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Abdul Kamak, der Sohn der Wüste

Meriem war schon halb durch das tote Dorf hindurch, als Neger und Arabermischlinge von allen Seiten aus den verfallenen Hütten auf sie losstürzten. Fliehen? Unmöglich. Schwielige Hände griffen nach ihr und zerrten sie zu Boden. Alles Betteln half nichts. Sie war wieder gefangen.

Der Scheich ...! Finster und in verhaltenem Zorn sein gealtertes Gesicht unter dem faltigen Burnus – das war sein erster Gruß. Der Schreck lähmte Meriem die Glieder. Sie sah die Qualen und Nöte ihrer Kindheit jäh wieder heraufsteigen und richtete sich mit hilflosem Blick langsam auf, als die Schwarzen zurückwichen. Zitternd stand sie noch da, als der Scheich zwei Schritte vor ihr Halt machte, als er seine Augen überlegen lächelnd zusammenkniff, als wolle er sagen: ich kenne dich doch – und nun bleibst du auf immer in meiner Gewalt. Es war kein Zweifel: der Scheich hatte sie erkannt. Was machten die wenigen Jahre aus, die verstrichen waren, seit sie noch als Kind mit Geeka am Palisadenzaun spielte? Und die Kleider? Nichts, garnichts. Sie war im Grunde doch dieselbe geblieben, ihre Züge waren seinem scharfen Adlerauge kein Rätsel.

So hast du dich endlich wieder zu uns zurückgefunden, he? sprach der Scheich mit spöttischem Lächeln. Möchtest wohl was zum Beißen? Und helfen sollen wir dir auch noch, was?

Lassen Sie mich los! schrie das Mädchen auf. Lassen Sie mich nur los. Ich erbitte nichts weiter von Ihnen, als daß Sie mir den Weg zu dem großen Bwana frei geben.

Der große Bwana? – Der Scheich zeterte, fast schnappte ihm die Stimme über, wie er jetzt in ungebändigter Erregung ein Schimpfwort nach dem anderen über den weißen Farmer häufte, den alle Dschungelleute, soweit ihnen seine Anordnungen unbequem waren, wie einen Todfeind haßten. Du möchtest zu dem großen Bwana? Aha, dort also hast du dich herumgetrieben, seit du mich auf einmal nicht mehr nötig hattest! Und vor wem machtest du denn jetzt so lange Beine? Etwa gar vor deinem großen Bwana?

Nein, nein! Der Schwede kommt ... der Schwede, der mich Ihnen schon einmal entführen wollte. Sie entsinnen sich an Mbeeda, der bei Nacht ...

Dem Scheich ging ein Licht auf. Er befahl seinen Leuten sofort, den Waldstreifen zwischen Lichtung und Strom zu besetzen und Malbihn samt seiner Gesellschaft unschädlich zu machen.

Malbihn war indessen längst an Land gegangen und hatte sich mit seinen Schwarzen bis an den Rand der Lichtung vorgearbeitet. Er war bestürzt und dachte, er sähe nicht recht, als er mitten auf der alten Dorfstraße den Scheich und dessen Askari mit Meriem gewahrte.

Zwei Menschen nur fürchtete er, als seien sie leibhaftige Teufel: den großen Bwana und den Scheich. Und so wandte er sich augenblicklich zum Strom zurück, seine Leute folgten, als säße der Scheich ihnen schon im Nacken – und ehe die Verfolger sie auch nur gesehen haben konnten, war man in den Booten und strebte dem rettenden Ufer zu. Die Askari waren indessen stutzig geworden, als sie die heftigen Ruderschläge vernahmen, und jagten blindlings ein paar Salven in der Richtung auf den Strom. Malbihns Leute antworteten mit wildem Gewehrfeuer, dann fiel nur noch hier und da ein Schuß auf beiden Seiten. Der Scheich ließ die Gefangene in die Mitte nehmen und befahl den Rückzug nach Süden.

