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Die schaurige Nacht

Der Scheich musterte den Gefangenen, den zwei seiner Leute von Norden angeschleppt brachten, mit mißbilligendem Blick. Wo war Abdul Kamak, sein ehemaliger erster Unterführer? Die Leute waren wohl verrückt, mit einem verwundeten Engländer so viel Federlesen zu machen! Warum hatten sie ihm nicht gleich auf der Stelle den Laufpaß gegeben oder besser ihn einfach niedergeknallt? Ein Händler, ein armer Schlucker – das sah man doch auf den ersten Blick. Wahrscheinlich hatte er sein eigentliches Revier genügend abgegrast und sich nun im fremden Gebiete verirrt. Keinen Pfennig war der Kerl wert.

Wer sind Sie überhaupt? forschte der Scheich schließlich auf Französisch, und seine Stirn zog sich in schlimme Falten.

Ich bin der Mr. Morison Baynes aus London, gab der Gefangene mit sichtlicher Gespreiztheit zurück. Der Name und wie der Mann das »London« betonte ... der Scheich konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß doch mehr hinter dem Gefangenen steckte, als er zunächst angenommen hatte. Vielleicht war hier wieder etwas mit Lösegeld zu verdienen? Der Scheich beschloß also, der Sache auf den Grund zu gehen, natürlich ohne sich seinen Stimmungsumschwung irgendwie anmerken zu lassen. Es hieß erst einmal weiter vorfühlen.

Wie kommen Sie dazu, in meinem Lande zu wildern? fuhr der Scheich los.

O, ich hatte natürlich keine Ahnung davon, daß Sie über Afrika zu verfügen haben, erwiderte Morison in schmeichelndem, unterwürfigen Ton. Ich war bloß auf der Suche nach einem jungen Mädchen, das seinen Freunden über Nacht geraubt worden ist. Der Entführer hat mich angeschossen ... da! Ich trieb in einem Kanu stromabwärts, und auf dem Rückweg nach dem Lager des Übeltäters haben mich Ihre Leute überfallen.

Ein junges Mädchen? fragte der Scheich. Ist es dies etwa? Und er zeigte mit seiner Linken nach den Büschen am Palisadenzaun.

Baynes wandte sich. Seine Augen wurden groß und weit. Das Mädchen, das mit übereinandergeschlagenen Beinen da drüben im Grase hockte und ihnen den Rücken zudrehte, war ... Meriem.

Meriem! schrie Baynes laut und wollte zu ihr hinübereilen. Doch ein Araber packte ihn am Arm und stieß ihn mit eiserner Faust zurück. Das Mädchen war sofort aufgesprungen. Wer hatte sie so gerufen?

Morison! Morison! rief sie zurück. Auf den ersten Blick hatte sie ihn erkannt.

Schweig! Und bleibe ja hier, du Christenhund, fuhr der Araber dazwischen. Haha! Sie sind also der saubere Herr, der mir damals meine Tochter entführte?

Ihre Tochter? meinte Baynes mit offensichtlicher Verwunderung. Das Mädchen ist Ihr Kind?

Es ist meine Tochter und damit basta! brummte der Araber. Für einen Ungläubigen ist sie jedenfalls nicht zu haben, verstanden! Sie Mann von England, S ... i ... e ... den Tod haben Sie verdient. Können Sie zahlen, was ich verlange, will ich Sie noch einmal laufen lassen.

Baynes war noch immer ganz in Meriems Bann. Er hatte sie in Hansons Lager vermutet – und nun war sie hier? Wie konnte das überhaupt möglich sein? Hanson ließ sich doch nicht so leicht an der Nase herumführen. Hatte der Araber sie dem Schweden mit Gewalt abgejagt, oder war sie durch irgendeinen glücklichen Zufall entkommen und hatte sich dann aus freien Stücken wieder zu diesem Araber geflüchtet, der sie seine »Tochter« nannte? Könnte er auch nur ein Wort mit ihr sprechen, er würde sonst etwas dafür geben. Wenn sie hier tatsächlich in Sicherheit war, würde er gar nicht versuchen, sie dem Araber abspenstig zu machen und sie zu ihren Freunden auf der Farm zurückzubringen. Und sie gar nach London »locken«, ohne daß sie selbst ihn aus voller Überzeugung begleiten wollte? Nein, derartige Experimente würde er nicht mehr machen.

Nun, wie wird's? fragte der Scheich bestimmt.

Oh – verzeihen Sie! Ich dachte gerade an etwas anderes. Natürlich, natürlich. Bezahle alles glatt. Wieviel Pfund bin ich wert?

