Conrad Ferdinand Meyer
Die Versuchung des Pescara
Conrad Ferdinand Meyer

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Fünftes Kapitel

Als Viktoria erwachte, lag ihr Haupt auf einem leeren Pfühle, und durch das geöffnete Fenster strömte die Morgenluft. Sie sprang auf, den Gatten zu suchen, und fand ihn, der die Terrasse auf und nieder schritt und den der Schlummer erfrischt und wie neu belebt hatte. Sie wurde ungläubig an den nächtlichen grausamen Kampf in ihren Armen, er war ihr wie ein Traum.

Da begann Pescara: »Gestern, liebe Herrin, habet Ihr mich um den Namen meines Genius befragt, und mir bangte, ihn vor Euch auszusprechen. Endlich hättet Ihr mir mein Geheimnis fast entrissen, denn es ist schwer, einem geliebten Weibe etwas vorzuenthalten. Da erschien er selbst und berührte mich. Ihr kennet ihn nun, und der gefürchtete Name bleibe unausgesprochen. Keine Tränen! Ihr habet sie gestern vergossen. Sondern saget mir jetzt, wohin wünschet Ihr Euch zu begeben, während ich das Heer des Kaisers gegen Mailand führe?«

»Wie konntest du es mir so lange verbergen, Ferdinand?«

»Zuerst – nicht lange – verheimlichte ich es mir selbst... doch nein, ich wußte mein Los schon am Schlachtabend von Pavia. Mit jener blutigen Wintersonne bin ich untergegangen. Meines Zieles und meiner gezählten Tage gewiß, wie hätte ich die deinigen vorzeitig verfinstern dürfen? Du sagtest mir zuweilen, es sei grausam, eine süß Schlummernde zu wecken, und littest es nicht. Ich aber bin nicht grausam.«

»Du bist es«, erwiderte sie, »sonst hättest du mich nicht so bitter getäuscht, sondern mich gerufen und dich von mir pflegen lassen.«

»Niemand durfte darum wissen«, sagte er.

»Und dein Arzt? Der mußte es wissen, und ich zürne ihm, daß er mich belogen hat, da ich an ihn schrieb und ihn beschwor, mir die Wahrheit zu sagen!«

»Der arme Numa!« sagte der Feldherr. »Er ist schon unglücklich genug, daß er mich nicht heilen kann. Er riet mir damals eine lange Ruhe auf Ischia, ich aber sagte ihm: Es ist umsonst. Doch wozu dies alles?... Wohin gedenkst du zu gehen, Viktoria?«

»Nein, Ferdinand, sprich! Verheimliche mir nichts mehr!«

»Es ist umsonst, sagte ich ihm, die Lunge ist durchbohrt und das Herz leidet. Friste mich, Numa! Ziehe mich hinaus, in den Sommer, in den Herbst, bis zu den ersten Flocken! So viel Zeit brauche ich, meinen Sieg zu vollenden. Und vor allem, sagte ich, halte reinen Mund! Niemand erfahre unser Geheimnis! Es würde die Kräfte des Feindes verdreifachen und mich und mein Heer verderben. Noch einmal, schweige! Ich will es! gebot ich ihm... Und ich habe das Leben geheuchelt, so gut, daß mir Italien den Brautring bot!« Er lächelte. »Und ich werde noch einmal zu Pferde sitzen! Du aber, Viktoria, gelobst mir – doch kein Gelübde, du tust es mir zuliebe –, nicht ungerufen mir nachzueilen durch die Staubwolke meines Marsches und über blutgetränkte Felder. Auch würdest du dem Kriegsvolke zu spotten geben, nicht über dich, gut und schön wie du bist, sondern über den verhätschelten Feldherrn. Also du bleibst. Aber wo? Hier?«

Viktoria besann sich, trostloses Leid in den Zügen. Dann sagte sie: »Gestern, wie ich herritt, kam ich, schon im Weichbilde der Stadt, an einem kleinen Frauenkloster vorüber. Es heißt, wie ich erfuhr, Heiligenwunden. Dort will ich deines Rufes harren, Buße tun und für deine Genesung beten.«

»Für meine Genesung?« lächelte er. »Tue das. Auch wirst du dich in Heiligenwunden nicht langweilen; das Kloster, höre ich, hat herrliche Stimmen und ist berühmt wegen seines Chorgesanges. Reiten wir hin, bald, jetzt da es frisch und der Staub der Heerstraße noch nicht aufgewühlt ist.« Er ging leichten Schrittes durch den Park nach dem alten Schlosse hinüber, um satteln zu lassen.

