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Erste Dschungeltaten

An seine erste Nacht in der Dschungel mußte Tarzans Sohn immer und immer wieder denken. Die Raubtiere der Wildnis hatten ihn in Ruhe gelassen, kein Wilder oder sonst irgendein zweifelhaftes Menschenwesen war ihm zu Gesicht gekommen, und wäre es doch der Fall gewesen, so würde der Junge bei seiner damaligen Gemütsverfassung kaum davon besondere Notiz genommen haben. Er machte sich nämlich die schlimmsten Gewissensbisse, wenn er daran dachte, wie sehr seine arme Mutter jetzt unter den Sorgen um ihn zu leiden haben mußte. Und unter diesen Selbstanklagen versank er fast in die tiefsten Tiefen eines nicht minder unglücklichen Daseins. Den Tod des Amerikaners hatte er an sich leichthin abgetan, denn der Bursche verdiente dieses Ende. Was ihn aber im Zusammenhang mit Londons Tod am meisten bekümmerte, war die entscheidende Einwirkung dieses Todesfalls auf das, was er vorgehabt hatte. Er konnte jetzt einfach nicht mehr direkt zu seinen Eltern zurückreisen, wie es doch schon beschlossen gewesen war. Er fürchtete die Macht des Gesetzes hier in dem einfachen Kolonialstaate, wo man zweifellos gleich kurzen Prozeß machte, wie er aus all den gelesenen buntschillernden und im Grunde unwahrscheinlichen Abenteurergeschichten ohne weiteres schließen zu müssen glaubte, und so hatte ihm die Flucht in die Dschungel als einziger Ausweg vorgeschwebt. Hier in dieser Gegend durfte er sich auf keinen Fall zur Küste zurückwagen, das stand bei ihm fest. Seine Furcht war dabei nicht etwa in erster Linie von einer gewissen Besorgnis um sein eigenes Wohl und Wehe diktiert. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wie er Vater und Mutter das Schmerzliche und Beschämende einer Gerichtsverhandlung ersparen könnte, bei der er als Mörder angeklagt und bei der somit der gute ehrliche Name unabwendbar in den Schmutz gezogen werden mußte.

Doch mit dem neuen Tage wichen die Gespenster, und als die Sonne aufging, fühlte Jack neue Hoffnung in der Brust. Es mußte sich ein anderer Weg zurück in die zivilisierten Länder finden lassen. Niemand sollte dann auch nur ahnen, daß er mit dem Tode jenes Fremden in dem weltentlegenen Küstenhandelsplatz irgend etwas zu tun gehabt hatte.

Fröstelnd hatte er sich im Gabelgeäst eines Baumes dicht an den großen Affen angeschmiegt und die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Sein leichter Pyjama konnte ihn nur wenig vor der Zudringlichkeit der naßkalten Nachtluft der Dschungel schützen, und nur die Seite seines Körpers, mit der er sich an den warmen zottigen Leib seines Kameraden gepreßt, war behaglicher gebettet. Kein Wunder, daß er die Strahlen der aufgehenden Sonne mit Freuden begrüßte. Wärme und Licht zugleich verhieß dieses glückspendende Gestirn, das von Körper, Geist und Gemüt die Plagegeister der Nacht verscheuchen mußte.

Er weckte Akut.

Komm mit! sagte er zu ihm. Mich friert und ich habe Hunger. Wir müssen uns Nahrung suchen, dort drüben, wo die Sonne scheint. Und er zeigte hinüber nach einer weitgeöffneten Lichtung, auf der ein paar kümmerliche Bäume und hier und da verstreut zackiges Felsgestein zu erkennen waren.

Während er dies sagte, ließ er sich vom Baume heruntergleiten. Der Affe war nicht so voreilig; er schnupperte erst mit Bedacht in die Morgenluft und sah sich von seinem hohen Sitz aus gehörig um, ob nicht vielleicht irgend etwas Verdächtiges in der Nähe war. Dann kletterte er befriedigt zu seinem Genossen, ohne sich dabei sonderlich zu beeilen.