Der Scheich nannte eine Summe, die Morisons Erwartungen angenehm enttäuschte. Er hatte im stillen mit einem viel höheren Betrage gerechnet, nickte aber jetzt selbstverständlich und bekräftigte mit einer Handbewegung, daß er völlig einverstanden und zu zahlen bereit sei. Ebenso würde er auch ohne weiteres jeder anderen Forderung zugestimmt haben, und wäre sie höher gewesen als sein gesamtes Guthaben auf der Bank drüben in England. Er hatte sich nämlich vorgenommen, überhaupt nichts zu bezahlen. Das einzige, was noch Rettung versprach, war seiner Ansicht nach unbedingtes Eingehen auf die Wünsche des Scheichs. Ehe das Geld dann wirklich in bar verfügbar wurde, mußte er aber auf alle Fälle Mittel und Wege zur Flucht – und wenn es ihr Wille war, auch zur Befreiung Meriems – gefunden haben. Der Araber hatte ihm vorhin selbst gesagt, daß das Mädchen seine Tochter sei. Morison fühlte, daß dieser Punkt Meriems weitere Haltung stark beeinflussen mußte, wenn er den Tatsachen entsprach. Ob sie sich von hier wegsehnte? Er hätte es zu gern gewußt, obwohl er die Überzeugung nicht los wurde, daß dieses junge bildhübsche Weib in dieses schmutzige Dorf und zu dem ungebildeten Araber wie die Faust aufs Auge paßte, ja, daß sie die Behaglichkeit und das freie menschenwürdige Leben aus der Farm in Gesellschaft von gleichgesinnten gütigen Menschen schwer vermissen mußte. Und an alledem war er schuld! Er gedachte wieder seiner unverantwortlichen Doppelzüngigkeit, die das ganze Unheil heraufbeschworen hatten. Das Blut schoß ihm vor lauter Beschämung in den Kopf ...

Der Scheich schien seinen Plan fertig zu haben und scheuchte den Gefangenen aus seinen Gedanken auf. Baynes mußte augenblicklich einen Brief an den britischen Konsul in Algier schreiben, den der Scheich in fließendem Französisch von A bis Z diktierte, und zwar in allen Punkten derart raffiniert ausgeklügelt, daß der Gefangene ohne weiteres erkannte, daß der alte Araberschurke nicht zum ersten Male in einer derartigen Angelegenheit mit den britischen Behörden verhandelte. Baynes machte noch allerhand Einwände, zumal der Brief an den Konsul in Algier gerichtet wurde. Er suchte dem Scheich zu erklären, daß dieser Weg sehr umständlich sei, ja daß es so fast ein Jahr dauern könne, bis das Geld einträfe. Doch der Scheich wollte nichts von Baynes' Vorschlag wissen, nach dem ein Bote unmittelbar in den nächsten Küstenort geschickt werden sollte, um von dort aus Morisons Wünsche an seine Londoner Angehörigen kabeln zu lassen und so die telegraphische Anweisung der gewünschten Summe binnen kurzem durchzusetzen. Nein, der Scheich war klug und vorsichtig. Er hatte seine langjährigen Erfahrungen und hielt nichts von Neuerungen, die undurchsichtig waren und womöglich gar mit allerhand unerwünschten Überraschungen endeten. Die ganze Geschichte eilte ja auch nicht. Ob er das Geld in einem Jahr oder vielleicht sogar erst in zweien bekam, war ihm im Grunde gleich. Im übrigen wußte er, daß in sechs Monaten gewöhnlich alles perfekt war.

Der Scheich wandte sich jetzt zu einem der Araber, die hinter ihm standen. Es schien, als gäbe er Weisung, wie der Gefangene weiterhin zu behandeln sei, denn er zeigte mit dem Daumen mehrmals auf Baynes, der Arabisch weder sprach noch verstand.

Der Araber verneigte sich schließlich vor seinem Gebieter und winkte Baynes, er solle mitkommen. Der Engländer blickte fragend zu dem Scheich auf, gleich als müsse er erst noch von ihm selbst Näheres über die weitere Gestaltung seiner Lage hören; doch der Alte nickte nur ungeduldig. Mr. Morison stand also auf und folgte dem Beauftragten des Scheichs nach einer Eingeborenenhütte in der Nähe der äußeren Lederzelte. Er wurde dann einfach mit in die dumpfe hintere Behausung hineingezerrt. Der junge Araber trat zum Eingang zurück und rief ein paar schwarze Burschen heran, die vor ihren eigenen Hütten herumlungerten und auf der Stelle erschienen. Man fesselte Baynes, wie vom Scheich befohlen, an Händen und Füßen, ohne auf die energische Verwahrung des Engländers gegen eine derartig harte Freiheitsberaubung irgendwie zu reagieren. Als er indessen merkte, daß die Schwarzen und der Araber ihn anscheinend ebensowenig verstanden wie er Arabisch oder das Kauderwelsch der Eingeborenen, gab er für heute wenigstens auch die letzte Hoffnung auf Milderung seiner Haft auf, zumal die Kerle alsbald verschwanden.