Der Überfall auf Meriem war keineswegs von langer Hand vorbereitet gewesen. Der Scheich war in einigem Abstand vom großen Strom in südlicher Richtung auf dem Marsche, als einer seiner Leute, der sich gerade Wasser holen wollte, Meriem im Kanu von drüben heranrudern sah. Der Bursche hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seinem Herrn sofort zu berichten, daß ein weißes Mädchen über den Strom herüberkäme – worauf der Scheich umgehend seine Leute im toten Dorf auf die Lauer legte. Eine Weiße und noch dazu allein hier in der Wildnis, das war etwas für den habgierigen Araber! Das Gold klang ihm schon im Beutel. Das wäre nicht das erste Mal, daß ihm die Jagd auf Lösegeld glückte, wenn das Mädchen ihm jetzt ins Garn ging. Hier ließ sich etwas verdienen. Endlich auch einmal wieder im Handumdrehen! Seit der große Bwana ihm seine einstigen »Jagdgebiete« so arg beschnitten hatte, war es nicht mehr so einfach, den Eingeborenen das Elfenbein für ein Trinkgeld abzuhandeln oder es besser gleich mit dem Gewehr in der Hand gelegentlich eines nächtlichen »Besuches« zu beschlagnahmen. Zweihundert Meilen im Umkreis war ihm das Geschäft durch diesen albernen Farmer und seine Spitzel verdorben. –

Und nun war das Mädchen auch gar noch die Meriem, die ihm damals davongelaufen! Bravo, das hatte er gut gemacht. Der Fang sollte sich lohnen, wie nicht gleich wieder einer. –

Zunächst fand er es indessen für angebracht, die »alten guten Beziehungen« zwischen Vater und Tochter zu erneuern. Bei der ersten besten Gelegenheit gab es Püffe und, statt daß er einen seiner Leute hätte vom Pferde steigen lassen, um das Mädchen zu schonen, zwang er sie, zu Fuße zu folgen. Er scheute sich auch nicht, sie durch sonstige Schikanen zu quälen, ohne daß einer seiner Leute sie eines teilnehmenden Blickes würdigte oder es gar wagte, ein gutes Wort für sie einzulegen.

Nach zwei Tagemärschen war man am Ziele. Die Tore taten sich auf und schlossen sich hinter ihr: Sie war wieder in den »vier Pfählen«, in denen sich die Tage ihrer Kindheit grau in grau und, wenn es schlimmer kam, unter Tränen und Schlägen abgespielt hatten. Der erste Blick sagte genug: Die schreckliche alte Mabunu war noch da, dasselbe blöde Lächeln wie damals höhnte ihr aus den Falten um den zahnlosen Mund entgegen. Es war, als seien all die letzten Jahre auf einmal wie ein Traum, ein schöner Traum, zerronnen und versunken ins Nichts. Wäre sie sich nicht doch erwachsen vorgekommen im Vergleich zu damals, sie hätte es fast glauben mögen, daß sie geträumt.

Die Dorfbewohner, soweit sie Meriems Bekanntschaft nicht schon auf dem Marsche gemacht hatten, waren für einige Zeit für nichts anderes zu sprechen, als für die so seltsam gekleidete Weiße, die man – wie es hieß – als Kind schon im Dorfe beherbergt hatte. Staunen und Lachen wollte kein Ende nehmen. Am allermeisten schien sich indessen Mabunu zu amüsieren. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, zog die einfältigsten Grimassen und meckerte wie eine alte Ziege. Meriem wandte sich schaudernd ab. Sie kannte die Hexe von früher zur Genüge.

Unter den Arabern, die sich im Laufe der letzten Zeit dem Scheich angeschlossen hatten, befand sich auch ein junger kräftiger Bursche, ein hübscher Kerl mit feurigem unsteten Blick. Er stand jetzt mit in der Runde der staunenden Dorfbewohner; doch als der Scheich von seinem Zelt her erschien, wies dieser ihn auf der Stelle fort. Was er denn hier zu suchen habe, meinte der Scheich in barschem Ton. Und Abdul Kamak ging mit geballter Faust.

Auch die Neugierde ist schließlich einmal satt. Die Leute wandten sich nach und nach wieder ihren Geschäften zu. Meriem war allein. Man hatte ihr wie früher gestattet, sich innerhalb des Dorfes frei zu bewegen. An Flucht war nicht zu denken; die Palisadenwände hatte man mächtig verstärkt, die Tore wurden bei Tag und Nacht scharf bewacht.

