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XII.
Das Heidentum und Lowes Dickinson

Von dem modernen Heidentum oder Neo-Paganismus, den »Swinburne« auf so lärmende und Walter Pater auf so zarte Weise predigten, wäre weiters nicht viel Notiz zu nehmen, wenn es uns nicht so unvergleichliche Muster englischen Stiles hinterlassen hätte. Der Neu-Paganismus ist längst nicht mehr neu und hatte niemals die leiseste Ähnlichkeit mit dem Heidentum der Alten. Die Ideen freilich, die er dem Publikum beibrachte, waren merkwürdig genug. Ein Heide galt in der Dichtung und Belletristik stets für einen Mann, der keine Religion hatte, aber er hatte meist ein halbes Dutzend. Diese neue Art von Heiden bekränzte sich mit Blumen und tanzte sinnlos dahin, während sie in Wirklichkeit zu ihrer besten Zeit eine allzu ernste Würde und ein zu ernstes Verantwortungsgefühl zeigten. Man schildert sie uns im allgemeinen als trunkene, das Gesetz verachtende Menschen; aber sie waren vor allem vernünftig und respektabel. Man preist ihre Zügellosigkeit und doch war ihre Haupttugend Unterwerfung dem Staate gegenüber. Man beneidet sie um ihr schamloses Glücksgefühl und zollt ihnen Bewunderung dafür, – und doch war ihre grösste und einzige Sünde Verzweiflung.

Lowes Dickinson, der bedeutendste und fruchtbarste Schriftsteller auf diesem und ähnlichen Gebieten ist ein viel zu gediegener Autor, als dass er dem allgemeinen Glauben an diese angebliche heidnische Anarchie beigestimmt hätte. Um mit diesem hellenischen Enthusiasmus, dessen Hauptideal Sinnlichkeit und Selbstsucht gewesen sei, aufzuräumen, braucht man nicht viel Philosophie, sondern nur ein wenig Griechisch zu können. Lowes Dickinson ist in der Philosophie und im Griechischen bewandert und sein Fehler (wenn von Fehlern die Rede sein soll) liegt nicht im rohen Hedonismus. Aber der Kontrast, den er zwischen die christlichen und heidnischen Ideale in einem geistvollen Artikel aufstellt, enthält meines Erachtens einen Irrtum tieferer Art. Seiner Ansicht nach war das heidnische Ideal nicht blosse Sinnenlust, Laune und Freiheitsdrang, sondern vollkommenes und befriedigtes Menschentum, und das christliche Ideal, seiner Ansicht nach, reine Askese. Wenn ich nun behaupte, dass dies vom historischen wie philosophischen Standpunkt aus ganz falsch ist, so rede ich jetzt nicht von einem Christentum nach meinem eigenen Ideal, oder von einem primitiven unversehrten Christentum. Ich gehe nicht wie so viele moderne Idealisten von dem Standpunkt bestimmter Worte Christi, oder wie so manche andere von dem Standpunkt jener Worte aus, die Christus zu sagen vergessen hat. Ich rede von dem historischen Christentum mit all seinen Sünden, wie ich vom Jakobinertum oder Mormonentum oder von irgendeiner unerfreulichen menschlichen Institution reden würde, und ich behaupte, dass des Christentums Bedeutung nicht in der Askese liegt, noch dass es sich von der modernen Welt durch Askese unterschied oder dass Askese sein Ausgangspunkt war. Ich behaupte, dass des Simeon Stylites Begeisterung nicht rein asketisch war und dass der Hauptfaktor der Christen nicht in der Askese ruht, ja nicht einmal bei den Asketen selber.

Lasst uns die Sache ruhig überlegen. In den Beziehungen zwischen Christen- und Heidentum besteht etwas, das so einfach ist, dass viele darüber lächeln werden, dennoch scheinen es die Menschen vergessen zu haben, – nämlich dass das eine nach dem anderen kam. Lowes Dickinson spricht von ihnen, als wären sie parallele Ideale, ja, als sei das Heidentum das neuere von beiden und das zweckmässigste für alle kommenden Zeiten. Er gibt uns zu verstehen, dass das heidnische Ideal die endgültige erlösende Wohltat der Menschen sein wird. Aber wenn dem so ist, so fragen wir mit mehr Neugierde, als er uns gestatten wird: wie es denn kam, dass die Menschen ein so kostbares Gut auf Erden fanden und es von sich warfen? Des dunkeln Rätsels Sinn wage ich mir zu lösen.

