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Tantor schreitet durch die Waldnacht

Meriem und Bwana saßen am nächsten Tage auf der Veranda, als in der Ferne ein Reiter auftauchte, der von der Ebene her gerade auf das Landhaus zuzuhalten schien. Bwana legte seine Hand über die Augen, um die blendenden Sonnenstrahlen abzudämmen, und spähte scharf nach dem Ankömmling hinüber. Er war eigentlich sprachlos. Fremde traf man nur ganz selten hier in Zentralafrika, und die Schwarzen ringsum in weitem Umkreis kannte er alle ganz genau. Erschien wirklich einmal ein weißer Neuling, so konnte Bwana sicher sein, daß er sein Nahen erfuhr, wenn der Fremde noch hundert Meilen weg war. Jede »Regung« wurde dem mächtigen Bwana von den Schwarzen haarklein berichtet: Auf was für Tiere der Fremdling jagte und wie viele von ein und derselben Art, dann auch wie er sie tötete, denn Bwana duldete nicht, daß Blausäure oder Strychnin verwendet wurde. Schließlich auch, wie er seine Treiber und Träger behandelte.

Einige Europäer, die die Raubtierjagd als Sport betrieben, hatte der Engländer einfach zur Küste zurückjagen lassen, weil sie die ihnen beigegebenen Eingeborenen schlimmer als Hunde behandelt hatten. Ja einen, der in den zivilisierten Ländern bereits lange als Afrikajäger in bestem Ansehen stand, hatte Bwana ein für alle Male des Landes verwiesen, weil es sich herausgestellt hatte, daß der saubere Herr die stolze Beute von vierzehn Löwen nur mit vergiftetem Köder eingeheimst hatte.

Die Folge dieser strengen, aber durchaus richtigen Maßnahmen war, daß alle Weißen, die das Weidhandwerk auch weidgerecht betrieben, und alle Eingeborenen Bwana schätzten und für ihn durchs Feuer gingen. Sein Wort galt unbedingt, und auch da, wo vorher alles und jeder vogelfrei gewesen war. Kaum einem eingeborenen Führer oder Treiber im weiten Umkreis wäre es eingefallen, eine Übertretung der Vorschriften Bwanas zu dulden. Man paßte scharf auf die Fremden auf, und so war es eine Kleinigkeit, einen unerwünschten Aasjäger abzuschieben. Bwana brauchte nur zu drohen, daß die Schwarzen am anderen Tage nicht mehr mittun würden – und der Fremde wußte, was passierte, wenn er sich jetzt nicht zu einer anständigen Ausübung seines Sports herbeiließ.

Hier kam jetzt offenbar einer, der unbemerkt in Bwanas Gebiete geschlüpft war. Bwana konnte sich absolut nicht denken, mit wem er es zu tun hatte, doch sollte ihn das nicht davon abhalten, ihm vorerst die auf dem ganzen Erdenrund übliche Gastfreundschaft zu gewähren. Er begrüßte ihn also mit höflichen Worten, noch ehe jener vom Pferde gesprungen war, und nahm ihn am Tore in Empfang. Der Fremde war eine hochgewachsene, keineswegs unsympathische Erscheinung. Bwana schätzte ihn auf etwa dreißig, doch mochte ihn das blonde Haar und das glattrasierte Gesicht auch gut etwas jünger aussehen lassen, als er tatsächlich war. Was Bwana sofort bedenklich machte, war das Gefühl, den Fremden schon einmal kennen gelernt zu haben, ja sogar seinen Namen auf der Zunge zu haben, ohne daß seine Erinnerung ihm zu Hilfe kam. Soviel stand zunächst fest: Der Ankömmling war Skandinavier. Das sagte die ganze Figur und wurde durch den eigentümlichen nordischen Akzent bestätigt. Im übrigen gab er sich anscheinend ganz natürlich, und wenn er auch alles andere als zartbesaitet sein mochte, der Gesamteindruck war gut. Der Engländer war zudem gewohnt, Fremde in diesem wilden unzivilisierten Lande nur nach dem Wert oder Unwert ihrer Persönlichkeit zu beurteilen. Er fragte nicht nach Dingen, die drüben über den Ozeanen vielleicht ausschlaggebend waren, und nahm so lange das Beste von seinen Gästen an, bis sie sich nicht seiner Gastfreundschaft unwürdig erwiesen.

Es kommt an sich sonst nicht vor, daß ein Weißer hier unangemeldet erscheint, meinte Bwana, während er sich mit dem Fremdling nach dem eingezäunten Rasenplatz wandte, wo dessen Pferd zunächst untergebracht werden sollte. Meine Freunde, die Eingeborenen, halten mich immer gut auf dem laufenden.