Numa und sein Weibchen Sabor machen sich mit Wonne über alle die her, die erst vom Baume heruntersteigen und sich dann umsehen. Wer aber zuerst die Augen aufmacht und dann herunterklettert, wünscht oder bekommt die beiden selber zum Schmause. Das war das erste Stückchen Dschungelweisheit, das der alte Menschenaffe Tarzans Sohn offenbarte. Seite an Seite überquerten sie dann die unwegsame, aber sonnenbestrahlte weite Lichtung, denn Jack wollte vor allem erst einmal wieder warm werden. Der Affe zeigte ihm unterwegs auch gleich, wie und wo man am besten die kleinen Nagetiere und eßbares Gewürm auftrieb. Doch den jungen Tarzan ekelte es bei dem bloßen Gedanken, daß er solch widerliches Zeug über die Zunge bringen sollte. Man fand ein paar Eier, die Jack gleich roh trank; dann verzehrte er auch die von Akut ausgegrabenen Wurzeln und Knollen.

Am Ende der Lichtung ging es so etwas wie einen kleinen Damm hinauf; dahinter gewahrte man einen seichten Wassertümpel, der durch allerlei Unrat getrübt und am Rande wie nach der Mitte zu von Tieren aufgewühlt zu sein schien. Und richtig, da galoppierte eine Zebraherde davon.

Jack war viel zu durstig, um jetzt erst lange über dieses Wasser, das zwar alles andere als Trinkwasser war, die Nase zu rümpfen. Er trank nach Herzenslust, während Akut mit erhobenem Kopfe sich erst einmal vergewisserte, ob nicht irgendwie Gefahr im Anzug war. Ehe er dann selber trank, schärfte er dem Jungen ein, ja aufzupassen, und selbst während des Trinkens warf er ab und zu rasch einen Blick hinüber nach der dichten Gebüschgruppe, die in etwa hundert Meter Entfernung das jenseitige Ufer des Wassertümpels säumte. Schließlich wandte er sich in der Sprache, die sie beide ererbt, an Jack.

Ist es jetzt hier gefährlich? fragte er in den primitiven Lauten der Menschenaffensprache.

Nein, kam die Antwort. Ich sah nicht, daß sich irgend etwas bewegte, während du trankst.

Deine Augen werden dir in der Dschungel nur wenig nützen, fuhr der Affe fort. Wenn du hier überhaupt am Leben bleiben willst, mußt du dich auf deine Ohren und auf deine Nase verlassen; am meisten auf deine Nase! Als wir hierher kamen, um zu trinken, und die Zebras uns witterten, wie ich beobachtete, da wußte ich gleich, daß auf dieser Seite des Tümpels keine Gefahr lauerte; denn sonst hätten die Zebras sie schon entdeckt und wären vor unserem Auftauchen auf und davon gegangen. Aber drüben auf der anderen Seite kann gut das Unheil in den Büschen liegen, zumal der Wind nicht herüberweht. Wir können es nicht einmal wittern, weil das Verräterische uns von dort nicht in die Nase kommt. Meine Nase ist jetzt machtlos, dafür lasse ich in dieser Richtung Ohren und Augen arbeiten.

Und du findest ... nichts! warf Jack lachend ein.

Ich sehe, daß Numa dort drüben in dem dichten Gebüsch und dem hochwuchernden Gras herumkriecht. Und Akut deutete hinüber.

Ein Löwe? rief Jack. Woher willst du das wissen? Ich kann nichts sehen.

Und Numa ist doch dort, erwiderte der große Affe. Erst hörte ich ihn, wie er tief atmete. Für dich gibt es vielleicht bis jetzt noch keinen Unterschied zwischen diesem eigenartigen Atemgeräusch Numas und den Tönen, die an dein Ohr dringen, wenn der Wind durch Gras und Bäume streicht. Aber du mußt in Zukunft genau Numas Atmen erkennen lernen! Ich paßte also scharf auf, und schließlich sah ich, wie sich das hohe Gras an einer Stelle stärker bewegte, als wenn bloß der Wind darüberweht. Sieh, wie sich die Gräser zu beiden Seiten von Numas großem Körper heben und senken! Siehst du, wie er atmet? Da, wie er sich bewegt! Das ist nicht etwa der Wind. So neigt sich das übrige Gras nicht.

