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Aber für uns ist das merkwürdigste von all diesen sich bewegenden Phänomen das der Barbarouxschen »sechshundert Marseiller, die zu sterben wissen.«
Bereitwillig auf Barbaroux' Bitte eingehend, hat die Marseiller Munizipalität diese Leute zusammengebracht. Am Morgen des 5. Juli sagt der Stadtrat: » Marchez, abattez le tyran, marschiert, und schlagt den Tyrannen nieder«! Dampmartin, II, 183. Und sie, mit ebenso grimmigem » marchons«, marschieren. Lang ist der Weg, zweifelhaft die Sendung; enfants de la patrie, möge ein guter Genius euch geleiten! Ihr eigenes wildes Herz und der Glaube, den es hat, wird sie geleiten, und ist nicht dies die Mahnung eines Genius, eines mehr oder weniger guten? Fünfhundertsiebzehn tüchtige Leute, mit Führern für je fünfzig und zehn, wohl bewaffnet, die Muskete 123 auf der Schulter, den Säbel an der Seite; ja, auch drei Kanonen führen sie mit sich; denn wer weiß, welche Hindernisse in den Weg treten mögen. Da giebt es Munizipalitäten, die vom Kriegsminister gelähmt und beherrscht sind, Kommandanten mit dem Befehl, sogar Bundesfreiwillige anzuhalten; gut ist's, wenn vernünftige Gründe ein Stadtthor nicht öffnen, eine Petarde zu haben, die es in Stücke zerschmettert! Sie haben ihre sonnige Phokäerstadt und ihren Seehafen mit ihrer Blüte und ihrer geschäftigen Hast verlassen! die menschenwimmelnde Promenade, die hohen Baumreihen, die pechigen Schiffswerfte, die Mandeln- und Olivenhaine, die Orangenbäume sogar auf den Hausdächern, und die weißen, schimmernden Bastiden, die die Hügel krönen, das alles liegt hinter ihnen. Sie ziehen ihren wilden Weg vom äußersten Ende französischen Landes durch unbekannte Städte, einem unbekannten Schicksal entgegen; mit einem Zweck, den sie kennen.
Sehr verwundert über dieses Phänomen, wie in einer friedlichen Handelsstadt so viele Haushalter ihr Gewerbe und Handwerkszeug hinwerfen, sich mit Kriegswaffen umgürten – und sich auf den Weg machen, zweihundert Meilen weit, um »den Tyrannen niederzuschlagen,« – gar sehr erstaunt, sucht man in allen historischen Büchern, Schriften und Zeitungen nach einigem Licht darüber; doch leider vergeblich. Gerüchte und Schrecken gehen diesem Anmarsche voraus und tönen immer noch an unser Ohr; der Marsch selbst ist ein unbekanntes Ding geblieben. Weber hat an den Hinterthüren der Tuilerien gehört, diese Marseiller seien forçats, Galeerensklaven und reine Schurken; daß, als sie durch Lyon marschierten, die Leute ihre Läden geschlossen hätten; – auch, daß ihre Zahl bei viertausend betrage. Ebenso unbestimmt ist Blanc Gilli, der gleichfalls etwas von forçats und Gefahr der Plünderung schwatzt. Siehe Barbaroux, Mémoires Note auf p. 40, 1. Forçats waren sie nicht, auch gab es weder Plünderung noch Gefahr einer Plünderung. Leute von geregeltem Leben oder bestgefüllter Börse konnten sie wohl kaum sein; das einzige, was von ihnen gefordert worden, war, daß sie »zu sterben wüßten.« Freund Dampmartin sieht sie mit seinen eigenen Augen, »allmählich« durch Villefranche im Beaujolais, sein Quartier, marschieren; doch sah er sie nur aufs unbestimmteste, da er in der That von vornherein gegen sie eingenommen und zudem selber eben im Sinne hatte zu marschieren – über den Rhein. Groß war 124 sein Erstaunen über einen solchen Marsch, ohne Sold oder Übereinkommen, ohne Station oder Ration; übrigens waren es »dieselben Leute, die er früher gesehen hatte,« in den Unruhen im Süden, »recht höflich;« seine Soldaten ließen sich nicht abhalten, ein wenig mit ihnen zu plaudern. Dampmartin, II, 183.
So unbestimmt sind diese Berichte. Moniteur, Histoire parlementaire schweigen so gut wie ganz; die schwatzhafte Geschichte sagt nichts, wo man sie gerade am meisten zu hören wünscht, wie es gewöhnlich der Fall! Wenn je verständige Wißbegierde Einblick in die Marseiller Ratsbücher erhalten sollte, wird sie nicht vielleicht dieser seltsamsten aller Munizipalprozeduren nachforschen? Und wird sie sich nicht verpflichtet fühlen aufzufrischen, was der Strom der Zeit von den glaubwürdigen oder nicht glaubwürdigen Biographien dieser 517 noch nicht unwiederbringlich verschlungen hat?
So wie es ist, bleiben diese Marseiller unvernehmbar, unerkennbar, eine düster blickende Masse voll grimmigen Feuers, die da, ein gar merkwürdiger Anblick, dahinzieht im heißen, schwülen Wetter. Sie ziehen dahin, mitten unter unendlichem Zweifel und düsterer Gefahr; sie allein nicht zweifelnd. Das Schicksal und das feudale Europa haben sich entschieden und kommen von außen hereingestürmt. Sie auch haben sich entschieden und marschieren im Innern. Staubbedeckt, mit spärlichen Erfrischungen, rücken sie mühsam daher; doch unermüdlich und ohne von ihrer Bahn sich ablenken zu lassen. Solch ein Marsch wird berühmt werden. Den Gedanken, der stimmlos in dieser düstern Masse arbeitet, hat ein begeisterter tyrtäischer Oberst, Rouget de Lisle, der noch auf Erden wandelt, A. D. 1836. in grimmig feurige Melodie und Rhythmus übertragen, in seine Hymne oder den Marsch der Marseiller; die glücklichste derartige Komposition, die je verbreitet worden. Ihr Klang wird das Blut in den Adern prickeln machen, und ganze Armeen und Versammlungen werden sie singen, mit Augen voll Thränen und Feuer, mit Herzen, die Tod, Despoten und Teufel trotzen.
Man sieht wohl, diese Marseiller werden zu spät kommen zum Bundesfest. Wahrlich sind's auch nicht Marsfeldschwüre, was sie sich als Ziel gesteckt haben. Sie haben eine ganz andere That zu vollbringen, sie haben die gelähmte Nationalexekutive in Thätigkeit zu bringen. Sie haben jeden »Tyrannen 125 niederzuschlagen,« oder jeden Märtyrer-Fainéant, der die Nationalexekutive lähmt; zu schlagen und geschlagen zu werden, ihren Lebenszweck erfüllen und zu »sterben wissen«.