Das liegt wahrscheinlich daran, daß ich von Süden her komme, warf der Fremde rasch ein. Sie würden sonst schon von mir gehört haben. Aber – nun, Sie wissen das selbst am besten – da drüben ist ja weit und breit kein Mensch.

Stimmt, im Süden ist man wie verraten und verkauft, bestätigte Bwana. Seit Kovudoo sein Land verließ, trifft man auf gut zweihundert bis dreihundert Meilen keine Menschenseele. Bwana wunderte sich gleichwohl im stillen, wie der Weiße sich ganz allein meilenweit durch die unbekannte, ungastliche Wildnis hierher durchgefunden hatte. Doch als hätte der Fremde geahnt, was seinem Gegenüber durch den Kopf gehen mußte, kam er auch schon mit einer passenden Erklärung einer Frage zuvor.

Ich war von Norden weit nach Süden vorgedrungen und wollte mir nun die Zeit teils mit Handel und teils mit Jagd vertreiben, fuhr der Fremdling in harmlos-leichtem Tone fort. Und – das Unglück wollte es, daß ich mich ganz gehörig verirrte. Mein Führer – leider der einzige meiner Safari, der früher schon einmal in dieser Gegend gewesen war – wurde krank und – starb. Eingeborene, die uns wieder auf den rechten Weg geholfen hätten, waren nirgends aufzutreiben, und so wandte ich mich eben wieder nordwärts. Über einen Monat lebten wir nur von dem, was uns vor die Büchse kam. Als wir gestern spät abends weit drüben am Dschungelrand in der Nähe einer Tränke unser Lager aufrichteten, hätte ich mir nicht im entferntesten träumen lassen, daß ich im Umkreis von tausend Meilen oder mehr noch einem Weißen begegnen könnte! Nun, Sie begreifen mein Erstaunen, als ich mich heute morgen zur Jagd auf mein Pferd schwinge und die Rauchfahnen von Ihrer Siedlung gewahre! Meinen Gewehrträger mit der frohen Kunde zurückjagen und ich selbst sofort hierher unterwegs – das war eines. Ich hatte natürlich früher schon von Ihnen gehört – jeder, der nach Zentralafrika kommt, wird gleich von allen Seiten über Ihre Persönlichkeit unterrichtet – und so möchte ich Sie nun bitten, mir für ein paar Wochen Aufenthalt und Jagdrecht in Ihren Bezirken zu gewähren!

Gern! stimmte Bwana sofort zu. Lassen Sie Ihre Leute das Lager unten am Fluß etwas unterhalb der Siedlung meiner schwarzen Leute aufschlagen und im übrigen fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause!

Man hatte inzwischen die Veranda betreten, und Bwana stellte Meriem und »My Dear«, die alsbald aus den inneren Gemächern auf der Bildfläche erschienen, den Fremden mit dem Namen vor, den dieser vorhin bei der Begrüßung genannt hatte.

Darf ich bekannt machen: Mr. Hanson. Hat Pech gehabt und sich in der Dschungel auf seiner Handelsreise nach dem Süden verirrt.

»My Dear« und Meriem verneigten sich leicht. Der Neuling schien sich in Gegenwart der beiden Damen nicht sonderlich wohl zu fühlen, und da Bwana dies sofort bemerkte und auch mit Rücksicht auf die vielleicht lange Abgeschlossenheit des Fremden von Kultur und Umgang mit zivilisierten Menschen verständlich fand, zog er sich mit seinem neuen Gast ins Herrenzimmer zurück, wo sich bei Whisky und Soda, die Mr. Hanson offenbar weniger genierten, die Unterhaltung noch eine Weile fortspann.

Die beiden hatten kaum die Veranda verlassen, als Meriem sich zu »My Dear« wandte.

Sonderbar, meinte sie, ich könnte darauf schwören, daß ich diesen Mr. Hanson früher schon einmal kennen gelernt habe. Wie verhext ... nein, aber es ist doch auch wieder unmöglich. Und damit ließ sie die Sache schließlich auf sich beruhen und grübelte nicht weiter darüber nach.

Hanson lehnte Bwanas guten Rat, sein Lager doch mehr in die Nähe der Farm zu verlegen, höflich ab und begründete dies vor allem damit, daß seine Leute zu Zänkereien neigten und so weiter draußen in der Dschungel besser aufgehoben wären. Er selbst würde hin und wieder in der näheren Umgebung zu treffen sein, aber er möchte nicht gern mit den Damen in Berührung kommen, da er gesellschaftlich nicht auf der Höhe sei – worüber Bwana natürlich herzlich lachte und es an ein paar spöttischen Bemerkungen über den »schüchternen« Herrn nicht fehlen ließ.