Der Junge blickte scharf hinüber. Seine Augen waren gut, besser als die jedes anderen in seinem Alter. Da, ein halbunterdrückter Freudenschrei. Er hatte es entdeckt.

Ja, ich sehe es jetzt. Er liegt dort. Dort! Und er zeigte genau nach der Richtung. Er liegt mit dem Kopf nach uns zu. Ob er uns beobachtet?

Numa sieht uns genau, kam Akuts Antwort. Wir sind aber nicht besonders in Gefahr, wenn wir ihm nicht gerade zu nahe auf den Pelz rücken; er liegt nämlich auf seiner Beute und muß sich seinen Bauch schon ordentlich gefüllt haben, sonst würden wir es hören, wie er die Knochen seines Opfers knirschend zermalmt. Er beobachtet uns jetzt mit einer gewissen Ruhe und eigentlich nur aus Neugier; entweder setzt er bald seine Mahlzeit fort oder er erhebt sich und kommt an den Tümpel, seinen Durst zu löschen. Er fürchtet uns momentan nicht, hat auch keine Lust, über uns herzufallen, und wird daher gar nicht versuchen, uns über seine Anwesenheit im unklaren zu lassen. Das ist jetzt eine ganz ausgezeichnete Gelegenheit, Numa kennen zu lernen; du mußt es ohnehin, wenn du nicht bald in der Dschungel zugrunde gehen willst. Wo wir große Affen in der Überzahl sind, läßt Numa uns lieber allein, denn wir haben lange und scharfe Zähne und verstehen uns auch auf den Kampf. Sind wir aber allein, und ist Numa hungrig, dann ist die Erledigung eines Menschenaffen für ihn ein Kinderspiel. Komm, wir wollen einen großen Bogen um ihn machen und sehen, daß wir seine Witterung in die Nase bekommen! Je eher du damit vertraut wirst, desto besser! Aber bleibe ja immer dicht in der Nähe der Bäume, wenn wir uns jetzt außen um ihn herumschleichen; denn Numa tut auch oft gerade das, was man am allerwenigsten erwartet. Und halte mir Ohren, Augen und Nase offen! Denke immer daran, daß hinter jedem Busch, in jedem Baum und überall im dichten Dschungelgras ein neuer Feind stecken kann! Du willst Numas Pranken entgehen: Paß auf, daß du dabei nicht gerade seinem Weibe Sabor in den Rachen rennst! Folge mir nun!

Akut machte einen großen Bogen um den Wassertümpel und den Löwen, der dort geduckt im Grase lag. Jack folgte dicht auf den Fersen. Alle seine Sinne fühlte er wach, seine Nerven waren aufs höchste gespannt. Das war Leben, wirkliches Leben! Wie weggeblasen waren mit einem Male all die schönen Vorsätze, die ihm noch vor wenigen Minuten unumstößlich schienen. Nichts mehr davon, so daß er so schnell wie möglich irgendeinen anderen Hafenplatz an der Küste zu erreichen suchen und von da sofort nach London zurückreisen wollte! Dafür jetzt nur der eine Gedanke, wie herrlich und wildgewaltig das Dschungelleben doch sein mußte, wenn man mit offenen Sinnen und unerschrocken der Macht und Tücke wilder Dschungelbrut trotzte, die die weiten Lichtungen und düsteren Urwaldpfade dieses großen unbezwungenen Erdteils lauernd und gierig durchstreifte. Gewiß, er kannte keine Furcht, denn sein Vater hatte ihm sein männliches, unerschrockenes Herz vererbt; er spürte aber auch ein Gewissen und das, was man Ehrfurcht vor dem Willen der Eltern nennt, und oft war es so, daß diese geheimen Mächte ihn peinigten, wenn sie in seinem Inneren mit seinem angestammten Freiheitsdrang um die Oberhand über sein Ich rangen.