Eines allein steht in der modernen Welt dem Heidentum gegenüber und versteht etwas davon: das ist das Christentum. Dieses Faktum ist der wunde Punkt des hedonistischen Neu-Paganismus, von welchem ich weiter oben sprach. Alles was uns von den alten Hymnen und Tänzen Europas blieb, alles was von den Freudenfesten des Pan und des Phöbus auf uns kam, finden wir in den Festen der Kirche. Wer wirklich einen Rest heidnischer Mysterien erleben will, der feiere Ostern und Weihnachten mit den anderen. Alles in der heutigen Zeit ist christlichen Ursprungs, alles was auch antichristlich zu sein scheint. Die französische Revolution, die Presse, die Anarchisten, die Wissenschaften sind christlichen Ursprungs, der Angriff auf das Christentum ist christlichen Ursprungs. Eines allein, das in jeder Hinsicht und bis in das einzelne heidnischen Ursprungs ist: das Christentum.

Der ganze Unterschied zwischen Heiden- und Christentum summiert sich in dem Unterschied der heidnischen oder natürlichen Tugenden und den drei christlichen, welche die römische Kirche die Kardinaltugenden nennt. Die Gerechtigkeit und Mässigkeit sind heidnische oder rationelle Tugenden, die Christenheit hat sie an Kindesstatt angenommen. Die drei mystischen Tugenden aber, welche die Kirche nicht angenommen, sondern geschaffen hat, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Manch billige und törichte christliche Rhetorik mag diese drei Worte breitgetreten haben, aber ich will nur die zwei Fakta hervorheben, die mir im Gegensatz zu den »tanzenden fröhlichen« Heiden wichtig scheint: erstens, dass die heidnischen Tugenden, wie Gerechtigkeit und Mässigkeit, die traurigen Tugenden sind, während Glaube, Hoffnung und Liebe die heiteren überschwenglichen sind. Zweitens, was noch auffallender ist, dass die heidnischen Tugenden die vernunftgemässen, die christlichen Tugenden aber ihrem Wesen nach, so vernunftwidrig sind, als sie es nur sein können.

Da das Wort vernunftwidrig zu Missverständnissen Anlass geben kann, so will ich nur sagen, dass in jeder dieser drei mystischen Tugenden ein Paradoxon liegt, während dies bei den typisch heidnischen oder rationellen Tugenden wegfällt. Die Gerechtigkeit will, dass den Menschen Gerechtigkeit widerfahre, d. h., dass dem einzelnen gegeben werde, was man ihm schulde. Die Mässigkeit besteht darin, die Grenzen einer bestimmten Leidenschaft einzuhalten. Aber die Liebe will, dass man unverzeihliche Unbilden verzeihe, oder sie ist keine Tugend; die Hoffnung, dass man hoffe und vertraue, auch wenn die Lage hoffnungslos geworden ist, oder sie ist keine Tugend.