Hanson nahm in den nächsten Tagen an einigen Streifzügen der Herren von der Farm teil, und alle fanden, daß er seine Sache verstand und mit allen Feinheiten der Großwildjagd vertraut war. Hier und da blieb er auch einen ganzen Abend bei dem weißen Verwalter der Farm, mit dem er sich rasch angefreundet hatte. Offenbar lag ihm der zwanglose Verkehr mit diesem einfachen Mann mehr, als die abendliche Unterhaltung im Kreise der verwöhnten Londoner Gäste. In den Wirtschaftsgebäuden der Farm ging er also bei Tag und Nacht aus und ein, sooft und wann es ihm beliebte, und niemand nahm Anstoß daran. Es war, als gehörte er dahin. Besonders gern schien er sich auch in dem großen Blumengarten – »My Dears« und Meriems Freude und Stolz – zu ergehen. Als man ihm zum ersten Male dort begegnet war, hatte er auf Befragen ein wenig verlegen erklärt, warum ihn die nächtliche Schönheit dieses Gartens so besonders anziehe. Es seien, so meinte er, vor allem die prächtigen Blumen und Blüten der nordeuropäischen Flora, die »My Dear« mit Erfolg hier auf afrikanischen Boden verpflanzt hatte. Die hätten es ihm so angetan. Wie ein Stück Heimat sei ihm dieser Garten.

Lockten ihn nun wirklich die wundervollen Rosen und der Phlox, deren Düfte in der Nachtluft durch den Garten schwebten? Oder war es vielleicht jene unsäglich viel schönere Blüte, die im Mondschein spät abends zwischen den Beeten dahinwandelte ... die sonnengebräunte Meriem mit ihrem tiefschwarzen Haar? –

Hanson war nunmehr drei volle Wochen da. Er hatte seinen Gastgeber wissen lassen, daß er seinen Leuten jetzt Ruhe und Erholung von den unmenschlichen Strapazen der letzten bösen Dschungeldurchquerung gönnen wolle. Im stillen war er jedoch geschäftig am Werk und hatte seine Leute in zwei Trupps eingeteilt, deren Führung er zwei seiner Ansicht nach besonders vertrauenswürdigen Eingeborenen übertrug. Seine weiteren Pläne waren den Leuten von ihm alsbald mitgeteilt worden, und er hatte nicht versäumt, ihnen auch reiche Geschenke als Belohnung auszusetzen, für den Fall, daß sie bis zum erfolgreichen Ende des gewagten Unternehmens durchhielten. Einen Trupp beauftragte er, langsam und vorsichtig nordwärts zu marschieren und sich dabei an den Weg zu halten, der die großen Karawanenstraßen kreuzt, die von Süden her in die endlose Sahara münden. Der andere Trupp sollte sich direkt nach Westen wenden und dann auf dem jenseitigen Ufer des Flusses, der die Besitzungen des großen Bwana nach dieser Seite hin als natürliche Grenze abschloß, festes Lager beziehen.

Seinem Gastgeber erklärte er jetzt, daß er seine Safari langsam nach Norden abrücken lasse. Von dem anderen Trupp, den er westwärts geschickt hatte, erwähnte er nichts. Einige Tage später erzählte er indessen Bwana betrübt, daß ihm die Hälfte seiner Leute davongelaufen wäre. Er hatte nämlich erfahren, daß die Jagdgäste der Farm auch die Nordebene durchstreift hatten, und fürchtete daher, die geringe Stärke seiner Gefolgschaft könnte ihnen aufgefallen sein.

So standen die Dinge, als Meriem in einer schwülen Tropennacht nicht einschlafen konnte, sich wieder ankleidete und in den kühleren Garten hinunterhuschte. Mr. Morison hatte noch dazu gerade an diesem Abend erneut und noch etwas heftiger um ihre Gunst geworben, und so war es nicht zu verwundern, daß das Mädchen vor lauter Zweifeln und Ratlosigkeit nicht gleich Schlaf finden konnte.

Hanson lag ruhig hinter einem großen blühenden Strauch und blickte sinnend zum Sternhimmel, wie oft schon just an diesem Platze in der ganzen letzten Zeit. Worauf wartete er eigentlich? Er hörte das Mädchen kommen und stützte sich auf den einen Ellbogen, um besser beobachten zu können. Kaum zehn Meter von ihm weg stand sein Pferd. Die Zügel waren an einem Pfosten des Gartenzauns festgemacht.