Sie hatten sich auf gar nicht zu große Entfernung von rückwärts an Numas Graslager herangeschlichen, als der Junge mit einem Male den unangenehmen Geruch des Raubtieres in die Nase bekam. Ein freudiges Lächeln huschte über sein Gesicht; denn irgendwie war es ihm so, als würde er diesen Geruch unter Myriaden anderer sofort erkannt haben, auch wenn Akut ihm nicht erst erzählt gehabt hätte, daß ein Löwe in der Nähe war. Etwas Eigenartiges und doch so seltsam Vertrautes lag in dem, was der Wind herübertrug, was ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ und ihm ein unfreiwilliges Brummen hervorstoßen ließ, daß seine Zähne kampflustig unter der hochgezogenen Oberlippe hervortraten. Dabei hatte er das Gefühl, als dehne sich die Haut um seine Ohren, und als legten sich diese flach und dicht an seinen Schädel, alles nur, um für den Kampf auf Leben und Tod gerüstet zu sein. Er spürte ein Prickeln in seinem Körper, ein wohliges Gefühl durchrann ihn, wie er es nie in diesem Ausmaß gekannt. Mit einem Schlage war er ein ganz anderer geworden, er war vorsichtig, aufs äußerste gespannt und kampfbereit ..., die Witterung Numas, des Löwen, hatte den Jungen zum wilden Dschungeltier gewandelt.

Nie war ihm ein Löwe von Fleisch und Blut zu Gesicht gekommen, denn seine Mutter hatte ja alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern. Die schier unzähligen Bilder von Löwen in seinen Büchern hatte er aber geradezu verschlungen, und so erwartete er jetzt mit wahrem Heißhunger den Augenblick, da sich der König der Tiere leibhaftig vor ihm erheben würde. Während er Akuts Spur folgte, blickte er deshalb immer mit einem Auge über seine Schulter halb nach rückwärts; denn er mochte die Hoffnung nicht aufgeben, daß Numa doch noch von seiner Beute aufsprang und sich in seiner ganzen stattlichen Erscheinung zeigte. So kam es, daß er ein Stück hinter Akut zurückblieb. Doch ein schriller Warnungsschrei des Affen brachte ihm nur zu bald bei, daß er jetzt an andere Dinge als an den rückwärts im Grase versteckten Numa zu denken habe. Er wandte sich rasch nach der Richtung, aus der ihm sein Kamerad zugerufen, allein wildes Entsetzen durchbebte seinen ganzen jungen Leib, wie er gewahrte, was da mitten auf dem Pfad ihm dräuend entgegenstarrte: Eine Löwin, glatt das Fell und beinahe majestätisch schön, noch halb im dichten Grase versunken, in dem sie den Blicken der Ankömmlinge entgangen war. Ihre hellgrünen Augen funkelten aus den weitgeöffneten, fast kreisrunden Höhlen und bohrten sich geradezu in die ihres Gegenübers, das ja kaum noch zehn Schritte entfernt war. Der große Affe stand etwa zwanzig Schritt hinter der Löwin; er brüllte Jack rasch zu, wie er sich verhalten sollte, und überhäufte gleichzeitig die Löwin mit Schmähungen schlimmster Sorte. Offenbar wollte er sie so reizen, daß sie ihre Aufmerksamkeit von Jack abwandte und sich auf ihn zustürzte, während der Junge sich dann in das rettende Geäst eines nahen Baumes schwingen konnte.

Doch Sabor ließ sich nicht irre machen; sie hatte es eben auf den Jungen abgesehen, der zwischen ihr und ihrem Männchen, zwischen ihr und der Beute stand. Das war ihr doch zu verdächtig; vielleicht führte er irgend etwas Böses gegen ihren Herrn und Gebieter im Schilde. Wollte er sie um die Früchte ihrer Jagd betrügen ...? Eine Löwin ist stets kurz angebunden, und da dieser hier obendrein Akuts Gebrüll gar nicht paßte, ging sie mit rollendem Knurren auf Jack los.