Es ist amüsant, das Schicksal dieser drei Paradoxe zu verfolgen. Die Liebe (oder die Barmherzigkeit) ist Mode geworden, seit Dickens die Fackel in Brand setzte; auch die Hoffnung ist in die Mode gekommen, seit Stevenson mit seinem Optimismus sie wachrief; aber der Glaube ist »unmodern«, weil allerseits die Behauptung geht, dass er zu »paradox« sei. Jedermann teilt ironisch die kindliche und abgedroschene Ansicht, dass der Glaube es zuwege bringe, etwas zu glauben, was wir nicht glauben können. Dennoch ist der Glaube nicht um ein Jota weniger paradox, als Hoffnung und Liebe. Die Liebe bringt es zustande, das zu verteidigen, was als eine verlorene Sache gilt; die Hoffnung, Fröhlichkeit zu bewahren in verzweifelten Lagen. Es gibt allerdings eine Art Hoffnung, die dem Morgenrot und der Freude entgegensieht, aber sie gehört nicht in das Reich der Tugend. Diese hat ihren Sitz in Erdbeben und Finsternis. Es gibt wohl eine Art Liebe oder Barmherzigkeit, die den rechtschaffenen Armen zu Hilfe kommt, allein diese könnte sich ebensogut Gerechtigkeit nennen. Die Tugend als solche wendet sich ausschliesslich an die Unwürdigen, sonst verdient sie den Namen Tugend nicht. Und was die Hoffnung anbelangt, so brauchen wir sie, vom praktischen Standpunkt aus besehen, in den verzweifelten Momenten; diese erst rufen sie in das Leben. Sobald die Tugend aufhört, sozusagen einen Sinn zu haben, wird sie von Nutzen.

Nun ging das Heidentum einen vollständig geraden Weg, bis es seinen ungeheueren Irrtum einsah und in seinem letzten Todeszucken zur Erkenntnis der ewigen Wahrheit kam: dass die Vernunft nicht genüge. Die Antike war wirklich ein Paradies, ein goldenes Zeitalter insofern, als es unwiederbringlich ist. Und es wird nie mehr aufleben, weil wir trotz Energie und weit grösserer Fröhlichkeit und richtigerer Lebensführung nie so vernunftgemäss sein werden, als die Heiden es waren. Kein Christenmensch kann des antiken Menschen intellektuelle Sorglosigkeit in sich grossziehen, weil er wohl weiss, dass sie irreführt. Ich will das nächstbeste Beispiel anführen, das mir in den Sinn kommt, um das unglaublich unkomplexe des heidnischen Standpunktes zu beweisen. Tennysons Ulysses ist der vollkommenste Tribut, den je die heutige Zeit dem Christentum zollte. Der Dichter verleiht seinem Ulysses eine unwiderstehliche und unheilbare Wanderlust. Aber der echte Ulysses hat gar keine Sehnsucht nach Reiseabenteuern: er sehnt sich nach seiner Heimat; er legt eine wahrhaft heldenhafte und unvergleichliche Kraft an den Tag, weil er dem Geschick trotzt, das ist alles. Er liebt keineswegs das Abenteuer des Abenteuers halber: das ist erst ein christliches Produkt. Er liebt Penelope nicht ihretwillen: das ist ein christliches Produkt. Zu der alten Zeit war alles sonnenklar und einfach: ein guter Mann war ein guter Mann, ein schlechter Mann war ein schlechter Mann. Deshalb wussten sie nicht, was Liebe und Barmherzigkeit ist, denn diese bringt der komplexen Seite einen verehrenden Agnostizismus entgegen. Deshalb kannten sie die Kunst des Romanschreibens nicht, denn Romane sind die mystischen Blüten der Liebe. Eine hübsche Landschaft war für sie eine hübsche Landschaft; eine unfreundliche Landschaft eben unfreundlich. Sie hatten keine Idee von der Romantik, welche die Dinge schöner findet, wenn Gefahr damit verbunden ist: das ist eine christliche Idee. Kurzum, wir sind vollkommen unfähig, die staunenswerte Antike wieder aufzubauen oder uns nur eine Vorstellung von ihr zu machen. Es war eine Welt, in welcher die Vernunft Gemeingut war.

Ich glaube meine Ansicht über diese drei Tugenden ziemlich klar zum Ausdruck gebracht zu haben. Sie sind alle drei paradox, alle drei praktisch, und paradox, weil sie praktisch sind. Nur die höchste Not und bittere Erfahrung brachte die Menschheit dazu, diese Rätsel zu lösen und machte sie bereitwillig, für sie zu sterben. Was immer des Widerspruchs Bedeutung sein mag, soviel ist sicher, dass die einzige Hoffnung, welche im Kriege nutzt, eine Hoffnung ist, die der Arithmetik spottet. Und tatsächlich ist die einzige Liebe, die von den Schwachen ersehnt, von den Starken gewährt wird, diejenige Liebe, welche bereit ist, Sünden zu vergeben, die rot wie Scharlach sind.