Meriem schlenderte langsam dahin, doch halt – jetzt bog sie zu ihm ab. Hanson zog rasch ein großes buntes Tuch aus der Tasche und richtete sich vorsichtig aus die Knie auf. Ein Pony wieherte drüben in der nahen Box. Weit draußen in der Ebene rollte das Brüllen Rumas jäh durch die Nacht. Hanson nahm sich noch mehr zusammen, wie er sich jetzt hinter dem Strauch mühsam in die Hockstellung brachte, um gegebenenfalls sofort aufspringen zu können.

Wieder das Wiehern, doch diesmal näher. Er hatte vielleicht den Strauch zu stark gestreift und das Tier dadurch stutzig gemacht? Sonderbar nur, wie das Pony auf einmal aus der Box herauskam; er war doch schon länger hier im Garten! Hanson wandte seinen Kopf nach der Richtung, aus der er das Wiehern gehört hatte, doch schon in der nächsten Minute sank er wie vom Schlag gerührt zu Boden und verkroch sich unter den Zweigen des Strauches: Ein Mann brachte zwei Ponys? Was war das?

Meriem schien jetzt auch aufzuhorchen. Sie war stehen geblieben. Allein, schon war Mr. Morison Baynes mit seinen beiden gesattelten vierbeinigen Begleitern zur Stelle.

Meriem blickte sprachlos zu ihm auf, und Mr. Morison fand fürs erste nur ein verlegenes Lächeln.

Ich konnte einfach kein Auge zutun, begann er und schien dabei seine Sicherheit wiederzugewinnen. Denken Sie, ich wollte mir gerade mein Pferd drüben holen, da entdecke ich Sie hier draußen. Miß Meriem! Und gleich kam mir auch die Idee: Wie wäre es, wir ritten zusammen? So ein Nachtritt ist doch etwas Famoses. O, das wissen Sie sicher selbst am besten. Darf ich bitten?

Meriem lachte. Der Gedanke war nicht übel.

Warum nicht! Aufgesessen also! meinte sie keck.

Hanson verwünschte diesen Baynes in Grund und Boden. Das war doch mehr als Pech.

Die beiden führten ihre Pferde zum Tor. Draußen stand Hansons Pferd. Ah, was soll das? Was hat der »Händler« hier noch zu suchen? fragte Baynes erstaunt.

Er ist wahrscheinlich wieder beim Verwalter, meinte Meriem. Na, der hat heute noch was vor sich, bemerkte Morison ein wenig burschikos. Ich beneide ihn jedenfalls nicht um den Ritt durch die Dschungel ...

Und als müsse ihm dies von den dräuenden Gewalthabern des Dschungelreiches bestätigt werden, drang in jenem Moment abermals das Brüllen Numas aus der Ferne herüber. Mister Morison fuhr zusammen und warf einen wenig heldenhaften Blick auf das Mädchen, um die Wirkung dieser unheimlichen Warnung an ihr zu studieren. Allein sie schien völlig unverändert.

Im nächsten Augenblick saßen beide im Sattel und ritten im Schritt über die in Mondlicht gebadete Ebene. Das Mädchen hielt direkt auf die Dschungel zu, von der eben erst der hungrige Löwe sein markerschütterndes Gebrüll herübergeschickt hatte.

Täten wir nicht besser daran, wenn wir diesen Burschen da drüben links liegen ließen, bemerkte Morison beiläufig. Ich glaube, Sie haben ihn vorhin gar nicht gehört?

Doch, doch, ich weiß schon, lachte Meriem. Nur zu, wir wollen ihm auf den Pelz rücken.

Mr. Morison zwang sich zum Lachen, wiewohl es ihm nicht darnach zu Mute war. Aber er wollte sich schließlich vor dem Mädchen keine Blöße geben, wenn er auch gar keine Lust verspürte, es bei Nacht mit einem hungrigen Löwen zu tun zu bekommen. Nur gut, daß das Gewehr wenigstens schußbereit am Sattel hing. Doch der Dschungelkönig geruhte jetzt, sein Brüllen einzustellen. Wer weiß, was Numa beruhigt hatte ... Mr. Morison wurde jedenfalls alsbald wieder aufgeräumter und fand sich rasch in die Rolle des Mutigen zurück.

Der Löwe lag in einer kleinen Bodenwelle rechts seitwärts. Ein alter Herr war er schon, und die Zeit war für ihn vorüber, da er sich voll jugendlicher Spannkraft in blitzschnellem Sprung auf die Pflanzenfresser seines Reviers stürzen konnte. Zwei Tage und zwei Nächte war er nun schon leer ausgegangen und einige Tage vorher hatte er sich mit Aas begnügen müssen. Ja, Numa war gealtert. Doch denke niemand, daß er deshalb nicht immer noch eine jener lebenden »Höllenmaschinen« war, die dem Unvorsichtigen zum Verhängnis werden konnten.