Auf den Baum! schrie Akut herüber.

Der Junge wandte sich in wilder Flucht, die Löwin ihm nach. Bis zum Baum waren es zwar nur ein paar Meter, doch als Jack den drei Meter über dem Boden schwebenden Ast im Sprunge erfassen wollte, duckte sich die Löwin schon ... Er zog sich rasend behend wie ein kleines Kletteräffchen nach oben. Eine große Vorderpranke streifte ihn leicht an der Hüfte, doch gab das nicht mehr als ein paar harmlose Schrammen, wenn sich auch eine Kralle wie ein Angelhaken in den leichten Gurt seiner Pyjamahosen verfangen hatte und ihm diese glattweg vom Leibe riß. Halbnackt schwang er sich in das Reich der Sicherheit, indessen die Bestie in erneutem Anlauf ihn noch zu packen suchte. Akut ließ von einem andern Baum aus die wüstesten Schimpfworte seiner Affensprache auf die Löwin herniederprasseln, und Jack, der das Verhalten seines Lehrmeisters durchaus billigte, brachte sogleich auch ein paar gehörige »Schmähbomben« zu Häupten seines wütenden Feindes zum Platzen. Als er indessen merkte, daß bloße Worte hier nicht die geeigneten Waffen sein konnten, besann er sich ganz von selbst auf ein sicher wirksameres Kampfmittel. Zwar waren nur abgestorbene dürre Aste und Zweige zur Hand, aber das war schließlich besser als nichts. Er schleuderte sie Sabor ins Gesicht, so oft sie immer wieder knurrend zu ihm nach oben blickte; ganz so, wie sein Vater es vor zwanzig Jahren getan, wenn er als Knabe die großen Dschungelkatzen höhnen und auf die Folter spannen wollte.

Die Löwin lief noch eine Zeitlang mit wütendem Geknurr um den Stamm des Urwaldriesen herum. Sodann – mochte sie es nun für zwecklos halten, hier bis in die Nacht gleichsam Posten zu stehen, oder hatte sich der Hunger bei ihr energischer gemeldet – trottete sie in majestätischer Haltung davon und verschwand in dem Dickicht, das ihr Herr und Gebieter zum Lagerplatz ausersehen und während der ganzen Streiterei nicht einen Augenblick verlassen hatte.

Froh, daß Sabor endlich den Rückzug angetreten, kletterten Akut und Jack wieder hinab und setzten ihre so jäh unterbrochene Wanderung fort. Der alte Affe schalt den Jungen wegen seiner Unachtsamkeit von vorhin gehörig aus.

Wärest du nicht so versessen auf den Löwen hinter dir gewesen, würdest du die Löwin viel, viel eher bemerkt haben, brummte der Affe ärgerlich.

Aber du gingst ja direkt an ihr vorbei, ohne daß du etwas von ihr gesehen hast, gab ihm Jack schlagfertig zurück.

Akut geriet in Erregung.

So ist es eben, fuhr er fort. So ist es, wenn das Dschungelvolk daran glauben muß. Ein ganzes Leben lang sind wir immer auf der Hut, und in einem einzigen Augenblick ... sind wir vergeßlich und ...

Er knirschte mit den Zähnen; es klang, wie wenn ein Raubtierrachen die Beute krachend zermalmt. – Es soll wenigstens eine Lehre sein, fuhr er dann fort. Du hast jetzt gelernt, daß du niemals mit Augen, Ohren und Nase gleichzeitig lange nach einundderselben Richtung beobachten darfst.

In der folgenden Nacht fror Tarzans Sohn mehr als je bisher in seinem Leben; denn waren auch die Pyjamahosen nicht gerade besonders dick gewesen, so hatten sie ihm immerhin einigermaßen Schutz gewährt. Am anderen Tage mußte er dann in der glühenden Sonne fast »verbraten«, da sie oft weite baumlose Flächen kreuzten.