Was immer der Glaube bedeuten mag, er befiehlt uns zu glauben, was unglaublich und unnachweisbar ist. So z. B. glauben wir kraft des Glaubens an die Existenz anderer. Aber eine noch markantere christliche Tugend, die mit dem Christentum historisch verbunden ist, bringt den Beweis der Verwandtschaft zwischen dem Paradoxon und der praktischen Notwendigkeit. Es wird niemand leugnen, dass diese Tugend, von der ich sprechen will, nicht ein starkes historisches Symbol wurde. Lowes Dickinson am wenigsten. Sie war das Banner von viel hundert christlichen Kämpen, die Zielscheibe des Hohnes für hunderte ihrer Gegner. In ihr liegt der ganze Unterschied, den Lowes Dickinson zwischen Heiden- und Christentum macht. Ich rede natürlich von der Demut als Tugend. Aber ich gebe gerne und bereitwilligst zu, dass viel falsch-orientalische, d. h. rein asketische Demut sich unter die europäische christliche Demut mengte. Wir dürfen nicht vergessen, dass, wenn wir vom Christentum sprechen, wir von einem ungefähr tausend Jahr alten Europa sprechen. Aber von jener Tugend möchte ich ungefähr dasselbe behaupten, was ich von den drei oben besprochenen sagte. Die Zivilisation entdeckte die christliche Demut aus derselben Notwendigkeit, aus welcher sie Glauben und Liebe entdeckte, weil die christliche Zivilisation darauf kommen oder untergehen musste.

Die grosse psychologische Entdeckung des Heidentums, die von diesem zum Christentum übertrat, kann ziemlich genau in ein paar Worte gefasst werden. Das Heidentum ging mit wunderbarer Sachlichkeit auf Freude aus. Am Ende seiner Zivilisation entdeckt es, dass der egoistische Freudensucher schliesslich an kaum etwas anderes, als an sich selbst Freude und Interesse haben könne. Lowes Dickinson schildert die absurde Hohlheit der allgemeinen Auffassung, dass die Heiden nur materiellen Genüssen gefröhnt hätten. Er geisselt sie in so scharfen Worten, dass sie schwerlich eines Kommentars bedarf. Gewiss der Heide suchte geistige moralische und seelische Freuden, aber er suchte sie in sich selbst, was ganz plausibel war. Aber die Psychologie machte die Entdeckung, dass, während allgemein angenommen wurde, dass die höchste Freude in der unendlichen Entfaltung des Ichs läge, die höchste Freude in der Verneinung und Auflösung des Ichs zu finden sei.

Die Demut ist es, die unaufhörlich Himmel und Erde verjüngt. Die Demut, nicht das Pflichtgefühl bewahren die Sterne vor ihrem Untergang, bewahren sie davor, aus ihrer Bahn zu treten. Die Demut schafft uns die alten Sterne ewig neu und herrlich. Seit Anbeginn der Zeiten haftet an uns der Fluch, der sichtbaren Wunder müde zu werden. Sähen wir die Sonne zum erstenmal, sie erschiene uns gewiss das wunderbarste und zugleich erschreckendste Meteor. Wir aber, die sie hundertmal gesehen, sprechen Wordsworths hässliche Worte nach und reden von Alltagslicht. Wir würden am liebsten unsere Ansprüche steigern, sechs Sonnen verlangen, eine blaue, eine grüne Sonne u. s. w. Die Demut aber versetzt uns immerzu in die Urfinsternis zurück. Von dort aus sehen wir, wie herrlich und leuchtend das Licht ist. Bevor wir nicht dieses Dunkel erfassten, in das kein Licht- und Hoffnungsstrahl dringt, können wir keine wahrhaft kindliche Freude über die Wunder der Natur empfinden. Die Worte Pessimismus und Optimismus haben, wie so viele moderne Ausdrücke, wenig Sinn. Wenn man ihnen aber eine Bedeutung abgewinnen kann, so ist es die, dass der Pessimismus die Basis des Optimismus ist. Derjenige, der sein Leben aufgibt und verneint, schafft eine neue Welt. Dem Demütigen allein ist die Sonne wirklich die Sonne, das Meer wirklich das Meer. Wenn er auf der Strasse die Gesichter der Vorübergehenden schaut, so verwirklicht er nicht nur, dass diese Menschen alle leben, sondern er gewahrt mit einer fast dramatischen Freude, dass sie nicht tot sind.