Wohl hatte er gewittert, daß es heute nacht nicht ungefährlich war. Aber der Hunger zerfraß ihm fast die Eingeweide – und das machte ihn rasend. Mochte gleich ein Dutzend Gewehre ihm entgegenstarren – er mußte alles wagen, denn sein Bauch war eine Höhle, gähnend leer und bereit zu verschlingen, was in den Weg kam. Numa trottete zum Dickicht zurück. Sie sollten ihn nicht überraschen; er wollte sich schon so einrichten, daß sie seine Witterung nicht in die Nase bekämen. Numa war alt und fast verhungert – aber schlau sein, das gehörte sich für ihn, und wenn er nicht mehr laufen konnte. – –

Tief in der Dschungel spürte ein anderer die seine Witterung. Er hob seinen Kopf und sog die Nachtluft in vollen Zügen ein. Menschen ... und Numa auch? Er neigte seinen Kopf zur Seite und horchte gespannt. – –

*

Kommen Sie doch mit, Mr. Morison! Der Urwald ist wunderbar bei Nacht! Wir brauchen nicht einmal abzusteigen, wir haben Platz genug.

Von dem Löwen ist nichts zu fürchten, fuhr Meriem so ruhig wie bisher fort, als sie Morison unschlüssig am Dschungelrand zurückbleiben sah. Bwana hat mir gesagt, daß die Menschen hier seit zwei Jahren von Numa nicht mehr belästigt wurden. Es gibt hier Wild in Hülle und Fülle; Numa hat es also nicht nötig, die Menschen auf seinen Speisezettel zu setzen, überdies ist mit ihm in dieser Gegend schon ziemlich aufgeräumt worden, und die letzten sehen zu, daß sie den Menschen lieber nicht in den Weg kommen.

O, die Löwen machen mir natürlich keine Kopfschmerzen, meinte Mr. Morison ein wenig beleidigt. Ich dachte nur daran, wie furchtbar unbequem es sein muß, ausgerechnet hier im Nachtwalde zu reiten. Diese elenden Schlinggewächse und die weitherabhängenden Zweige ... Miß Meriem, ich meine, das kann doch kein Vergnügen sein. Muß denn auf jeden Fall jetzt in den Wald geritten werden?

Gut, dann gehen wir eben zu Fuß! entschied Meriem rasch und war schon halb aus dem Sattel.

Aber bitte, rief Mr. Morison laut, denn dieser Vorschlag war ja noch viel weniger annehmbar. Wir reiten natürlich! Er gab seinem Pferde die Sporen und ritt jetzt voran. Ringsum breitete sich dumpf und unheimlich still die Dschungelnacht, und beide ahnten nicht, daß Numa mit grollendem Magen im Dickicht auf seine Stunde wartete ...

Draußen auf der Ebene stand indessen allein ein Reitersmann. Ein leiser Fluch rang sich über seine Lippen, als er die beiden wider Erwarten in der Dschungel verschwinden sah. Hanson war Meriem und deren Begleiter alsbald gefolgt; sie hatten genau die Richtung nach seinem Lager eingeschlagen. Das paßte. Entdeckten sie ihn, nun dann hatte er gleich ein halbes Dutzend überzeugende Gründe. Aber sie hatten sich ja nicht einmal umgedreht, würden ihn also sicherlich nicht bemerkt haben. Er ritt jetzt eilig nach der Stelle, wo die beiden die Dschungel betreten hatten. Es war ihm nunmehr einerlei, ob man ihn beobachtete oder nicht. Und dies aus zwei Gründen. Dieser Baynes war in seinen Augen ein Rivale, der – wenn auch mit anderen Zielen – das Mädchen entführen wollte. Hielt er sich jetzt dicht an die beiden, so würde er alles noch so drehen können, daß seine Pläne nicht durchkreuzt wurden. Mindestens würde sich feststellen lassen, ob Baynes das Mädchen für sich gewann oder nicht. Der zweite Grund für seine veränderte Haltung war sein Wissen um einen Vorfall, der sich vergangene Nacht in seinem Lager ereignet und von dem er wohlweislich auf der Farm nichts erwähnt hatte. Fürchtete er doch, daß man ihm dann in die Karten sehen würde, wenn die Schwarzen von der Farm, aus Neugier und um Einzelheiten über den Vorfall zu erfahren, die Verbindung mit seinen Leuten aufnahmen. Und das wäre alles andere als erwünscht gewesen, da er ja auf der Farm verbreitet hatte, daß ihm die Hälfte seiner Leute davongelaufen seien. Kamen Bwanas Schwarze aber tatsächlich mit seinen Eingeborenen in Berührung, war seine Entlarvung so gut wie sicher.