Im stillen war Jack noch entschlossen, sich nach Süden zu wenden und nach der Küste abzubiegen, wo er auf irgendeine andere Kolonistensiedlung zu stoßen hoffte. Akut hatte er jedoch nichts von diesem Plan mitgeteilt; er wußte, daß der alte Affe außer sich sein würde, wenn er irgendwie Lunte roch, daß der Gedanke an eine Trennung immer noch im Kopfe des Knaben spukte.

Einen Monat lang streiften die beiden weiter durch Wälder und über weite offene Landstriche; Jack wurde rasch mit dem Gesetz der Dschungel vertraut, und seine Muskeln paßten sich bald den tausendfältigen Aufgaben dieses neuen Lebens an, in das sie gleichsam hineingestoßen worden. Das hatte der Sohn vom Vater ererbt, und es bedurfte eben nur noch eines gewissen Trainings in der Schule der rauhen Wirklichkeit, um seine körperlichen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen. Der Junge fand bald, daß ihm das Klettern und Springen von Baum zu Baum einfach angeboren sein mußte. Selbst in den höchsten Wipfeln spürte er nie den leisesten Schwindel, und als er es dann herausbekommen hatte, wie man sich kunstgerecht von einem Ast zum andern schwang und in welchem Moment man beim Sprunge am besten losließ, konnte er bald rascher und leichter vorwärts kommen als der schwere Akut.

Er war jetzt beinahe allen Unbilden der Witterung ausgesetzt. Seine noch vor kurzem glatte und weiße Haut wurde also immer zäher und widerstandsfähiger, je mehr sie sich unter Sonne und Wind bräunte. Eines Tages badete er; vor Krokodilen brauchte man nicht auf der Hut zu sein, dazu war der Fluß zu klein. Er hatte natürlich seine Pyjamajacke am Ufer abgelegt, und während er sich mit Akut vergnügt in den kühlen Fluten tummelte, war ein kleiner Affe aus dem überhängenden Geäst herabgesprungen, hatte das einzige, was dem Knaben noch von seiner europäischen Ausrüstung geblieben, vor der Nase weggeschnappt und entführt.

Eine Zeitlang war Jack über dieses Mißgeschick recht betrübt; doch sah er dann ein, daß es eigentlich sehr unpraktisch war, halbbekleidet herumzulaufen. Da war es entschieden besser, ganz nackt zu sein. Bald vermißte er seine frühere Bekleidung überhaupt nicht mehr, ja von da an berauschte er sich geradezu an dem stolzen Bewußtsein seiner völligen Freiheit und Ungebundenheit. Ab und zu huschte auch ein besonders überlegenes Lächeln über sein Gesicht; dann suchte er sich allemal das Staunen seiner Schulkameraden vorzustellen, wenn sie ihn jetzt so sehen könnten. Ob sie ihn beneiden würden? O, und wie! Sie taten ihm beinahe leid ... Dann kamen aber auch andere Stunden. Er sah sie mitten im Luxus und in der Behaglichkeit ihrer Elternhäuser drüben in der Heimat, glücklich vereint mit Vater und Mutter ... Da war's, als würge ihn etwas im Halse, so ein dummes komisches Gefühl; dann meinte er das Antlitz seiner Mutter wie im Nebel verschwommen sich nahe zu sehen, und doch hatte er dies Traumbild nicht gerufen ... Und er spornte Akut darauf zu rascherem Vordringen an, weil man gerade wieder einmal westwärts der Küste entgegenwanderte. Der alte Affe meinte, daß man dort irgendwo schließlich auf seine eigenen Stammesgenossen stoßen würde, und Jack hütete sich, ihn eines Besseren zu belehren. Er wollte Akut erst dann in seine wirklichen Pläne einweihen, wenn eine Kolonistensiedlung in greifbarer Nähe vor ihnen lag.