Sie wollte jetzt allein sein und allen Belästigungen nach Möglichkeit aus dem Wege gehen. Wie in den Tagen ihrer ersten Jugend, wenn sie mit ihrer Geekapuppe plaudern und den bitteren Stunden im elterlichen Zelt auf eine Weile entrinnen wollte, schlenderte sie nach ihrem alten Lieblingsplatz im Winkel am Palisadenzaun, wo einst Korak sich zu ihr aus den Zweigen des schattigen Baumriesen herabgeschwungen hatte. Doch der Baum ... stand nicht mehr. Sie ahnte sofort, warum. Der Scheich konnte den Tag nicht vergessen, da er von Koraks Faust getroffen sich das Mädchen rauben lassen mußte.

Ein paar niedrige Büsche säumten die Umzäunung auf der Innenseite, und Meriem legte sich dort im Schatten ins Gras. Ihr war, als spüre sie hier noch einmal das Glück jener Stunde, in der Korak sie auf seinen Armen in die Dschungel gerettet, als überflöge sie die langen Jahre, in denen er sie beschützt und umsorgt hatte wie ein lieber Bruder seine kleine Schwester. Monatelang hatte sie nicht so herzlich Koraks gedacht wie heute. Er schien ihr auf einmal so viel näher und unersetzlicher, daß sie sich kopfschüttelnd fragte, wie ihr Herz ihm hatte so fremd werden können. Und dann drängte sich Morisons Bild in den Vordergrund. Liebte sie denn diesen eleganten jungen Engländer wirklich? Sie dachte an London und den Glanz der Geselligkeiten, von denen er in so hochtrabenden Worten gesprochen hatte. Sie suchte es sich auszumalen, wie sie dort bewundert und gefeiert worden wäre. All die Bilder, die Mr. Baynes so verführerisch und verheißend vor ihrem kindlich staunenden Gemüt in schillernden Farben gemalt, zogen noch einmal an ihr vorüber. Es war berauschend, davon zu träumen, doch unwillkürlich trat die Lichtgestalt ihres früheren Dschungelgenossen wieder vor das innere Auge der Sinnenden.

Ein tiefer Seufzer kam über ihre Lippen, sie preßte ihre schmale Hand auf die Brust und – – – fühlte die Photographie dicht über ihrem Herzen, wo sie vor Tagen in Malbihns Zelt ihr Versteck gefunden hatte. Sie zog das Bild heraus und versank von neuem in seinen Anblick; sie hatte ja Zeit jetzt, jede Einzelheit zu studieren. Unter dem feinen Spitzenbesatz des Kinderkleidchens lugte ein Kettchen mit Medaillon hervor. Meriem zog die Stirn in Falten. Sie kämpfte im stillen mit halbwachen Erinnerungen. Quälend die Gedanken, die doch nie die volle Gewißheit brachten. Wie sollte dies kleine Mädchen, dies Kind mit seiner unverkennbar europäischen Kleidung Meriem, das Töchterchen des Araberscheichs, sein? Unmöglich – und doch wieder die Halskette? Meriem konnte sich deutlich entsinnen, solch ein Kettchen einmal getragen zu haben. Aber wann? Und wo? Geheimnisvolles Dunkel lag über ihrer allerersten Kindheit gebreitet.

Sie war noch immer tief in die Betrachtung des rätselhaften Bildes versunken, als es ihr plötzlich so vorkam, als sei sie nicht mehr allein. Es mußte sich jemand leise herangeschlichen haben und jetzt hinter ihr stehen. Als sei sie auf frischer Tat ertappt, schob sie die Photographie hastig wieder in ihr zartes Versteck. Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Der Scheich, sicher der Scheich! Im nächsten Augenblick mußten die gewohnten Schläge folgen. Sie zitterte in stummer Erwartung. Er schlug sie nicht? Zögernd wagte sie einen scheuen Blick nach rückwärts. Das war ja Kamak!

Ich habe das Bild wohl gesehen, das Sie eben wieder verschwinden ließen, meinte der junge Araber, und in seiner Stimme schwang ein leises Zittern mit. Ihr Bild! So waren Sie als kleines Kind, so niedlich? Darf ich es mir noch einmal anschauen?

Meriem schrak zurück.

Ich gebe es Ihnen natürlich wieder zurück, fügte er begütigend hinzu. Ich hörte schon viel von Ihnen; auch daß Sie Ihren Vater, den Scheich, nicht leiden können. Ich kann ihn übrigens auch nicht ausstehen. Bitte, zeigen Sie mir das Bild noch einmal. Ich werde nichts verraten.