Viktoria folgte mit langsamen Schritten, und da sie Numa den Arzt erblickte, der sich nach der Nacht des Feldherrn zu erkundigen kam, ging sie auf ihn zu mit schmerzlich bewegter Miene: sie wollte ihm vorwerfen, daß er ihr die Wirklichkeit verhehlt, und zugleich ihn beschwören, mit den letzten Mitteln und Geheimnissen seiner Kunst das geliebte Leben zu fristen. Da aber der Arzt die Colonna kommen sah, streckte er in dem Gefühle seiner Ohnmacht die zitternden Hände abwehrend gegen sie aus, als flehe er: Schone meiner, ich vermag nichts! Sie verstand die Gebärde und ging ihres Weges, an Ippolito vorüber, der das Knie vor ihr bog und den sie nicht gewahr wurde, zum großen Herzeleid des Knaben.

Im Schloßhofe fand sie den schwer und kostbar geschirrten Rappen Pescaras und ihren ebenfalls gesattelten falben Berber. Der Feldherr hob sie zu Pferde, und sie ritten unter grüßendem Trommelwirbel über die sich senkende Zugbrücke hinaus in die unabsehbaren Reisfelder der lombardischen Ebene. Ihnen folgte in gemessener Entfernung ein Reitknecht des Pescara, ein von südlicher Sonne geschwärzter Kalabrese, und auf einem Maultier die römische Zofe Viktorias.

Hinter den Reisenden verhallten im Schloßhof die ungehörten Hilfrufe des vergessenen Kanzlers. Er war aus schlimmen Träumen erwacht und schon in der Frühe durch die Gärten geirrt, immer wieder an Mauern und Wälle gelangend, hier von deutschen, dort von spanischen Wachtposten beobachtet. Die Schwaben ergötzten sich weidlich an seinem ausschweifenden Gebärdenspiel, während die Spanier einverstandene schadenfrohe Blicke tauschten: sie zweifelten nicht, der Feldherr habe den Minister des Feindes in die Falle gelockt, und versprachen sich, ihn morgen, wenn er dem Heere nachgeschleppt würde, nach Herzenslust zu quälen und gründlich auszuplündern. Endlich war er in das Rondell gekommen und erschöpft auf dieselbe Bank gesunken, wo er gestern den schlummernden Pescara gefunden und belauscht hatte. Da vernahm er den Salut der Torwache, rannte nach dem Schloßhof und wollte über die Brücke nachstürzen. Von dem Posten mit vorgestreckten Hellebarden empfangen, sah er jammernd den Feldherrn und Viktoria in den Dunst der Ferne entschwinden.

Es war nach einem leuchtenden ein trüber Tag. Kein Windhauch und nicht der leiseste Versuch einer Wolkenbildung. Keine Lerche stieg, kein Vogel sang, es dämmerte ein stilles Zwielicht wie über den Wiesen der Unterwelt. Das Frauenkloster wurde sichtbar und vergrößerte langsam seine friedlichen Mauern. Freilich ritten die beiden fast nur im Schritte, die verwitwende Viktoria in tiefem Schweigen, während, durch einen wunderbaren Gegensatz, das Gedächtnis des jetzt ausruhenden Feldherrn auf leichten und liebenden und inbrünstigen Schwingen in die Jugend zurückkehrte und die an seiner Seite Trauernde wieder in die reizenden und rührenden Gestalten des knospenden Mädchens und der zärtlichen Braut verwandelte. Er enthielt sich nicht, sie an kleine Dinge jener glücklichen Tage zu erinnern, aber er gewann ihrer Kümmernis kein Lächeln ab. Er war seines lastenden Geheimnisses ledig, dessen Bitterkeit sie jetzt auf einmal und in vollen Zügen kostete.

