dessen Stärke durch die geheimnisvolle Schwäche eines Weibes besiegt wird. Die Geschichte Wilhelm Tells ist, wie schon oben gesagt, populär, weil sie aussergewöhnlich ist, aber die Geschichte Samsons und Dalilas, Arthurs und Guinevras sind populär, weil nichts ungewöhnliches an ihnen ist; populär, wie einfache, wahre Begebenheiten, die das Leben schildern, wie es ist. Wenn Samsons Verderben und das des Herkules legendären Ursprungs ist, so können wir ebensogut Nelsons und Parnells tragisches Ende als eine Fabel hinstellen. Und in der Tat bin ich überzeugt, dass in ein paar Jahrhunderten die Sagenkundigen vollständig leugnen werden, dass Elizabeth Barrett von Robert Browning sich entführen liess und ihr Argument mit dem unleugbaren Faktum aufrechthalten werden, dass die Romane jener Zeit von Entführungsgeschichten strotzten.

Eine der leidenschaftlichsten Irrtümer der modernen Forscher primitiver Legenden und Zeiten ist wohl der Anthropomorphismus, dem sie huldigen. Sie glauben, dass die ersten Menschen alle Phänomene einem göttlichen Wesen in Menschengestalt zuschrieben, um sich dieselben besser erklären zu können, denn ihr halsstarrig enger Gesichtskreis konnte über ihre klownartige Existenz nicht hinausdenken. Der Donner war die Menschenstimme, der Blitz des Menschen Auge. Mit dieser Erklärung wurden die Phänomene begreiflicher und weniger schreckhaft. Wer endgültig von dieser philosophischen Denkungsart kuriert sein will, der gehe des Abends zwischen Hecken und Zäunen einen Pfad entlang. Er wird bald herausfinden, dass die Menschen in allen Dingen halb menschliche Formen suchen, nicht etwa, weil sie dadurch verständlicher und natürlicher, sondern im Gegenteil geheimnisvoller und übernatürlicher werden. Jemand, der des Nachts eine Gasse entlanggeht, kann die auffallende Beobachtung machen, dass, solange die Natur ihren gewöhnlichen Lauf geht, sie auf uns keine Macht ausübt. Solange ein Baum Baum bleibt, ist er ein dickköpfiges Ungeheuer mit tausend Armen und tausend Zungen und einem Bein. Aber als solches schreckt er uns keineswegs. Nur wenn er anfängt, eine menschliche Gestalt anzunehmen und uns gleichsieht, wird er schauerlich und geisterhaft. Wenn ein Baum wie ein Mensch aussieht, fangen unsere Knie an zu schlottern. Und wenn das Universum ein Menschenantlitz trägt, fallen wir auf unser Angesicht.


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