Meriem begriff. Vielleicht war Abdul Kamak der rettende Strohhalm, an den sie sich jetzt noch klammern konnte, wo ringsum nur Feinde wimmelten. Vielleicht konnte er der Freund werden, der einzige, der ihr den Weg in die Freiheit ebnete? Er hatte das Bild ohnehin schon gesehen. Log er, würde er dem Scheich trotz seines Versprechens davon berichten, war das Bild für sie auch so verloren. Gut, sie wollte ihm die Bitte nicht abschlagen und hoffen, daß er sein Wort hielt. Sie zog die Photographie hervor und reichte sie ihm hin.

Abdul Kamak verglich anscheinend Zug auf Zug des halbverblichenen Bildes mit dem lebensprühenden Gesicht des rassigen Mädchens, das vor ihm im Grase saß und so erwartungsvoll zu ihm aufblickte. Er nickte ein paarmal nachdenklich.

Ja, kein Zweifel! brach er schließlich das Schweigen. Das sind Sie. Aber sonderbar. Wie kommt die kleine Tochter des Scheichs in ein Kleidchen, wie es nur die Kinder der Ungläubigen tragen?

Ich weiß es nicht, gab Meriem zurück. Ich habe das Bild vor ein paar Tagen zum ersten Male gesehen; ich fand es im Zelt des Schweden Malbihn.

Abdul Kamak zog die Augenbrauen hoch. Er drehte das Bild gedankenlos um. Ein Zeitungsausschnitt? In seinen Augen spiegelte sich höchstes Erstaunen. Er konnte etwas Französisch lesen. Was man so brauchte, mehr nicht. Er war ein Jahr in Paris gewesen. Mit ein paar anderen Wüstensöhnen hatte man ihn aus eine Ausstellung dorthin geschickt, und er hatte dort viel aufgeschnappt. Abdul Kamak wußte, wie man in Europa lebte, er hatte es ausgekostet! Und da lernt man auch sprechen und lesen, wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist. Abdul Kamak war klug. Jetzt kam ihm das zugute. Langsam und mit sichtlicher Anstrengung suchte er zu entziffern, was der vergilbte Zeitungsausschnitt zu sagen haben mochte. Sein anfängliches Befremden wich, je weiter sich ihm das Geheimnis enthüllte. Er kniff die Augen immer mehr zusammen. Was mochten ihm für Gedanken durch den Sinn jagen? Oder tat er bloß so?

Sie kennen den Inhalt? wandte er sich an Meriem und blickte ihr scharf in die Augen.

Das ist ja Französisch, antwortete sie. Ich kann es leider nicht lesen.

Abdul Kamak schaute das Mädchen lange schweigend an. Sie war doch ein Prachtmädel, eine Schönheit!

Ein wunderbarer Gedanke hatte jäh sein Hirn durchzuckt, ein Gedanke, der tausend Seligkeiten verhieß, wenn das Mädchen den Inhalt dieses Zeitungsausschnitts nie erfuhr. Wenn aber doch, dann war nichts mehr zu hoffen.

Meriem! flüsterte er. Noch nie sind meine Augen trunken gewesen von deiner Schönheit. Ich sehe dich heute zum ersten Male – und mein Herz liegt dir zu Füßen! Du kennst mich nicht, das weiß ich wohl. Aber ich bitte dich, vertraue mir! Denn ich kann dir helfen. Du hassest den Scheich? Ich auch, du! Ein Wort von dir – und ich rette dich vor ihm. Komm mit, wir gehen weit weg in die große Wüste. Zu meinem Vater. Er ist auch Scheich und tausendmal mächtiger als dein Vater. Magst du nicht?

Meriem hatte schweigend und in Gedanken versunken zugehört. Es schmerzte sie, nun diesem einen einzigen, der ihr Freundschaft und Schutz gewähren wollte, mit ihrer Antwort Wunden ins Herz schlagen zu müssen. Aber was blieb ihr denn anderes? Sie liebte ja Abdul Kamak nicht.

Die Stille war beklemmend. Oder scheute sie sich nur, seine Werbung mit glühendem Kusse zu lohnen? Abdul Kamak streckte rasch seine Hand nach ihr aus und zog das Mädchen zu sich herüber. Meriem wehrte ihn ab.

Ich liebe Sie ja garnicht, flüsterte sie heftig. O, bitte! Lassen Sie das! Ich möchte Sie nicht hassen müssen! Sie sind der einzige, der hier ein Herz für mich hat. Ich danke Ihnen, ich achte Sie, aber ich kann Ihnen unmöglich das sein, was Sie wünschen.