Nun waren sie schon so nahe, daß sie Chorgesang im Kloster vernahmen. »Was singen sie dort?« fragte er gleichgültig. »Ich meine, ein Requiem«, sagte sie.

Wie sie vor dem Kloster abstiegen, da siehe, trat ihnen aus der Pforte die Äbtissin entgegen, hinter sich zwei bescheidene Nonnen. Sie mochte irgendein Kind in ein Reisfeld auf die Lauer gelegt haben, das nun auf schnellen nackten Füßen vorausgelaufen war. Die Äbtissin hatte die Ankunft Donna Viktorias in Novara schon gestern in Erfahrung gebracht und sich gleich geschmeichelt, die gottesfürchtige und leutselige Frau werde Heiligenwunden nicht unbesucht lassen, denn das Kloster besaß neben den geschulten Stimmen seines Chores noch eine größere Auszeichnung: die mystische und täglich sterbende Schwester Beate, welche die blutigen Male an ihrem kranken und abgezehrten Leibe trug. Die unternehmende und beherzte Äbtissin hatte sich vorgenommen, von der Colonna, der sie Macht über den Gatten zutraute, den Nachlaß einer schweren Kriegssteuer zu erbitten, welche der gottlose und habgierige Feldherr – dieses Rufes genoß Pescara bei der italienischen Klerisei – zuwider den kanonischen Sätzen und gegen alle Billigkeit auf die Güter des Klosters gelegt hatte. Daß aber der Feldherr, der es vermied, eine christliche Stätte zu betreten, Madonna Viktoria begleiten würde, war der Äbtissin nicht im Traume eingefallen.

Sie begrüßte, eine angenehme Frau mit dunkeln, klugen Augen und blassen, gefälligen Zügen, das hohe Paar in wenigen gewählten Worten. Dann schwieg sie aufmerksam, die Rede Pescaras erwartend, dessen edle Erscheinung ihr Eindruck machte.

»Ehrwürdige«, begann der Feldherr, »Donna Viktoria wünscht während des Feldzuges, den ich morgen beginne und dessen Dauer ich auf eine Woche berechne, ein paar ruhige und fromme Tage hier in Eurem Konvente zu genießen, bis ich sie nach Mailand rufen werde, nach vollendetem Kampfe. Habet Ihr ein schickliches Gemach zu vergeben?«

Rasch erwiderte die Äbtissin, das ihrige stehe zu Gebote.

»Ich verlange eine einfache Zelle wie die der geringsten Schwester, mit dem gewöhnlichen Geräte«, sagte Viktoria, deren Blässe die Äbtissin befremdete. Aber sie schrieb dieselbe der begreiflichen Sorge um den zu Felde ziehenden Gatten zu.

»Wenn sich Donna Viktoria eingerichtet hat«, schloß Pescara, »werde es mir gemeldet. Ich habe noch mit ihr zu sprechen und bitte, Klausur und Zelle betreten zu dürfen. Ausnahmsweise, da ich dem Kloster wohlwill. Ihr findet mich in der Kirche.« Er verneigte sich und schritt auf diese zu.

Viktoria fragte, was die Nonnen gesungen hätten, und erhielt die Antwort: »Ein Requiem. Für die junge Julia Dati, die Enkelin unsers greisen Arztes, welche in Rom gestorben ist.« Dann folgte sie der Äbtissin, während die beiden Nonnen zugeflüsterte Befehle auszurichten gingen.

Indessen durchmaß der Feldherr, ohne das Haupt zu entblößen oder irgendeine der üblichen Devotionen zu verrichten, die Länge der Kirche mit festem Gange, die Arme über dem Panzer kreuzend. Er hatte sich, da er auf dem Heimritte seinen in Novara feldmäßig einrückenden Truppen begegnen mußte, leicht behelmt und beharnischt und schritt wie ein Held und Herrscher auf der Stätte des Gebetes und der Demut.