So lag er denn wehrlos und völlig im ungewissen über sein weiteres Schicksal am Boden. Schrecklich, nur daran zu denken, was ihm in den langen bangen Monaten alles passieren konnte, ehe seine Freunde überhaupt erfuhren, daß er Geld brauchte, geschweige denn, ehe wirksame Hilfe dieser Marter ein Ende machte. Hoffentlich schickten sie wenigstens sofort das Lösegeld! Er hätte das Vielfache des Geforderten gerne bezahlt, wenn man ihn bloß aus dieser stinkenden Höhle herausließ, wiewohl er vorhin seinen Freunden drüben in London hatte kabeln lassen wollen, sie sollten kein Geld schicken, sondern sich sofort mit den britischen Kolonialbehörden von Westafrika in Verbindung setzen und eine Strafexpedition herschicken.

Wie Mr. Morison Baynes seine feine Nase rümpfte! Abscheulich diese Hütte mit ihren dumpfen, feuchten Dünsten, dem fauligen Gras, dem undefinierbaren Schmutz! Ein Schweinestall war nichts dagegen.

Doch es sollte noch besser kommen! Er hatte kaum ein paar Minuten langgestreckt am Boden gelegen, so wie man ihn verlassen hatte, als es ihn auch schon an den Händen, am Hals und auf dem Kopf heftig juckte. Mühsam richtete er sich in die Höhe, als ob sich beim Sitzen irgend etwas an diesem unheimlichen Überfall ändern könnte. Zu seinem großen Entsetzen wurde die Plage nur noch schlimmer und breitete sich rasch über seinen ganzen Körper aus. Es war furchtbar, obendrein diesem Ungezieferschwarm völlig machtlos gegenüberzustehen. Die Hände waren ihm hinter dem Rücken zusammengeknebelt!

Bis zur Erschöpfung zerrte und wand er sich in seinen Fesseln stundenlang. Dann kam die Nacht. So ganz aussichtslos schien ihm sein Unterfangen nicht. Vielleicht konnte er doch mit der Zeit erreichen, daß er eine Hand wenigstens frei bekam! Man hielt es anscheinend auch nicht einmal für nötig, ihn mit Essen und Trinken zu versorgen. Ob sie vielleicht meinten, er könne ein Jahr lang von der Luft leben?

Das Ungeziefer war noch immer an der Arbeit, wenn er auch mit der Zeit nicht mehr so sehr unter den fortwährenden Attacken dieser Plagegeister litt. Er sah darin wenigstens ein gutes Zeichen. Der Körper wehrte sich gegen die ungewohnte Mißhandlung, bis er gleichsam immun oder zum mindesten abgestumpft war.

Immer wieder suchte Baynes weiterhin, wenn auch nur mit halber Kraft, seine Fesseln zu lockern. Und dann kamen ... die Ratten! Das Ungeziefer war schon ein Kapitel für sich – aber die Ratten, nein, das war ekelhaft, gemein, unerträglich. Quiekend und einander beißend jagten sie durch die Hütte, an den Wänden entlang, über ihn weg ... und schließlich machte sich solch ein widerliches Vieh gar noch über eines seiner Ohren her. Mit einer lauten Verwünschung riß Baynes seinen Oberkörper in die Höhe. Die Ratten stoben auseinander, als er die gefesselten Beine nach links und rechts schwenkte. Mit fast übermenschlicher Anstrengung brachte er sich nach vielen vergeblichen Versuchen auf die Knie und dann sogar so weit, daß er stehen konnte. Stehen? Er taumelte, zitternd vor Schwäche und in kalten Schweiß gebadet.

Mein Gott! murmelte er vor sich hin. Was muß ich getan haben, daß ich es verdiene, hier ... Er schwieg. Wie war das doch? Er hatte zu büßen, er hatte ...

Er dachte mit einem Male wieder an das Mädchen, das vielleicht in ähnlicher Weise in einem Zelt dieses verrückten Dorfes schmachtete oder ...

Ja, er hatte dies Los verdient. Zähneknirschend gestand er sich ein, daß er erntete, was er gesät. Er durfte sich nicht mehr bedauern. Es geschah ihm ganz recht so.

