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XVII.
Über den Witz Whistlers

Arthur Symons, ein begabter und geistreicher Schriftsteller, hat vor kurzem, wenn ich nicht irre, einer Reihe von Essays eine Apologie der Londoner Nächte beigefügt, in welcher er sagt, dass die Moral der Kunst vollständig Untertan und untergeordnet sein müsse und er stützt sein etwas sonderbares Argument auf die Behauptung, dass der Kultus der Schönheit zu allen Zeiten derselbe, während die Moral stets und in jeder Hinsicht der Veränderung unterworfen war. Er scheint keinem seiner Kritiker oder Leser zuzutrauen, dass sie ihm vielleicht manchen Beweis stabiler Ethik bringen könnten. Es ist sicherlich ein kurioses Beispiel für das überspannte Vorurteil gegen die Moral, ein Vorurteil, das viele ultramoderne Ästhetiker krankhafter und fanatischer machte, als manchen Anachoreten im Orient. Dass die Moral eines Zeitalters grundverschieden ist von der Moral eines anderen, ist eine beliebte Phrase des modernen Intellektualismus, und bedeutet, wie so viele andere seiner Phrasen, tatsächlich gar nichts. Wenn die beiden Arten von Moral grundverschieden sind, warum gibt man ihnen beiden den Namen »Moral«? Es ist gerade, als ob einer sagen würde: »Die Kamele sind in manchen Gegenden grundverschieden voneinander: einige haben sechs Beine, einige haben gar keine Beine, einige haben Schuppen, andere haben Federn, andere Hörner, andere Flügel, einige sind grün, andere wieder dreieckig: sie sehen sich in keiner Weise ähnlich.« Der normale Mensch wird darauf erwidern: »Warum geben Sie denn all diesen verschiedenen Tieren das Prädikat Kamel? Was verstehen Sie unter einem Kamel? Woran erkennen Sie das Kamel?« Es gibt natürlich eine ständige Moralsubstanz, wie es eine ständige Kunstsubstanz gibt: d. h. soviel, als dass Moral Moral und Kunst Kunst bedeutet. Ein idealer Kunstkritiker wird freilich die unvergängliche Schönheit jeder Schule erkennen, so wie ein idealer Moralist die Ethik in jeder Gesetzgebung erkennen wird. Tatsächlich aber konnten einige unserer besten Landsleute in der sternenklaren Frömmigkeit der Brahmalehre nur Schmutz und Abgötterei finden. Und es ist ebenso erwiesen, dass eine Anzahl der grössten Künstler der Welt (die Riesen der Renaissance) in der zarten Gewalt der Gotik nichts wie Barbarei erblickten.

Dieses Vorurteil gegen die Moral teilen eine Menge moderner Ästheten und sie machen einen gewissen Staat damit. Und doch ist es nicht wirklich ein Vorurteil gegen die Moral im allgemeinen, sondern ein Vorurteil gegen die Moral der anderen. Es ist meistens das Resultat einer Vorliebe für eine bestimmte heidnische, plausible und natürlich-menschliche Lebensführung. Der moderne Ästhetiker, der uns zu verstehen gibt, dass er die Schönheit über die Sitte stellt, liest Mallarmé und trinkt Absinth in einem Weinkeller, Aber Mallarmé ist nicht nur sein Schönheitsideal, sondern auch das Trinken in Spelunken seine bevorzugte Lebensauffassung. Wenn er wirklich bei uns Glauben finden will für seinen Schönheitssinn, so lasst ihn nur Wessleyanschen Kinderschmäusen beiwohnen und die flachsenen Kinderköpfe malen, in denen die Abendsonne spielt, oder lasst ihn nur recht feurige Predigten von altmodischen Presbyterianern lesen. Damit würde er uns sein rein aufrichtiges und malerisches Interesse beweisen: in all den Büchern, die er sonst liest, klammert er sich an seine eigene Moral oder Unmoral. Die Verfechter des »l'art pour l'art« sind immer gegen Ruskins Moralisieren: wenn sie wirklich Kämpfer des »l'art pour l'art« wären, so würden sie ständig auf die Schönheit von Ruskins Stil hinweisen.