Dieser Vorfall, den er auf der Farm verschwiegen hatte, und der ihn jetzt zu größter Eile mahnte, hatte sich in seiner Abwesenheit und noch verhältnismäßig zeitig am gestrigen Abend ereignet. Seine Leute hatten am Lagerfeuer gesessen, ringsum durch hohes Dornengehege gesichert, als sich mit einem Male und ohne den leisesten Warnungslaut ein mächtiger Löwe in kühnem Sprung mitten ins Lager hereinschnellt und einen der Schwarzen gepackt hatte. Nur dem sofortigen unerschrockenen Eingreifen der Kameraden dieses Unglücklichen war es zu verdanken gewesen, daß er mit dem Leben davonkam. Die anscheinend völlig ausgehungerte Bestie hatte man dann umgehend, und ohne daß es zu einem »königlichen« Kampf gekommen wäre, mit Speeren, Gewehren und lodernden Feuerbüscheln auf und davon gejagt.

Hanson wußte also, daß ein solcher »Menschenfresser« die Gegend jetzt unsicher machte. Entweder war der Bursche aus seinem früheren Jagdrevier ausgewandert, oder das Alter zwang ihn zu dieser neuen Jagdweise, weil ihm seine jüngeren Artgenossen, die nachts in der Ebene und über die Hügel streiften und tagsüber im kühlen Walde lagen, die besten Bissen vor der Nase wegschnappten. Nun hatte Hanson kaum vor einer halben Stunde noch deutlich den hungrigen Numa brüllen hören. Es war also kein Zweifel, daß es der »Menschenfresser« auf Meriem und Baynes abgesehen hatte. Der Teufel sollte diesen albernen Engländer holen! Es hieß sich jetzt sputen, wenn nicht ...

Meriem und Baynes waren inzwischen bis zu einer kleinen Lichtung vorgedrungen. Hundert Meter weiter – und ... Numa lag geduckt im Gestrüpp. Seine gelbgrünen Augen bohrten sich förmlich in seine nahende Beute, sein gewundener Schweif schien in krampfhafter Ungeduld wie erstarrt. Wie weit waren die beiden eigentlich noch? Er schätzte die Aussichten beinahe wie ein Feldherr vor der Schlacht ab. Sollte er den Überfall wagen, oder war es besser, noch abzuwarten, bis sie ihm von selbst in den Rachen liefen? Gewiß, der Hunger war im Recht. Warten konnte so viel wie Verzichtenmüssen sein. Aber Numa war auch sehr klug. Vielleicht brachte er sich gerade durch einen hastigen und nicht bis aufs letzte durchdachten Vorstoß um den ganzen fetten Braten? Er dachte an die vergangene Nacht: Hätte er da nur noch so lange seine Ungeduld bezwungen, bis die Schwarzen schliefen, er würde nicht mit knurrendem Magen das Feld haben räumen müssen.

Hinter ihm war der andere, der schon einige Zeit Numa und die Menschen gewittert hatte, inzwischen noch mehr auf dem Posten. Er hatte sich von seinem Ruhebett auf hohem schwankenden Ast aufgerichtet und lauschte in die Nacht. Zu seinen Füßen wankte ein ungeheuerliches graues Etwas auf und ab. Das Wesen oben im Geäst des Baumriesen stieß ein leises tiefes Brummen aus und schwang sich auf den Rücken des grauen Kolosses. Dann flüsterte es diesem so etwas wie ein Wort in eines der großen Ohren ... und Tantor, der Elefant, hob seinen Rüssel und ließ ihn immer wieder auf und nieder pendeln, indessen er die Warnung, die sein Reiter ihm eben zugebrummt, mit der Nase nachprüfte. Abermals ein Brummen. War es nun eine Art Befehl oder nicht, der graue Koloß schob sich jedenfalls in der Richtung, aus der der Wind Numa und die fremden Tarmangani gemeldet hatte, vorsichtig durch den Blätterwald und war bald im Dunkel untergetaucht. Je weiter die beiden vordrangen, um so mehr wurde es klar, daß sie dem Löwen und seiner Beute immer näher kamen. Numa wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Wie lange sollte er denn nun noch auf seine redlich erhungerte Mahlzeit warten? Sein Schweif peitschte wütend die Lust. Am liebsten hätte er gerade herausgebrüllt ... Und ungeachtet dieser drohenden Gefahren hatten Morison und Meriem sich ahnungslos im Gras am Rande der Lichtung niedergelassen und waren eifrig in ihre Unterhaltung vertieft.