Plötzlich drangen Stimmen an sein Ohr. Aufgeregtes Durcheinander, eine weibliche Stimme war herauszuhören. Sollte Meriem wirklich mit drüben im nahen Zelt sein? Man sprach Arabisch, er konnte kein Wort davon verstehen, aber es klang, als ob Meriem dabei wäre.

Wie sollte er ihr begreiflich machen, daß er ihr so nahe war? Er überlegte hin und her. Gelang es ihm, sich seiner Fesseln über Nacht noch zu entledigen, konnte man doch vielleicht zusammen sein Heil in der Flucht suchen, in der Flucht auf Leben und Tod freilich. Er fragte sich auch, ob sie überhaupt Lust hatte, mit ihm zu fliehen. Das war es, was ihm jetzt am meisten Kopfzerbrechen machte. Hing das Mädchen wirklich an dem Scheich und den Leuten hier? Er mußte sich unbedingt zuerst Klarheit über diesen Punkt verschaffen; denn wenn sie gewissermaßen das »Nesthäkchen« des mächtigen Scheichs war, würde sie kaum die alte Heimat wieder verlassen wollen, wenigstens nicht ohne die Zustimmung des Scheichs.

In der Farm hatte Baynes oft dabeigesessen, wenn Meriem, von »My Dear« auf dem Flügel begleitet, das alte schöne » God save the King« sang. Er summte also diese Melodie jetzt ziemlich laut. War Meriem drüben im Zelt, würde sie irgendwie antworten.

Lebe wohl, lebe wohl, Morison! rief sie laut, und sich fast überstürzend fuhr sie fort: Wenn Gott gnädig ist, bin ich tot, ehe der Morgen graut. Lebe ich noch, bin mehr als tot. Schlimm, schlimm ...

Dann hörte Baynes eine wütende Männerstimme, und darauf klang es, als sei da drüben eine wüste Rauferei im Gange. Er wurde vor Entsetzen leichenblaß. Er zerrte und riß wie ein Wahnsinniger an seinen Fesseln. Ah ... sie gaben nach! Schon war eine Hand frei. Warte nur, alter Freund ... die andere Hand. Da, jetzt haben wir dich bald. Er bückte sich, löste die Stricke von den Füßen, das Letzte, was ihm den Weg zur Rache versperren sollte. Frei! hinaus aus diesem Stall ... da, der Ausgang. Meriem, noch ein paar Sekunden ...

Als er sich halbgebückt in die Nacht hinaustastete, sprang ihm ein schwarzer Hüne entgegen.

*

Wenn es Korak besonders eilig hatte, verließ er sich von jeher in erster Linie auf sich allein, das heißt, er holte aus seinen Muskeln heraus, was Gewandtheit und Kraft in ihrem oft erprobten Wechselspiel hergaben. Er hatte sich also auch heute von seinem alten guten Tantor mit einem freundlichen Klaps verabschiedet, nachdem auf seinem Nacken der Strom wieder durchquert war, und somit die Wanderung nach dem Dorfe des Scheichs ohne wesentliche Hindernisse vor sich gehen konnte. Der Affenmensch sputete sich und nahm deshalb den altgewohnten Weg auf halber Höhe der Bäume, und zwar in südlicher Richtung, wohin nach der Aussage des Schweden der Scheich mit Meriem abgezogen war.

Es war schon Nacht, als er den Palisadenzaun erreichte, denselben, über den er damals von seinem Baumversteck aus hinweggesprungen war, als er Meriem aus dem »Gefängnis«, in dem sie ihre Kindheit vertrauert hatte, befreite. Man hatte den Zaun allerdings inzwischen wesentlich verstärkt, wie Korak sofort bemerkte. Außerdem waren die schönen breiten Äste jenes Baumriesen, die ihm als Brücke ins Dorf so gute Dienste geleistet hatten, abgehauen. Doch was kümmerte das einen Korak? Die Menschen mochten sich verbarrikadieren, wie sie wollten: Er wußte sich immer zu helfen. Er nahm sein Wurfseil, das am Leibgurt hing, schleuderte es nach oben, daß die Schlinge einen der spitzen Palisadenpfähle umklammerte, und im nächsten Augenblick zog er sich, die Beine gegen den Holzwall gestemmt, hinauf. Zuerst spähte er nur vorsichtig aus, ob die Luft drüben rein war. Niemand da, soweit sein scharfes Auge reichte. Also los! Ein Ruck – und er sprang leicht wie eine Katze hinüber. Es galt, wie ein Dieb in der Nacht auf leisen Sohlen erst einmal auszukundschaften. Geruch und Gehör hatten die Hauptarbeit. Er wandte sich nach den Araberzelten zu und schlich an den Rückwänden entlang. Wie ein Schatten unter lauter Schatten schlängelte er sich langsam und doch sicher vorwärts. Nicht einmal die Hunde schlugen an, und das wollte etwas heißen! Er holte tief Atem. Tabak? Aha, die Araber mochten noch schmauchend und qualmend vor ihren Zelten hocken. Er hörte lautes Lachen. Wehe, das sollte ihnen vergehen, wenn ...