Die Lehre des Unterschiedes, den man zwischen Kunst und Moral macht, verdankt ihr Dasein meist dem Umstand, dass Kunst und Moral in der Person und Leistung der grössten Kunstvertreter so hoffnungslos verwoben sind. Whistler ist ein eklatantes Beispiel hierfür. Keiner lehrte die Unpersönlichkeit so gut wie er. Keiner lehrte sie auf so persönliche Art. Für ihn hatten Bilder mit dem Charakter nichts zu schaffen, und dennoch, trotz seiner glühenden Verehrerzahl war sein Charakter viel interessanter als seine Bilder. Er setzte seinen Stolz darein, in seiner Eigenschaft als Künstler jenseits von Gut und Böse zu stehen. Aber er redete von morgens bis abends unaufhörlich von seinem Recht! Der Talente hatte er viele, der Tugenden wenige, wenn man von seiner Gefälligkeit seinen erprobten Freunden gegenüber absieht, die viele seiner Biographen geltend machen, die jedoch die Tugend aller normalen Menschen, aller Seeräuber und Taschendiebe ist; ausser dieser hatte er zwei hervorragende Eigenschaften: nämlich Mut und abstrakte Liebe für die gute Arbeit. Ich glaube aber, er zog mehr Gewinn aus dieser Tugend wie aus allen seinen Talenten. Es muss Einer etwas Moralist sein, um zu lehren, und wäre es nur, um Unmoralität zu lehren. Professor Walter Raleigh betont in seinem: »In Memoriam James Mc. Neill Whistler« diesen Zug ehrlicher Exzentrizität, die er in Beurteilung von Bildern hatte, und die den Grundton seines komplexen und etwas verworrenen Charakters bildete: Er hätte lieber alle seine Bilder vernichtet, als in einem derselben einen nachlässigen nichtssagenden Pinselstrich zu lassen. Er fing lieber eine Leinwand hundertmal an, als dass er durch Flickarbeit seinem Bilde ein besseres Aussehen gab.

Niemand wird es Professor Raleigh, der eine Art Leichenrede über Whistler bei der Eröffnung seines Nachlasses zu halten hatte, zum Vorwurf machen, dass er vorzüglich von den Verdiensten und hervorragenden Eigenschaften des Künstlers sprach. Wir müssen daher die Beurteilung seiner Schwächen anderswo suchen. Diese sollten uns aber nicht entgehen. Und in der Tat soll hier nicht die Rede von seinen Schwächen, sondern von Whistlers fundamentaler, angeborener Schwäche sein. Er gehörte zu Jenen, die von dem Kapital ihres Gefühlslebens lebten: Eitelkeit verzehrte ihn. Deshalb legte er keine Kraft zurück; deshalb besass er weder Güte noch Frohsinn, denn dieser ist soviel wie aufgespeicherte Kraft. Er hatte keine göttliche Sorglosigkeit: denn er vergass sich nie; sein ganzes Leben, um mich seines eigenen Lieblingsausdruckes zu bedienen, war ein »Arrangement«; er legte einen Hauptwert auf »die Kunst des Lebens« (ein erbärmlicher Kniff). Kurzum, er war ein grosser Künstler, aber sicherlich kein grosser Mensch. In einer Beziehung kann ich mit Professor Raleigh durchaus nicht übereinstimmen: nämlich in dem Hauptpunkt seiner Rede. Er vergleicht Whistlers Lachen mit dem eines Anderen, der sowohl ein grosser Mann wie ein grosser Künstler war. Er sagt: »Seine Attitüde dem Publikum gegenüber war genau die Robert Brownings, welcher wie er unter der Missachtung der Menschen zu leiden hatte, und diese Attitüde äusserte er in »The Ring and the Book«:

»Well, British Public, ye who like me not,
God love you! and will have your proper laugh,
At the dark question: laugh it! I'd laugh first.«

Whistler, fügt Professor Raleigh bei, lachte immer zuerst. Soviel ich weiss, lachte Whistler nie. Seine Natur kannte kein Lachen, weil sie weder Sorglosigkeit, noch Selbstvergessenheit, noch Demut kannte. Ich kann nicht verstehen, wie irgend jemand in: »The Gentle Art of Making ennemies« Heiterkeit in dieser Art Witz herauslesen kann. Sein Lachen ist gequält; er windet sich in verschlungenen Wortspielen: er ist ganz hoheitsvolle Nachlässigkeit, erfüllt von dem Ernst ehrlicher Bosheit. Er verletzt sich selbst, um seine Gegner zu verletzen. Browning ja, der – lachte, weil Browning sich aus der Kritik des Menschen nichts machte, und weil er sich nichts daraus machte, gehört er zu den Grossen. Und wenn er unter Klammer dem einfachen Publikum, das seine Bücher nicht geniesst, zuruft: Gott schütze euch, so war es keineswegs aus Hohn. Er sagte es lachend, das heisst, er meinte genau, was er sagte.