Ich habe mit Absicht die psychologische Notwendigkeit der Demut unerwähnt gelassen. Sie ist eine zu bekannte Sache: denn es ist klar, dass die Demut zum Fortschritt und zur Selbsterkenntnis unumgänglich notwendig ist. Der Chauvinismus versagt hauptsächlich deshalb, weil er behauptet, dass eine Nation an Kraft gewinnt, wenn sie die anderen gering schätzt und verachtet. Tatsache ist, dass Preussen und Japan heutzutage vielleicht als die stärksten Nationen gelten dürften, weil sie von der Pike auf dienten und es nicht scheuten, zu Füssen des Auslandes zu sitzen und ihnen alles abzulauschen. Fast jeder direkte Sieg war der des Plagiators; man kann sagen, dass er ein schlechtes Nebenprodukt der Demut ist, gewiss, aber ihr Produkt und als solches mit Erfolg gekrönt. Preussen kannte in seiner inneren Organisation keine christliche Demut, deshalb fiel sie kläglich aus. Aber Preussen wusste genug von ihr, um Frankreich bis auf Friedrich des Grossen Gedichte knechtisch zu kopieren, und das Land, das es so untertänig nachahmte, wusste es schliesslich zu besiegen. Die Japaner sind ein noch schlagenderer Beweis für dieses Argument. Ihre einzige christliche und schöne Eigenschaft war, dass sie sich begeistern konnten bis zur Selbsterniedrigung. Von all der Demut, die im Streben und Ringen nach einem höheren Ideal liegt, will ich nicht reden, da sie zu oft schon erwähnt wurde. Fast jede idealistische Feder widmete ihr ihre Kraft.

Es mag aber von Nutzen sein, zu beobachten, wie verschieden die heutige Auffassung vom Starken ist, von jener der wahrhaft Gewaltigen vergangener Zeiten. Garlyle protestierte gegen die Behauptung, dass vor seinem Kammerdiener niemand ein grosser Herr sei. Wir können ihm nur dann beistimmen, wenn er damit sagen will, dass sie eine Herabsetzung des Heldenkultus ist. Die Heldenverehrung ist ein grossmütig-menschlicher Zug: die Heldengrösse mag unzulänglich sein, die Verehrung ist es selten. Es mag sein, dass kein Held für seinen Knecht »Held« bleibt. Aber jeder wäre gerne seines Helden Knecht. Aber weder das Sprüchwort noch Carlyle achten auf die eine Hauptsache, die endgültige psychologische Wahrheit, die uns die fundamentale christliche Idee lehrte: nämlich: dass einer in seinen eigenen Augen niemals ein grosser Herr oder Held sein kann. Carlyle sagt, dass Cromwell ein grosser Mann war: Cromwell selbst aber war in seinen eigenen Augen ein Schwächling.