Von der anderen Seite des Dorfes drang mit einem Male eine vertraute Melodie an sein Ohr. » God Save the King«? Korak war baff. Ein Mann summte » God Save«? Hier in diesem Arabernest? Der junge Engländer vielleicht, den er am Strom neulich aufgelesen hatte? Dann fuhr er bestürzt zusammen. Wer antwortete da? Die Stimme, die ... Kein Zweifel, das war Meriem. Auf zur Tat also! Und der Töter sprang geduckt zum Angriff. Wie Numa in der Nacht.

*

Nach der Abendmahlzeit hatte sich Meriem in dem für die Frauen bestimmten Abteil des Zeltes auf ihrem Strohsack zur Ruhe niedergelegt. Die »Wand«, die dieses sonst bescheidene »Gemach« von dem geräumigeren Wohnraum des Scheichs trennte, bestand aus ein paar prachtvollen Perserteppichen. Alles war so geblieben, wie einst, als Meriem mit Mabunu in diesem Winkel hauste. Der Scheich hatte nie schöne Frauen bei sich gehabt, und daran hatte sich anscheinend auch in den langen Jahren bis jetzt nichts geändert. Mabunu wies Meriem ihren alten Platz neben ihrem Lager an.

Dann kam plötzlich der Scheich ins Zelt und schlug den Teppichvorhang nach dem dunklen Frauengemach leicht zurück.

Meriem! rief er bestimmt. Komm einmal herüber!

Das Mädchen gehorchte und ging zum Scheich. Ein kleines Feuer machte den Raum hell und freundlich. Ali ben Kadin, der Stiefbruder des Scheichs, hockte rauchend auf einem Teppich, der Scheich war stehen geblieben.

Die beiden hatten einen gemeinsamen Vater. Mütterlicherseits stammte Ali ben Kadin indessen von einer Sklavin, und zwar von einer Negerin der Westküste. Ali ben Kadin war übrigens schon ein alter Knabe, obendrein von einer verheerenden und zehrenden Krankheit derart gezeichnet, daß einen beim ersten Blick schon das Entsetzen packen mußte.

Ali nahm Meriem sofort aufs Korn, als sie erschien. Ein gewöhnliches Lächeln verzerrte sein Gesicht zu einer unzweideutigen Grimasse.

Der Scheich zeigte mit dem Daumen auf Ali ben Kadin und meinte, zu Meriem gewandt:

Ich werde alt. Meine Tage sind vielleicht nur noch gezählt – und so habe ich dich für meinen Bruder Ali ben Kadin bestimmt.

Das war alles. Ali ben Kadin erhob sich und schritt gewichtig auf sie zu. Meriem wich entsetzt zurück, doch ihr neuer Herr und Gebieter bekam sie mit raschem Griff am Handgelenk zu fassen.

Du willst nicht? Komm ja mit, sonst ... Und er zwang sie, ihm in sein eigenes Zelt zu folgen.

Der Scheich lachte hellauf, als die beiden fort waren. Wenn ich sie in ein paar Monaten nach dem Norden abschiebe, murmelte er in den Bart, wird die Gesellschaft da oben endlich begreifen lernen, was es heißt, den Tod des Schwestersohnes von Amor ben Khatur büßen zu müssen. Haha, die werden sich nicht wieder solche Scherze erlauben, diese ...

Meriem hatte in Ali ben Kadins Zelt bald durch Bitten, bald durch Drohungen das Fürchterliche abzuwenden gesucht, das die Nacht über sie hereinbrechen lassen mußte, doch vergeblich. Erst verlegte sich der alte Mischling auf zärtliches Werben um die Gunst seines neuen Weibes; als Meriem aber aus ihrer Verachtung und ihrer Abscheu keinen Hehl machte, ja sich sogar offensichtlich jeder geringsten Zudringlichkeit widersetzte, stürzte er sich auf sein Opfer, um es mit derberen Mitteln unter seinen Willen zu beugen. Zweimal entwand sie sich seinen Armen, und als sie gerade vor dem atemlosen Peiniger nach dem Ausgang zu zurückwich, drang Baynes' Stimme an ihr Ohr. Sie ahnte sofort den Zusammenhang. Ein Zeichen für sie? Kein Zweifel ... und sie gab ihm die Antwort, die ihm ihr geängstetes Herz und den ganzen Ernst der Lage enthüllte. Doch schon zog Ali ben Kadin sie in das »Frauengemach« des Zeltes, wo drei Negerinnen mit völlig gleichgültiger Miene und stumm der Tragödie entgegensahen, die sich nun vor ihren Augen abspielen sollte.