Abdul Kamak richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen.

Du wirst mich lieben lernen, so wahr ich Abdul Kamak heiße! Ich kann mit dir machen, was ich will, denn ich nehme dich einfach mit. Du hassest den Scheich und du wirst dich hüten, aus der Schule zu plaudern. Tust du es doch, dann weißt du schon. Denk an das Bild! Ich hasse den Scheich und ich ...

Du hassest den Scheich? rief auf einmal jemand dazwischen, und als die beiden erschrocken zurückfuhren, stand der Scheich vor ihnen. Ein paar Schritte noch und ...

Abdul Kamak ließ das Bild, das er noch immer in der Hand hielt, blitzschnell unter seinem Burnus verschwinden.

Ganz richtig, ich hasse den Scheich! Mit diesen Worten fuhr der junge Araber auf ihn los, schleuderte ihn zu Boden und raste quer durch das Dorf zu der Stelle, wo sein Pferd, an einem Pfahl festgebunden, gesattelt wartete. Abdul war nämlich vorhin im Begriff gewesen, auf die Jagd zu reiten. Da war gerade die Karawane zurückgekommen, er hatte Meriem gesehen und war ihr im Feuereifer seines südlichen Temperamentes sofort in ihren stillen Winkel nachgeschlichen.

Er schwang sich in den Sattel und sprengte in der Richtung auf das Tor davon. Der Scheich hatte sich nur zu bald von dem ersten Schreck erholt und schrie seinen Leuten zu, sie sollten den flüchtenden Abdul auf der Stelle dingfest machen. Wohl ein Dutzend Schwarze waren auch sofort auf den Beinen und suchten den Übeltäter zum Halten zu bringen, doch Abdul Kamak saß fest im Sattel. Er ritt die schwarzen Kerle einfach über den Haufen, als sie die Bahn nicht ohne weiteres freigeben wollten.

Am Tore mußte die Lage für ihn kritisch werden. Doch die beiden Wächter schienen nicht Lust zu haben, mit Abduls langer Araberflinte Bekanntschaft zu machen. Sie wichen zurück, daß sich die beiden schweren Torflügel unter dem Druck knarrend öffneten. Abdul wirbelte die Büchse über dem Kopf. Der feurige Renner wieherte hell auf und in rasendem Galopp jagte der Wüstensohn hinaus.

Bebend vor Zorn befahl der Scheich, die Verfolgung sofort aufzunehmen. Er selbst eilte zu Meriem zurück, die totenblaß in ihrem Versteck saß.

Das Bild her! schrie er sie an. Von was für einem Bild sprach dieser Hund? Her damit! Wo hast du es?

Er hat es mitgenommen, gab Meriem zurück. Ihre Stimme klang matt und traurig.

Wer war auf dem Bild? Heraus mit der Sprache! drang der Scheich auf sie ein, zerrte sie an den Haaren in die Höhe und schüttelte sie wie eine verstockte Verbrecherin. Nun, wird es bald?

Ein Bild von mir. Von mir, als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe es beim Schweden Malbihn gefunden ... und auf der Rückseite war ein alter Zeitungsausschnitt.

Was hast du da ... gelesen ... du ...? zischte der Scheich mit gedämpfter Stimme, daß Meriem kaum verstehen konnte, was er wollte.

Nichts, garnichts. Ich kann nicht Französisch lesen.

Der Scheich schien aufzuatmen. Er unterdrückte ein ihr unverständliches Lächeln und wandte sich zum Dorfe zurück, nachdem er Meriem noch eingeschärft hatte, in Zukunft ja mit niemandem weiter als mit ihm oder Mabunu zu sprechen. Schläge gab es diesmal merkwürdigerweise nicht mehr.

Abdul Kamak jagte unterdessen in wildem Galopp auf der Karawanenstraße nach Norden.

*

Als das Kanu mit Mr. Baynes in der Strombiegung den Blicken des Schweden entschwand, brach der junge Engländer zusammen. Der letzte Kampf war über seine Kraft gegangen. Er lag wohl stundenlang halb bewußtlos unten im Boot.