Es gibt drei bestimmte Klassen von grossen Satirikern, die auch grosse Männer waren, d. h. drei Sorten von Menschen, die über ihre Nebenmenschen lachen können, ohne an ihrer Seele Schaden zu leiden. Zu der ersten Klasse rechne ich Jenen, der an sich selber, und dann an seinen Feinden sich ergötzt; insofern kann man sagen, dass er seinen Feind liebt, und einer christlichen Übertriebenheit zufolge liebt er seinen Feind um so mehr, je mehr dieser sein Feind wird. Die Bejahung seines Zornes gibt ihm eine Art überwältigenden Glücksgefühles; seine Verwünschung ist so human wie eine Segnung. Babelais ist der grösste markanteste Typus dieser Kategorie. Er ist der typische Satiriker, dessen Witz wortreich, heftig, indecent, aber ohne Bosheit ist. Whistlers Satire war anderer Natur. Er besass in all seinen Streitigkeiten nie wirkliches Glücksgefühl; der Beweis dafür ist, dass er nie absoluten Unsinn redete. Es gibt noch eine andere Art von Satire, die mit Grösse verbunden ist; nämlich jene Satire, die sich in Leidenschaft ergiesst unter dem unerträglichen Druck allgemein erlittenen Unrechtes. Es macht ihn rasend; seine Zunge wird ein unkontrollierbares Werkzeug, das gegen die ganze Menschheit zeugt. Ein solcher Mann war Swift, dessen »Saeva indignatio« den Lesern zur Bitterkeit wurde, weil sie für ihn selbst Bitterkeit war. Whistlers Satire war anderer Natur; er lachte, nicht weil ein Glücksgefühl ihn lachen hiess, wie es bei Rabelais der Fall war. Aber er lachte auch nicht, weil er wie Swift unglücklich war über der Menschen Not. – Zu der dritten Sorte Satiriker gehören Jene, die in hehrer Überlegenheit über ihren Opfern stehen, die ihre Gebrechen beklagen und den Menschen dabei bei aller Satire achten können. Popes Attikus ist eine solche Leistung, aus welcher jeder Satiriker herausfühlen wird, wie er besonders die Schwächen geisselt, die dem literarischen Genie oft so eigen sind. Er weist uns dann vor allem auf dessen Stärke hin und dies mit einer gewissen Genugtuung. Es ist vielleicht die höchste und edelste Form der Satire. Aber so ist Whistlers Satire nicht beschaffen; er ist nicht schmerzerfüllt über das Unrecht, das die menschliche Natur erleidet; denn was Unrecht betrifft, tat man immer nur Einem unrecht: ihm selbst. Er war keine grosse Persönlichkeit, da er soviel mit sich selbst beschäftigt war. Und das Übel sitzt noch tiefer. Er war nicht einmal immer ein grosser Künstler, da er zuviel mit Kunst beschäftigt war. Jedermann, der mit der menschlichen Psyche vertraut ist, sollte das grösste Misstrauen jedem Künstler entgegenbringen, der allzuviel von Kunst spricht. Die Kunst ist etwas Natürliches und Menschliches wie Gehen oder Beten: aber sobald Einer recht feierlich von Kunst zu sprechen anfängt, darf man fast bestimmt annehmen, dass es mit der Sache einen Haken hat.

Das künstlerische Temperament ist ein Übel, von dem viel Dilettanten befallen sind, d. h. alle Jene, die nicht die genügende Kraft besitzen, das künstlerische Wesen ihrer Natur auszudrücken und auszulösen. Es ist dem gesunden Menschen heilsam, die Kunst, die in ihm ruht, zum Ausdruck zu bringen; es ist dem gesunden Menschen unumgänglich notwendig, die Kunst, die in ihm steckt, auszulösen, koste es, was es wolle. Sehr kräftige und lebensstarke Künstler tun es mit derselben Leichtigkeit, mit welcher sie atmen und schwitzen. Aber in schwächeren Naturen verursacht der künstlerische Drang eine Art Druck, eine definierbare Pein, die allgemein mit der Bezeichnung »künstlerisches Temperament« gedeckt wird. Grosse Männer, wie Shakespeare oder Browning, sind daher fähig, nebenbei ganz normale Leute zu sein. Es gibt viele wahre Tragödien des künstlerischen Temperamentes, Tragödien der Eitelkeit, der Gewalttätigkeit oder der Furcht, aber die grosse Tragödie des künstlerischen Temperamentes ist seine Unfähigkeit, wirkliche Kunst hervorzubringen.