*

Als Mr. Morison Baynes von dem schwarzen Riesen so unerwartet in seinem Vordringen nach Meriems Zelt aufgehalten wurde, war mit einem Schlage das wilde Tier auch in ihm erwacht und bereit, unter Einsatz des Lebens das Unmöglichste zu wagen. Er fieberte vor Erbitterung, er warf sich mit der ganzen Wucht eines aufs äußerste gereizten und von rücksichtslosem Willen beherrschten Körpers über den schwarzen Burschen, der in letzter Minute den einzigen Plan vereiteln wollte, der ihm Sühne und Tilgung der Gewissensqualen verhieß. Die beiden wälzten sich am Boden. Der Schwarze suchte sein Messer zu erraffen, während Baynes ihn mit eisernem Griff an der Kehle würgte und so vorerst jeden Hilfeschrei seines Gegners erstickte.

Doch eine unvorsichtige Bewegung des jungen Engländers ließ dem Schwarzen Zeit, sein Messer zu ziehen. Im nächsten Augenblick schon spürte Baynes den scharfen Stahl in seiner Schulter, der Schwarze holte zu neuem Stoße aus – Baynes sah, daß er verloren war, wenn er nicht ...

Blitzschnell tastete seine Rechte nach links und rechts, indessen er noch mit der Linken dem gefährlichen Burschen die Kehle zupreßte. Da – ein Stein! Verzweifelt klammerten sich seine sehnigen Finger um die neue »Waffe« – und ehe der Schwarze es sich versah, sauste der Stein ihm auf den Schädel. Das Messer entsank seiner Hand. Der Schlag hatte seine Wirkung getan. Bewußtlos blieb der schwarze Hüne auf dem Kampfplatz, während Baynes sofort aufsprang und auf das Lederzelt zustürzte, aus dem er vorhin Meriems Angstschrei vernommen hatte.

Doch ein anderer war ihm schon zuvorgekommen: Korak, der Töter, nur mit Lendenschurz und Leopardenfell angetan, war just in jenem Augenblick hinter Ali ben Kadins Zelt aufgetaucht, als der Mischling sein Opfer vor sich her ins Frauengemach stieß. Ritz – ratz, und Koraks scharfer Dolch hatte einen fast mannshohen Eingang durch die Zeltrückwand gebahnt. Ein Sprung. Korak war drinnen und trat aufrecht und im vollen Glanze seiner Manneskraft auf den vor Schrecken fast gelähmten Ali ben Kadin zu.

Meriem war zur Seite gewichen. Ihre Augen leuchteten in stolzer, unaussprechlicher Freude, denn kein anderer als ihr langentbehrter Freund und Beschützer war auch diesmal wieder im letzten entscheidenden Augenblick gekommen, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Korak! Korak! jauchzte sie laut auf.

Meriem! kam die verhaltene Antwort zurück. Mehr sagte der Töter nicht, er hatte jetzt zu kämpfen. Die drei Negerinnen waren kreischend von ihren Schlafmatten aufgesprungen und hatten sich, trotzdem ihnen Meriem den Weg zu versperren suchte, durch die von Korak in der Zeltwand geschaffene Öffnung flüchten können. Es war also Eile geboten, wenn man nicht das ganze Dorf auf dem Hals haben wollte.

Wie Eisenklammern preßten sich Koraks Finger um die Kehle Alis. Dann blitzte der Dolch des Töters. Ali ben Kadin war gerichtet. Eben hatte sich Korak nach dem Frauengemach zurückgewandt, um Meriem seinen Gruß zu bieten, als ein Fremder, vom Kampf zerfetzt und mit zerzaustem Haar, von vorn ins Zelt hereinstürmte.

Morison! schrie das Mädchen.

Korak drehte sich um. Wer ...? Er ließ seine Arme sinken, die sich eben um Meriem, seine liebe Meriem von einst, in seligem Wiedersehensrausch hatten schlingen wollen. Er hatte vergessen ... ja richtig. Der junge Engländer ... die Lichtung ... küssen. Natürlich, hier war der andere im Recht, Und mit stummer Entsagung trat er beiseite.