»Nein«, sprach er zu sich mit geschlossenem Munde, »es sei heute das letztemal. Ich will von ihr Abschied nehmen als ein Lebender. Ich will es ihr ersparen, mich leiden zu sehen. Sie soll mich wiederfinden, wenn ich ruhe.«

Sich allein glaubend, wurde er durch das Gitter des Chores belauscht. Diesen hatten die Nonnen wieder betreten, auf das Geheiß der Äbtissin, denn Pescara sollte die Stimmen ihres Klosters hören. Selbst die mystische Beate war gekommen und vereinigte ihren schwärmerischen Blick mit demjenigen vieler feurig braunen oder schwarzen Augen, welche die Heldengestalt verschlangen. Alle versammelten Himmelsbräute priesen die Colonna selig und beneideten ihre irdische Lust, während die glücklich Geglaubte nicht ferne davon in einer Zelle mit gerungenen Händen verzweifelte. Auch Schwester Beate erlag der Versuchung, diesen stolzen Herrn der Welt zu bewundern, überwand sich aber tapfer und flehte den Himmel inbrünstig an, der Colonna zum Heil ihrer Seele ihren Abgott zu entreißen. Aber diese heftigen Gefühle wichen dem harmloseren der Eitelkeit. Nach dem Geflüster einer kleinen Beratung und einem leisen Räuspern intonierten die Schwestern jubelnd ihr Prachtstück, ein Tedeum, das sich auch für den Sieger von Pavia besser eignete als irgendeine andere Prosa oder Sequenz.

Und er hätte wohl gelauscht, aber er stand regungslos, wie gebannt vor dem gekreuzigten und schon entseelten Christus eines großen Altarbildes, dessen helle Farben noch in voller Frische leuchteten. Doch es war nicht das göttliche Haupt, das er beschaute, sondern er betrachtete den Kriegsknecht, der seine Lanze in den heiligen Leib stieß. Dieser war offenbar ein Schweizer; der Maler mußte die Tracht und Haltung eines solchen mit besonderer Genauigkeit studiert oder frisch aus dem Leben gegriffen haben. Der Mann stand mit gespreizten Beinen, von denen das linke gelb, das rechte schwarz behost war, und stach mit den behandschuhten Fäusten von unten nach oben derb und gründlich zu. Kesselhaube, Harnischkragen, Brustpanzer, Arm- und Schenkelschienen, rote Strümpfe, breite Schuhe, nichts fehlte. Aber nicht diese Tracht, die er zur Genüge kannte, fesselte den Feldherrn, sondern der auf einem Stiernacken sitzende Kopf. Kleine blaue, kristallhelle Augen, eingezogene Stumpfnase, grinsender Mund, blonder, krauser Knebelbart, braune Farbe mit rosigen Wangen, Ohrringe in Form einer Milchkelle, und ein aus Redlichkeit und Verschmitztheit wunderlich gemischter Ausdruck. Pescara wußte gleich, mit dem Gesichtergedächtnis des Heerführers, daß er diesen kleinen, breitschultrigen, behenden Gesellen, dessen schwarzgelbe Hose den Urner bedeutete, schon einmal gesehen habe. Aber wann und wo? Da schmerzte ihn plötzlich die Seite, als empfinge er einen Stich, und jetzt wußte er auch, wen er da vor sich hatte: es war der Schweizer, der ihm bei Pavia die Brust durchbohrt. Kein Zweifel. Den Lanzenstoß des neben ihm an die Erde Geduckten empfangend, hatte er einen Moment in dieses kristallene Auge geblickt und diesen Mund vergnüglich grinsen gesehen. Nach der Erkennung machte das unerwartete Wiederfinden auf den Feldherrn weiter keinen Eindruck, und mit freundlicher Miene fragte er die Äbtissin, die jetzt neben ihm stand, um ihn zu Donna Viktoria abzuholen, wer das gemalt hätte. Sie antwortete, die Augen flüchtig niederschlagend: »Zwei Mantovaner, begabte junge Leute, aber von bedenklichen Sitten, die das Kloster gerne wieder scheiden sah.«


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