Die beiden Pferde warteten dicht nebeneinander. Baynes hatte Meriems Hand erobert, und als er jetzt Worte der Liebe hervorstammelte, drückte er seine Hände fester um die schlanken Finger seiner afrikanischen Schönheit.

Komm mit mir nach London! bettelte Morison. Ich habe mir Schwarze besorgt. Ich brauche nur zu winken – und wir haben schon eine ganze Tagereise auf dem Weg zur Küste hinter uns, ehe man uns in der Farm überhaupt vermißt.

Warum so? Ist das nötig? fragte das Mädchen erstaunt. Bwana und »My Dear« werden ohnehin nichts gegen unsere Vermählung einzuwenden haben.

Weißt du, meinte Morison, das ist nicht so einfach. Ich kann unmöglich gleich jetzt heiraten. Da sind erst noch manche Formalitäten zu erledigen – na, Kind, das kannst du hier alles gar nicht so verstehen. Ist ja an sich auch Nebensache jetzt. Wird sich schon noch finden. Vor allem aber: Wir reisen nach London. Warten? Nein, das geht nicht. Liebst du mich wirklich, dann mußt du mitkommen. Wie war das denn bei den Affen? Ich meine, die werden auch nicht erst lange von Heiraten gesprochen haben. Sie lieben einander, wie wir uns auch. Wärest du bei ihnen geblieben, würdest du dich dort »verheiratet« haben, wie man sich eben dort »verheiratet«. Das ist ein Naturgesetz – und kein Mensch kann daran etwas ändern. Und was geht das überhaupt andere an, ob wir uns lieben? Ich dächte, die sollten sich doch um sich selbst kümmern. Meriem, meine Hand lege ich für dich ins Feuer, ich würde für dich in den Tod gehen ... und du? Gibst du mir nichts dafür?

Du liebst mich wirklich? fragte Meriem mit bebender Stimme. Und wirst mich heiraten, wenn wir in London sind?

Ich schwöre es dir! beteuerte Morison laut.

Gut denn, so will ich heimlich mit dir gehen, flüsterte sie, wenn ich auch nicht ganz verstehe, warum du dies Opfer von mir fordern mußt. Sie neigte sich sanft zu ihm hinüber, und er nahm sie in seine Arme, ihren Mund zu küssen.

Im gleichen Augenblick brach ein gewaltiger Stoßzahn durch die Zweige der Bäume, die die Lichtung säumten. Morison und Meriem hatten nur für sich selbst Sinn. Sie sahen und hörten nicht, was um sie vorging. Numa aber wußte sofort, was ihm drohte. Korak auf Tantors breitem Nacken erblickte wohl ein junges Mädchen in den Armen ihres Geliebten, doch erkannte er in ihr nicht seine Meriem. Für ihn waren die beiden zwei wildfremde Tarmangani, aufgeputzte Menschen, die gar nicht in die Dschungel gehörten.

Numa schritt augenblicklich mit furchtbarem Gebrüll zum Angriff. Die Erde zitterte, als die große Bestie aus ihrem Versteck herausstürzte, um die kostbare Beute noch zu fassen, ehe Tantor sie ihm verscheuchte. Die Pferde standen wie vom Blitze getroffen. Morison Baynes wurde leichenblaß. Eisige Schauer durchzuckten seinen Leib, als der Löwe im grellen Mondlicht heranflog. Er verlor die Gewalt über sich ... einen Gedanken fassen ... Meriem retten ... für Meriem sterben ... Tod ... nicht mehr leben ... Es wirbelte alles durcheinander. Aufs Pferd! Ah, da ... die Zügel schießen lassen ... Sporen in die Weichen ... rette sich, wer kann. Und er hieb auf sein Pferd ein wie ein Wahnsinniger, daß es ihn hinaus in die Ebene ... fort ... in Sicherheit trüge.

Das Pony des Mädchens stürmte nach und wieherte laut in Todesängsten, denn der Löwe war ihm dicht auf den Fersen. Nur das Mädchen selbst war kühl bis ans Herz hinan und hatte sich voll in der Gewalt. Das Mädchen – und jener halbnackte Wilde, der auf dem Nacken seines grauen Riesen thronte und mit wirklichem Behagen der Weiterentwicklung dieser spannenden Kampfszene entgegensah.