Es mochte schon bald Mitternacht sein, ehe er sich allmählich wieder aufzuraffen begann. Er sah die Sterne vom klaren Nachthimmel herabfunkeln und konnte doch nicht begreifen, wo er eigentlich war. Warum wurde er nur immer so seltsam geschaukelt? Und wie waren die Sterne heute so wunderbar flink, als sausten sie am Himmel von links nach rechts und wieder zurück? Eine Weile meinte er zu träumen; dann nahm sein Wille den ersten ernstlichen Anlauf und bezwang die bleierne Schwere in allen Gliedern – den Schlaf, der ihm immer wieder die Augen in Fesseln nehmen wollte. Und nun stöhnte er vor Schmerzen. Die Wunde ... ja ... richtig. Alle die Erlebnisse der letzten Tage dämmerten in ihm mit einem Male auf ... Hanson ... Meriem ... und nun trieb er auf dem afrikanischen Wildstrom zu Tale ... allein ... mit Wunden ... verloren.

Vorsichtig und auf vor Schwäche zitternde Arme gestützt richtete er sich auf. Er konnte also wenigstens sitzen, das beruhigte ihn. Seine Finger tasteten suchend über die zerfetzte Kleidung. Die Wunde schien nicht mehr zu bluten. Vielleicht war es doch bloß ein Fleischschuß und nichts Ernstliches? Wenn bloß die große Schwäche nicht tagelang anhielt! Er müßte ja sonst glatt verhungern. Oder war er doch lebensgefährlich verletzt? Dann war der Tod gewiß, Tod in Wunden und Hunger!

Seine Gedanken schweiften zu Meriem. Er war felsenfest davon überzeugt, daß der Schwede sie gestern zurzeit des mißglückten Vorstoßes noch im Lager versteckt hielt. Was mochte nun aus ihr werden? Selbst wenn Hanson wirklich seinen Wunden erlag: War Meriem dann um einen Deut besser daran? Nein, sie blieb ja in der Hand der schwarzen Träger zurück! Baynes barg sein Gesicht in den Händen, bog den Oberkörper stöhnend zurück und ließ ihn wieder nach vorn auf die Knie sinken ... Schrecklich, sich Meriems Schicksal auszumalen, furchtbare Gewissenspein, daran zu denken, daß er dies unselige Los über sie gebracht hatte! Seine Selbstsucht hatte das harmlose, unschuldige Mädchen denen, die sie wie ihr eigen Kind liebten, schnöde entrissen und dem Bösewicht Hanson auf Gnade und Ungnade in die Hände gespielt. Und nun war ihm noch dazu die ganze Schwere seines Unterfangens erst zum Bewußtsein gekommen, als es schon – zu spät war. Nicht eher hatte er die furchtbare Schuldenlast gespürt, die er, gedrängt von wilder Leidenschaft, auf sich genommen, als bis er entdeckte, daß er das Mädchen wahrhaft von Herzen lieben konnte, lieben mußte, weil ihm noch nie solch seltsame Blume am Wege gewinkt hatte.

Er mußte Abbitte tun, mußte sehen, wie er doch noch zu ihr käme und, wenn es sein sollte, sein Leben für sie in die Schanze schlüge. Er bückte sich, seine Blicke schweiften rasch über das Boot. Wie elektrisiert war er aufgesprungen, was kümmerten ihn Wunden und Schmerzen und Schwäche ... das Ruder her ... das Ruder ...?

Es war ... nicht mehr da. Ringsum stockdunkle Nacht, kein Mondschein, die Dschungel wie eine undurchdringliche Mauer zur Linken und Rechten. Und trotzdem bangte ihm nicht; die Zeiten waren vorüber, da ihn der bloße Gedanke an eine solche Dschungelnacht hätte erzittern lassen wie eine Saite, über die der Windhauch geht.

Er hatte jetzt andere Aufgaben als seinen Nerven die Zügel schießen zu lassen; er kniete im Boot, lehnte sich leicht nach der Seite und suchte sich mit der offenen Handfläche vorwärts zu paddeln. Wohl war es ihm oft so, als müsse er im nächsten Augenblick vor Müdigkeit und quälendem Wundkrampf umsinken, um nie wieder aufzustehen. Aber er hielt durch. Die Stunden rannen dahin, und der einzige Trost war ihm das Gefühl, daß er sich doch mehr und mehr dem Ufer zu nähern schien. Ein Löwe brüllte. War er etwa schon dicht am Ufergestrüpp? Er zog sein Gewehr neben sich, paddelte aber trotzdem mit der Rechten weiter. Da endlich! Das Kanu streifte an Buschwerk oder überhängende Zweige. Er hörte, wie das Wasser gurgelte und ans Ufer schlug. Ewigkeiten hatte er gebraucht, bis er nun soweit war.