In allen Gassen des Dorfes wogte indessen schon wilder Lärm. Die Negerinnen schienen gründlich alarmiert zu haben. Schon kamen die Stimmen näher – es war höchste Zeit, daß man sich aus dem Staube machte, wenn es überhaupt noch möglich war. Rasch! rief Korak, der die Gefahr am ersten in ihrer vollen Größe erkannte, dem verblüfften Baynes zu, der noch immer nicht zu wissen schien, ob ihm Korak als Freund oder als Feind gegenüberstand. Ich muß ein Machtwort sprechen. Da, nehmen Sie Meriem mit! Gehen Sie immer dicht hinter den Zelten entlang! Hier mein Wurfseil. Sie können sich damit gut über den Palisadenwall in die Freiheit hinüberretten!

Und du, Korak? Was wird mit dir selber? warf Meriem mit angstgeweiteten Augen ein.

Ich bleibe selbstverständlich, erwiderte der Affenmensch bestimmt. Ich habe noch mit dem Scheich zu tun!

Meriem wollte etwas einwenden, doch der Töter zog die beiden nach der Zeltrückwand und schob sie hinaus. Es war, als ständen sie ganz unter dem Zwange eines überstarken Willens, der keinen Widerspruch duldete.

Seht zu, daß ihr schnell aus diesem Wespennest hinauskommt! hatte er im letzten Augenblick noch gesagt und sich dann unverzüglich nach dem eigentlichen Zelteingang begeben, um dort die nahenden Dorfbewohner gebührend zu empfangen.

Und der Affenmensch kämpfte, wie er vielleicht noch nie hatte kämpfen müssen. Allein, dieser Übermacht war auf die Dauer doch nicht zu trotzen. Man stürmte mit immer neuer Erbitterung an, bis der Tapfere die Waffen strecken mußte. Man fesselte ihn und brachte ihn unter schärfster Bewachung nach dem Zelt des Scheichs. Das einzige, was Korak erreicht zu haben glaubte, war die Sicherung des Rückzugs seiner Meriem, und mit dieser Gewißheit im Innern sah er allem Weiteren mit Gleichmut entgegen.

Der alte Araber betrachtete lange Zeit den Gefangenen, ohne mit einer Wimper zu zucken. Es machte ihm Spaß, diese verhaßte Kreatur zappeln zu lassen und dabei im stillen nachzugrübeln, mit welchen Martern er an diesem Fremdling, der ihm nun schon zum zweiten Male Meriem gleichsam aus den Händen gerissen hatte, sein Mütchen kühlen könne. Daß Ali ben Kadin im Kampfe gefallen war, machte ihm wenig oder eigentlich keine Kopfschmerzen. Der häßliche Stiefbruder hatte ihn so schon zum Überdruß immer an die noch häßlichere Sklavin seines Vaters erinnert ... Gut, daß mit Ali auch diese fatale Geschichte ein für alle Male erledigt war. Anders stand es mit dem Faustschlag, den er selber vor Jahren sich von diesem weißen Burschen hatte gefallen lassen müssen. Das war eine Beleidigung, eine Unverschämtheit, für die keine Strafe zu hart sein konnte. Ihm schoß das Blut in den Kopf, als ihm jetzt angesichts seines Gefangenen diese unwürdige Szene von damals wieder deutlich vor Augen stand.

Die peinliche Stille im Zelt wurde für einen Augenblick durch lautes Trompeten von der Dschungel her gebrochen. Tantor, der Elefant, meldete sich. Ein Lächeln huschte über Koraks Lippen, er wandte seinen Kopf nach der Richtung, aus der sein Freund soeben nach ihm gerufen – und im nächsten Moment entrang sich ein unheimlich wilder Aufschrei seiner Brust. Einer der schwarzen Krieger schlug ihm sogleich mit dem Speerschaft über den Mund, doch schien niemand auch nur zu ahnen, was jener Schrei des Gefangenen bedeuten mochte. – Tantor horchte gespannt auf, als seine Riesenohren Koraks Stimme vernahmen. Dann trottete er dicht an den Palisadenzaun heran, schwenkte seinen Rüssel hinüber und schnupperte. Kein Zweifel, der Freund war hier. Sein Kopf stemmte sich wütend gegen den Holzwall, doch vergeblich. Man hatte sich gut verschanzt. Die dicken Pfosten gaben kaum ein paar Handbreit nach. –

Der Scheich schien sich endlich über das Maß der verdienten Strafe schlüssig zu sein. Er stand auf, zeigte auf den gefesselten Übeltäter und wandte sich an einen seiner ersten Unterführer. Der Kerl wird mir auf der Stelle verbrannt, befahl er. Am Gerichtspfahl. Verstanden?