Wie sehr Carlyles aristokratisches Argument hinkt, zeigt eines seiner berühmtesten Worte. Er sagt, dass fast alle Menschen Toren und Narren seien. Das Christentum, mit grösserer Bestimmtheit und Realität, und mit aller Verehrung, sagt, dass wir Alle Toren sind. Diese Lehre nennt sich zuweilen die Lehre der Erbsünde. Man könnte sie ebensogut die Theorie der Gleichheit der Menschen nennen. Der Grundgedanke ist, dass die elementaren und moralischen Gefahren für alle Menschen gleich bestehen – dass wir alle Verbrecher und alle Helden werden können, je nachdem wir versucht, oder von edler Begeisterung entbrannt werden. Und diese Lehre räumt mit Carlyles pathetischen Anschauungen auf, die er mit vielen teilt: dass es nur eine Minorität kluger und weiser Menschen gäbe. Sie existiert nicht. Jede aristokratische Institution, die ins Leben kam, benahm sich im wesentlichen genau wie ein kleiner Haufen Mob. Jede Oligarchie ist nur ein Rudel zusammengelaufener Menschen, d. h. eine sehr bunte und lustige, aber nicht unfehlbare Genossenschaft. Und keine Oligarchie in der Geschichte Zeiten kam schlechter weg, als die der stolzen Polen und Venezianer. Und keine errangen glänzendere Siege über ihre Feinde, als die Mohammedaner und Puritaner, d. h. Krieger, die im Namen der Religion in die Schlacht zogen, Menschen, die man nicht zur Begeisterung, sondern zur Demut gedrillt hatte. Manche Engländer der Jetztzeit brüsten sich, die mutigen Nachkommen kühner Vorfahren zu sein. Aber sie liefen vor einer Kuh davon. Hätte man einen ihrer Väter, hätte man Bunyan z. B. gefragt, ob er sich für unerschrocken hielte, er hätte unter Tränen versichert, dass er ein schwaches Rohr sei. Und gerade deshalb war er zur Marter bereit.

Diese Tugend, diese Demut, die so wirksam ist, dass sie Schlachten gewinnt, bleibt dennoch stets paradox genug, um Pedanten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie geht gleichen Schritts mit der Liebe. Jeder grossdenkende Mensch wird zugeben, dass es gerade die unverzeihlichste Sünde ist, über welche die Liebe ihren Mantel breiten soll. Und jeder grossdenkende Mensch wird zugeben, dass nur Ein Stolz unleidlich ist, nämlich der berechtigte. Der Stolz, der bis zu einem gewissen Grade dem Charakter nicht schadet, ist derjenige, welcher nicht zur persönlichen Ehre gereicht. So schadet es Einem nichts, dass er auf sein Vaterland stolz ist, mehr, wenn er auf sein erworbenes Geld sich etwas zugute tut, viel mehr, wenn er auf etwas stolz ist, was grösseren Wert als Geld hat, auf Bildung, am allermeisten aber, wenn er auf das Kostbarste, auf die Güte sich etwas einbildet. Das ist der Pharisäer, den sogar Christus geisselte.

Was ich Lowes Dickinson und den Wiedereinführern des antiken Ideals vorwerfe, ist folgendes: sie ignorieren grundsätzlich die Evolutionen in dem moralischen Leben, die, wenn auch nicht greifbar, doch so bestimmt und nachweisbar sind, wie die Blutzirkulation.

Wir können nicht mehr zurück zu dem antiken Vernunfts- und Gesundheitsideal, denn die Menschen sind darauf gekommen, dass die Vernunft zur Gesundung nicht führt. Wir können nicht zurück zu dem Ideal des Stolzes und der Genusssucht, denn die Menschen sind zur Erkenntnis gelangt, dass der Stolz zum Genuss und zur Freude nicht führt. Ich weiss nicht, welch zufälligem intellektuellen Übereinkommen zu Folge die meisten Schriftsteller die Idee des Fortschritts mit der Idee des selbstständigen Denkens assoziieren. Der Fortschritt und das selbständige Denken stehen sich feindlich gegenüber. Denn der selbstständig individuell Denkende fängt ganz von vorne an und wird aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso weit kommen, wie sein Vater. Aber wenn wirklich von Fortschritt die Rede sein kann, so kann es nur auf Grund eines sorgfältig gründlichen Studiums der Vergangenheit geschehen. Ich behaupte, dass Lowes Dickinson und Konsorten Reaktionäre im eigentlichsten Sinn des Wortes sind. Lasset sie meinetwegen die grossen historischen Mysterien, das Geheimnis der Liebe, der Ritterlichkeit, des Glaubens ignorieren; lasset sie den Pflug, die Druckerpresse ignorieren. Aber wenn wir das antike Ideal wachrufen, wenn wir eine vernunftgemässe persönliche Entfaltung erstreben, so werden wir da enden, wo das Heidentum endete: nicht im Untergang, sondern im Christentum.


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