Whistler konnte es und deshalb war er insofern ein grosser Mann. Aber er konnte die Kunst nie vergessen und insofern war er nur ein Mann mit künstlerischem Temperament. Der wahrhafte Künstler kann uns keinen grösseren Beweis seiner Meisterschaft liefern, als wenn er das Thema Kunst fallen lassen und die Kunst bei Gelegenheit zum Kuckuck wünschen kann. Desgleichen werden wir unseren Prozess am liebsten einem Rechtsanwalt anvertrauen, der nicht die Gewohnheit hat, beim Nachtisch von Amtssachen zu reden. Wir wünschen, dass er seine ganze Kraft dem speziellen Fach weihe, aber nicht, dass der spezielle Fall alle seine Kräfte aufreibe, dass er ihn in seinen Sports vergnügen, in der Erholung mit seinen Kindern, oder bei seiner Morgenbetrachtung verfolge. Sondern wir wünschen, dass gerade sein Sport, seine Erholung, seine Morgenbetrachtungen ihm die nötige Energie und Kraft zur Prozessführung verleihen mögen, und wir hoffen, dass, wenn seine Lungen durch Sportsübung und seine Seele durch Morgenbetrachtungen gestärkt wurden, er erneute Kraft und geistige Frische unserem Prozess zuwenden möge. Kurzum, es freut uns, zu wissen, dass er ein normaler Mensch ist, weil es dann wahrscheinlicher ist, dass er ein ausgezeichneter Rechtsanwalt ist.

Whistler gab sein Künstlertum nie auf; wie Max Beerbohm es in einer seiner geistvollen und sachlichen Kritiken bemerkt, betrachtete Whistler sich selbst als sein grösstes Meisterwerk. Die weisse Stirnlocke, das Monokel, der merkwürdige Hut, sie waren ihm teuerer als alle »Nocturnos« oder »Arrangements«, die er hinwarf. Er konnte dies Nocturno abschütteln, aber aus irgendeinem geheimnisvollen Grund konnte er seinen Hut nicht abtun, wie er die unproportionierte Anhäufung von Ästhesie nicht abschütteln konnte, die der Dilettanten Fluch ist.

Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass gerade dieses Problem die dilettantischen Kritiker so aus der Fassung brachte: wie denn grosse geniale Männer ganz gewöhnliche Menschen sein konnten. Ihr Benehmen war so gewöhnlich, dass es nicht aufgezeichnet wurde, so gewöhnlich, dass es fast geheimnisvoll schien. So kam es, dass die Menschen auf den Gedanken kamen, dass Bacon den Shakespeare schrieb. Das moderne künstlerische Temperament kann es nicht begreifen, dass ein Mann, der wie Shakespeare solch köstliche Lyrik schrieb, in Geschäftssachen so gewandt und gerieben sein konnte, wie derselbe Shakespeare in dem Städtchen zu Warwickshire es war. Doch ist der Fall sehr klar. Shakespeare besass eine wahrhaft lyrische Ader, schrieb echte Lyrik, löste sich aus, und ging dann zu seinen Geschäften über. Sein Künstlertum hinderte ihn nicht, ein Mensch wie alle anderen zu sein; er schlief des Nachts wie alle gewöhnlichen Sterblichen und nahm sein Mittagessen ein wie ein gewöhnlicher Sterblicher. Alle grossen Lehrer und Führer wahrten einen allgemeinen Standpunkt, den Jeder, auch der Vorübergehende, fassen konnte. Wer wirklich überlegen ist, glaubt vor Allem an die Gleichheit der Menschen. Wie unglaublich einfach und rationell spricht Christus z. B. zu jeder ihn zufällig umringenden Menge: »Was dünkt euch? Wenn einer hundert Schafe hat, und eines von ihnen sich verirrt, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und gehet hin, das verirrte Schaf zu suchen?« – Oder: »Ist wohl ein Mensch unter euch, der seinem Sohne, wenn er um Brot bäte, einen Stein gäbe?« Dieser einfache kameradschaftliche Ton ist allen grossen Persönlichkeiten eigen.

Wirklich grosszügigen Seelen sind die Dinge, über welche sich die Menschen einigen, soviel wichtiger, als die Dinge, über die sie uneins sind, dass sie letztere in praktischer Hinsicht fallen lassen. Sie haben noch zu viel von dem alten Lachen in sich, als dass sie es vertragen könnten, über die verschiedenen Hüte zweier Menschen, die beide vom Weibe geboren sind, zu diskutieren, oder über die subtile Kultur zweier Menschen, die beide sterben müssen. Der erstklassige Mensch gleicht den anderen Sterblichen wie Shakespeare, der zweitklassige liegt auf den Knien vor ihnen wie Whitman; der drittklassige ist über Alle erhaben wie Whistler.


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