Als sie eines Tages am Ufer eines Flusses langsam dahinschlenderten, stießen sie ganz unerwartet auf ein von Eingeborenen bewohntes Dorf. Kinder spielten am Wasser, und dem Jungen klopfte vor Freude das Herz in der Brust, wie er das sah. Hatte er doch einen Monat lang kein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen! Was tat es, daß das hier nackte Wilde waren und daß sie schwarze Haut hatten? Waren es nicht Menschen wie er, genau nach dem Vorbild ihres Schöpfers? Ja, seine Brüder und Schwestern waren es ..., und er ging auf sie zu.

Akut legte mit einer leisen Warnung eine Hand auf Jacks Arm und wollte ihn zurückhalten; doch der junge Engländer schüttelte ihn ab und rannte mit lauten Willkommrufen den ebenholzschwarzen Kindern entgegen.

Der eigenartige Klang seiner Stimme wirkte indessen wie ein Alarmsignal: Die Kinder reckten ihre Hälse nicht schlecht und starrten für ein paar Sekunden zu dem rätselhaften Fremden hinüber; dann flüchteten sie sich schreiend und angsterfüllt nach dem Dorfe zu, unter die schützenden Fittiche ihrer Mütter, die sofort von ihrer Feldarbeit herbeieilten. Und schon nahte vom Dorftor eine Schar schwarzer Krieger, Speer und Schild, die sie auf das mörderische Geschrei der Kinder hin sofort an sich gerissen, kampfbereit in der Hand.

Akut hatte den Jungen schließlich dazu bewogen, daß er wenigstens nicht weiterlief, als sich die ganze Lage so gefährlich gestaltete; von seinem beglückten hoffnungsfrohen Lächeln war nicht mehr viel zu sehen, wie die schwarzen Krieger jetzt mit wildem Gebrüll und drohenden Gebärden heranrückten. Akut rief ihm nochmals laut zu, er solle auf der Stelle kehrt machen, die Schwarzen würden ihn sonst einfach töten, doch er rührte sich nicht. Er schien ruhig abwarten zu wollen, bis sie heran waren. Dann erhob er jedoch seine Rechte, um den Angreifern mit der entgegengehaltenen offenen Handfläche zu bedeuten, daß sie stehen bleiben sollten. Gleichzeitig rief er ihnen zu, er käme als ihr Freund und er habe nichts anderes im Sinn gehabt, als mit ihren Kindern zu spielen.

Die Eingeborenen verstanden natürlich kein Wort, antworteten aber um so deutlicher mit einem Speerhagel, wie ihn jedes andere nackte Geschöpf, das plötzlich auf ihre Frauen und Kinder aus der Dschungel hervorstürzte, für durchaus selbstverständlich gehalten hätte. Rechts und links und vor ihm sausten die grimmigen Geschosse in die Erde, keines erreichte sein Ziel. Den Jungen durchlief wieder wie neulich jenes seltsame Zittern, die dünnen Haare im Nacken und auf der Kopfhaut schienen sich zu sträuben, er kniff seine Augen zusammen, in denen das freundliche Leuchten von vorhin jäh verglommen und wildem Haßgefunkel gewichen war. Ein leiser knurrender Laut – ganz wie bei einem Raubtier, das enttäuscht abziehen muß – kam über seine Lippen. Dann wandte er sich in rasendem Lauf zur Dschungel zurück. Akut erwartete ihn schon ungeduldig im Schatten eines Baumriesen und spornte ihn zu immer rascherer Flucht an; der alte, erfahrene Menschenaffe wußte genau, daß sie beide nackt und ohne Waffen den sehnigen schwarzen Kriegern nicht gewachsen waren, die zweifellos irgendwie versuchen würden, sie in der Dschungel aufzuspüren, und zu vernichten.