Für Korak stand ja an sich nichts auf dem Spiel. Numa war hungrig und begehrte die beiden Tarmangani zum Schmause. Das war sein Recht und konnte ihm beim besten Willen nicht verdacht werden. Allein auch ein Weib sollte sein Opfer werden? Korak fühlte instinktiv, daß er etwas für sie tun müsse. Warum, konnte er sich eigentlich selbst nicht erklären, denn im Grunde waren alle Tarmangani jetzt seine Feinde. Er hatte zu lange schon wie ein wildes Tier in der Dschungel gelebt, und wenn sicher auch tief in seinem Unterbewußtsein noch so etwas wie ein« Ahnung von Menschlichkeit schlummerte, im ganzen war er darüber hinaus. Kein Wunder also, daß ihm jene plötzliche Regung des Mitleids selbst eigentümlich vorkam. Er trieb Tantor zu höchster Eile, sein schwerer Speer erhob sich dräuend und sauste in blitzschnellem Flug der verhungerten Bestie nach. Das Pony des Mädchens hatte eben die Bäume drüben auf der anderen Seite der Lichtung erreicht, der Löwe war schon nahe heran – gleich mußte er das Tier mit seinen Pranken packen. Doch es kam anders. Numa schien es zunächst nur auf die kühne Reiterin abgesehen zu haben ... da ... wie er sich emporschnellte!

Doch Korak konnte einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken: Der Löwe griff ins Leere und landete mit den Vorderpranken auf dem Rücken des Ponys, denn das Mädchen hatte im letzten Augenblick einen hängenden Ast errafft und sich mit einem Ruck aus dem Sattel in die rettenden Zweige gehoben.

Koraks Speer hatte Numa dicht unterhalb seines mächtigen Nackens getroffen. Er schien den Schmerz nicht meistern zu können, denn im nächsten Augenblick schon verlor er den Halt und rutschte von dem Pony ab, das in seiner Verzweiflung ausschlug, als könne es Numa mit seinen Hufen niederzwingen. Einmal frei von Reiter und Angreifer, galoppierte es so schnell wie wohl noch nie bisher auf und davon. Numa zerrte und biß an dem elenden Speer herum, der ihn so unerwartet um die Beute betrogen, doch als das heimtückische Geschoß allen seinen Bemühungen trotzte, entschloß er sich, lieber rasch nach anderer Beute zu streifen, damit er nicht zum dritten Male vierundzwanzig Stunden hungern müßte.

Korak lenkte Tantor zurück in den Dschungelhinterhalt. Er hatte keine Lust, sich jetzt noch sehen zu lassen. –

Hanson war gerade am Waldrand angelangt gewesen, als Numas Gebrüll ihm meldete, daß der Angriff auf die beiden bereits im Gange war. Dann krachte es in den Zweigen, und Mr. Morison kam wie ein Rasender dahergestoben – flach auf dem Pony liegend, seine Arme wie Klammern um den Hals seines Retters geschlungen, die Sporen tief in die Weichen gepreßt. Dahinter – Hanson war sofort zu Tode erschrocken – jagte auch schon das andere Pony heran ... reiterlos ...

Ein Fluch – und Hanson sprengte vorwärts. Vielleicht war das Mädchen doch noch zu retten, vielleicht ... Seine Büchse war bereit. Ein paar bange Sekunden verstrichen wie eine Ewigkeit.

Da, was war das? Der Löwe? Hanson konnte nicht begreifen. Was wollte Numa denn hier, wenn er wirklich schon die Beute in den Pranken gehabt hatte. Er zog die Kandare. Sein Pferd stand. Kurz gezielt – ein Schuß. Der Löwe taumelte, sein Kopf fuhr zur Seite, als wolle er sich die Kugel herausbeißen ... Dann brach er tot zusammen. Hanson ritt weiter. Er rief jetzt laut nach dem Mädchen.

Hier, hier! antwortete es schon, und es klang zu seinem nicht geringen Erstaunen so, als käme die Antwort oben aus den Bäumen.

Haben Sie ihm den Garaus gemacht? fragte Meriem mit heller sicherer Stimme.

Ja, er ist mausetot, gab Hanson zurück. Aber wo stecken Sie denn nur? Sie können froh sein, daß Sie jetzt nicht in seinem Magen ... Na, ich will Ihnen schon lehren, daß man nachts nicht in der Dschungel herumspaziert! –

Die beiden wandten sich ohne Aufenthalt zur Ebene, woselbst ihnen alsbald Morison langsam entgegengeritten kam. Er erzählte sofort, daß ihm sein Pferd vorhin durchgegangen sei, und daß er geradezu Blut geschwitzt habe, um es endlich zur Vernunft zu bringen. Hanson lachte im stillen: Das sollte Baynes nur jemand anderem aufbinden; er hatte jedenfalls die Sporen nicht in der Luft gesehen, im Gegenteil! Allein er verlor jetzt kein Wort darüber. Seine Stunde würde ohnedies kommen. Er nahm Meriem hinter sich mit in den Sattel, und schweigend ritten die drei im Schritt der Farm entgegen.


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