Er streckte die Hand aus und klammerte sich an einem Ast fest. ES rauschte in den Blättern, und wieder brüllte Numa, diesmal ganz in der Nähe. Baynes wunderte sich, daß die Bestie ihm so lange, lange Zeit an Land aufgelauert haben sollte. Sie mußte doch eine unendliche Geduld haben.

Er tastete den Ast ein paar Handbreiten ab. Das Ergebnis: Ein Dutzend Männer hätten sich an ihm aufhängen können, so stark schien er zu sein. Mit der Linken griff Baynes nach seiner Büchse, hing sie am langen Riemen über die Schulter und prüfte dann nochmals den Ast, dem er sich anvertrauen wollte. Von Schmerzen durchzuckt hangelte er sich langsam an dem Ast in die Höhe, bis seine Füße den Boden unter sich verloren. Das Kanu trieb augenblicklich ab und entschwand für immer in den düsteren Schatten der Nacht, die ebenso undurchdringlich über dem träge dahinfließenden Strome lagen wie über der geheimnisvollen Dschungel, in deren Rachen er sich nun gestürzt hatte.

Er hatte gleichsam die Brücken hinter sich abgebrannt. Gelang es ihm jetzt nicht, sich auf den Ast hinaufzuziehen, sank er in das Wellengrab, aus dem es bei seinem Zustande kein Entrinnen mehr geben würde. Er mühte sich krampfhaft, ein Bein überzuheben, doch die Kräfte versagten. Immer näher und näher kam die große Schwäche, vor der es ihm schon lange graute; noch ein paar Minuten – und er war verloren. Aber noch krallte er seine Finger um den rettenden Ast.

Plötzlich drang Numas Gebrüll gellend an sein Ohr. Baynes fuhr zusammen. Zwei funkelnde Lichter grüßten gierig herüber. Der Löwe stand also am Ufer und wartete. Wartete auf ihn. Gut, mochte er verhungern, dachte Mr. Morison. Klettern kann er ohnehin nicht. Lächerlich, ein Löwe und klettern! Er würde jedenfalls in Sicherheit sein, wenn er nur erst einmal oben im Baum säße.

Die Füße des jungen Engländers schwebten noch immer nur ein paar Handbreit über dem Wasserspiegel. Er wußte es garnicht einmal so, konnte ja kaum die Hand vor den Augen sehen, geschweige denn seine Lage in ihrem ganzen Ernst überschauen. Erst als er auf einmal das Wasser unter sich stärker rauschen hörte, als es ihm vorkam, wie wenn etwas nach ihm schnappte, wurde er stutzig. Ein scharfer, krachender Ton, wie wenn ein Paar riesige Kinnladen aufeinanderprallten, folgte.

Halloh! schrie Mr. Morison laut auf. Das Vieh hätte mich um ein Haar gepackt!

Und mit einer letzten verzweifelten Anstrengung suchte er sich nach oben zu ziehen – doch vergeblich. Die Armmuskeln hingen schlaff und gestreckt und ließen sich nicht straffen. Nun mußte alles aus sein; auch die Hoffnung, die ihn bis jetzt noch immer allen Schmerzen und allem Ermattenwollen zum Trotz zum Ausharren bestimmt hatte, wankte und schwand. Starr fast die Finger, Müdigkeit und bleierne Schwere in allen Gliedern – ein paar Sekunden noch ... er fühlte schon, wie der Henker im Strom wieder seinen Rachen aufreißen würde und ...

Was bewegte sich da in den Blättern? Da ... da ... der Ast, an dem er noch hing ... er schwankte. Schwankte? Wer war das? Das Tier, die Bestie vielleicht? Ha! ... Leicht war sie nicht ... aber das Schwanken ... Tod von oben, Tod von unten ... welcher erreichte ihn zuerst? War es schon der letzte Krampf, in dem er sich noch einmal fester klammerte?

T ...o ...o ...d ... Ein Schatten oder ...? Etwas Warmes, Weiches strich über seine erstarrten Finger, wand sich um seinen Leib ... und zog ihn hinauf ins rettende Geäst.


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