Doch Tarzans Sohn fühlte mit einem Male, wie die Kräfte in ihm wuchsen. Frank und frei und mit offenem Herzen war er diesen Leuten, die doch auch nur Menschen waren, entgegengegangen, um ihnen seine Freundschaft anzubieten –, und dafür hatten sie ihn mit Argwohn und tückischen Speeren überschüttet. Sie hatten ihn nicht einmal hören wollen? Wut und auflodernder Haß verzehrten ihn fast, als er sich das jetzt so vorstellte. Akut mahnte ihn von neuem zur Eile. Er kümmerte sich nicht darum. Nein, kämpfen mußte er, und mochte ihm auch sein Verstand hundertmal sagen, daß es geradezu Wahnsinn, ja Selbstmord war, wenn er allein mit bloßen Armen und Händen und seinen Zähnen der bewaffneten Übermacht trotzen wollte – er hatte eben doch seine Zähne und seine starken Arme ...! Die sollten ihm helfen, wenn die Wilden noch einmal zum Kampfe herausforderten.

Während sie auf halber Höhe der Bäume vordrangen, blickte er immer einmal über seine Schultern nach rückwärts, ohne dabei zu vergessen, daß tausend andere Gefahren ringsum und überall lauern konnten; denn das Erlebnis mit der Löwin bedurfte keiner Wiederholung, er hatte es sich ein für allemal zu Herzen genommen, was ihn jene bangen Minuten gelehrt. Hinter sich hörte er jetzt die Wilden, die rufend und schreiend durch das Dickicht vorrückten. Er wartete, bis die Verfolger in Sicht kamen, dann schwang er sich ihnen unbemerkt in den Bäumen nach; die Schwarzen dachten natürlich nicht im entferntesten daran, daß man diesem menschlichen Wesen auch oben im Geäst der Baumriesen nachspüren müsse.

Etwa eine Meile weit mochten sie so den Wald durchstöbert haben, als sie es aufgaben und sich zur Rückkehr in ihr Dorf anschickten. Das war der geeignete Augenblick, auf den Jack noch gewartet, indessen ihm schon das Blut in den Adern kochte, daß er schließlich seine Verfolger wie in einem scharlachroten Nebel zu seinen Füßen dahinschleichen sah ...

Sie kehrten um – und er folgte ihnen. Von Akut war nichts mehr zu sehen. Er hatte sicher gemeint, daß der Junge von allein nachkommen würde, und war vorausgeeilt, zumal er keine Lust verspürte, das Schicksal herauszufordern und sich unnötig im Bereich dieser todbringenden Speere zu zeigen. Jack schwang sich also vorsichtig von Baum zu Baum und blieb so den heimkehrenden Kriegern immer dicht auf den Fersen. Als dann einer der schwarzen Männer auf dem schmalen Waldpfad, der zum Dorfe führte, hinter den anderen etwas zurückblieb, zuckte ein hartes Lächeln über Jacks Gesicht.

Ein paar rasche kühne Sprünge ... und er war dicht über dem ahnungslosen Schwarzen. Wie Sheeta, der Leopard, sich an sein Opfer heranschleicht, hatte er schon oft beobachtet: Jetzt war er selber Sheeta!

Plötzlich und lautlos stürzte er sich auf die breiten Schultern seiner Beute hernieder, und im Bruchteil einer Sekunde hatten seine tastenden Finger den Hals des Mannes gefunden. Mit der ganzen Wucht seines Körpers schleuderte er den Schwarzen zu Boden und stemmte ihm seine Knie in den Rücken, daß es ihm den Atem verschlug, als er sich zur Wehr setzen wollte. Scharfe weiße Zähne gruben sich tief in das Genick des Eingeborenen, und immer fester klammerten sich kraftgeschwellte Finger um seine Gurgel. Eine Zeitlang suchte der Krieger, der verzweifelt um sein Leben rang, sich noch herumzuwerfen und seinen unerbittlichen Gegner abzuschütteln. Doch das unheimliche Wesen, das stumm und erbittert ihm im Nacken saß, ohne daß er es einmal Auge in Auge zu sehen bekam, war auf der Hut und zerrte ihn langsam in die Büsche abseits vom Waldpfad.


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