Sofort schleppte man Korak nach dem freien Platz in der Mitte des Dorfes. Dort hatte der Marterpfahl von jeher als Sinnbild der höchsten Gerichtsbarkeit gestanden, wenn er auch ein derartiges Urteil, wie es der Scheich soeben gefällt, noch nicht erlebt haben mochte. Sklaven wurden freilich dort oft einmal vor aller Augen geprügelt, bis sie ohnmächtig oder tot am Pfahle hingen.

Korak war alsbald an diesem starken, in die Erde gerammten Pfosten festgeseilt. Trockenes Holz und Stroh wurden ringsum aufgeschichtet, und nach wenigen Minuten erschien der Scheich, um sich an dem Todeskampf seines Opfers zu weiden. Er hatte sich indessen geirrt, wenn er etwa meinte, daß Korak vor ihm um Gnade winseln würde! Die Flammen schlugen hoch – der Gerichtete verzog keine Miene.

Nur einmal noch erhob er seine Stimme zu jenem unheimlichen Ruf, wie man ihn vorhin im Zelte des Scheichs schon vernommen hatte; das war keine Angst, das war kein Jammern – nun, mochte er rufen, wen er wollte, dachten die Araber und achteten nicht weiter darauf, daß abermals ein Elefant fast unmittelbar nach Koraks Aufschrei draußen vom Dschungelsaum herübertrompetete.

Koraks Ruf, der ihm galt, und der Geruch von Menschen, die dem Dickhäuter verhaßt waren, weil sie ihm doch nie freundlich begegneten, ließen den Riesen Tantor vor Wut über die widerspenstige Holzbarrikade fast rasend werden. Er wankte etwa zwanzig Meter zurück, drehte sich wieder um, schwang seinen Rüssel nach oben und antwortete dem Freunde mit lautem Gebrüll. Er sollte wissen, daß sein Tantor kam. Dann senkte er seinen Kopf und warf sich mit der vollen Wucht seines Riesenleibes wie ein Sturmbock von Fleisch und Knochen und unwiderstehlicher Muskelkraft gegen den Palisadenwall.

Krachend barst der Holzwall an der Einbruchstelle, und Tantor stürmte durch die Bresche. Korak hörte alles genau; er wußte, was es zu bedeuten hatte. Die anderen im Umkreis schienen taub zu sein, sahen nur, wie die Flammen sich immer näher und näher an das gefesselte Opfer heranwälzten, und warteten auf den Höhepunkt dieses nächtlichen Dramas.

Ein Elefant, ein Riesenelefant! schrie mit einem Male ein Schwarzer, der schließlich doch stutzig geworden war, und stob kreischend davon. Allein Tantor war schon auf dem Plan. Neger und Araber schleuderte er beiseite oder zertrat er, soweit sie ihm den Weg in die Feuergarben um seinen Korak versperrten. Wohl haßte Tantor das Feuer. Aber er liebte den alten Kameraden – und das gab hier den Ausschlag.

Der Scheich schrie seinen Leuten zu, sie sollten die Gewehre holen. Er selber stürzte nach seinem Zelt, um sich zu bewaffnen. Doch Tantor war schon am Werk. Im Nu schlang sich sein Rüssel um Koraks Leib. Ein Ruck – und der Todgeweihte war samt dem Pfahl in Tantors rettendem »Arm«. Die Flammen waren indessen auch für Tantor eine Höllenqual, denn seine Haut ist trotz ihrer Dicke gegen Feuer furchtbar empfindlich. Kein Wunder also, daß der Riese in dem Bestreben, seinen Freund zu befreien und anderseits aber auch möglichst rasch der sengenden Glut den Rücken kehren zu können, nicht gerade »sanft« zupackte, ja den Affenmenschen fast erdrückt hätte. Mit der kostbaren Last in seinem hocherhobenen Rüssel raste Tantor wieder zu der Bresche im Palisadenwall zurück, durch die er den Vorstoß begonnen hatte. Schon stürzte der Scheich mit schußbereitem Gewehr aus seinem Zelt dem Ungetüm nach, das so unerwartet das ganze Dorf in wilder Panik zerstreut hatte. Er legte an und gab Feuer. Doch der Schuß saß nicht so, wie der Scheich gedacht haben mochte. Tantor machte eine scharfe Wendung, und im nächsten Augenblick zermalmten seine Riesenfüße den heimtückischen alten Schurken, der so vieles auf dem Gewissen hatte, zermalmten ihn, wie wir vielleicht oft zufällig eine Ameise, die im Walde unseren Weg kreuzt.

Die Bahn war frei – und Tantor, der Elefant, schritt langsam mit seiner Bürde in die Dschungelnacht.


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