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Der Millionenstaat
der Ameisenmenschen

Weit drüben über dem rechten Ufer des Ugogo zog Ska, der Geier, lautlos große Kreise. Das an seinem Halse hängende Anhängsel, das nun in der Sonne glänzte, hinderte ihn beim Fliegen nicht weiter. Nur wenn er sich setzte und über den Boden schritt, war es ihm im Wege. Dann trat er darauf und stolperte. Aber er hatte längst jeden Versuch aufgegeben, das Hindernis loszuwerden, und nahm es als unabwendbares Übel hin. Jetzt erspähte er tief unten die regungslos hingestreckte Gestalt von Gorgo, dem Büffel, dessen Lage erkennen ließ, daß er bereits eine für Ska greifbare Nahrung geworden war. Der Riesenvogel ließ sich erst auf einen Baum in der Nähe herab und spähte. Alles war in Ordnung, kein Feind zu sehen. Zufriedengestellt schwang sich Ska zu dem gestürzten Tiere hin.

*

Meilenweit davon kauerte ein Weißer mit einem kleinen Negermädchen in einem dichten Gebüsch versteckt. Mit einer Hand hielt der Mann der Kleinen den Mund zu, mit der anderen drohte er, ihr das Messer ins Herz zu stoßen. Seine Augen suchten das dichte Gebüsch zu durchdringen, während er auf den Wildpfad hinausspähte, auf dem eben zwei Krieger, schwarz wie Ebenholz, herankamen. Der kleinen Uhha, des Zauberdoktors Khamis Tochter, war die Hilfe jetzt ganz nahe, denn die beiden Jäger kamen aus dem Dorfe des Häuptlings Odebe. Aber das Mädchen wagte keinen Laut zu tun, damit ihm nicht Mirandas Messer ins junge Herz fahre. Und so mußte es die Retter ohne Anruf kommen und wieder weiterziehen lassen. Als sich die Stimmen in der Ferne verloren, erhob sich der Spanier und zerrte die Kleine auf den Wildpfad hinaus. Sie mußte mit ihm wieder die endlose und ziellose Wanderung durch die Dschungel antreten.

*

Tarzan fand in der Stadt der Zwergmenschen warmes Willkommen und entschloß sich, einige Zeit bei ihnen zu verweilen, um Gewohnheiten und Lebensweise des Völkchens kennenzulernen. Wie stets unter neuen unbekannten Verhältnissen, suchte er so rasch wie möglich ihre Sprache zu erlernen. Mit seiner bereits erworbenen Beherrschung mehrerer Sprachen und zahlreicher Dialekte fand er sie nicht schwer zu beherrschen, so daß er sich schon nach ziemlich kurzer Zeit mit seinen Gastfreunden verständigen konnte. Da erfuhr er denn, daß sie ihn zunächst als eine Abart von Alalis angesehen und eine Verständigung anders als durch Zeichen mit ihm für unmöglich gehalten hatten. Sie waren hocherfreut, als sie herausfanden, daß er gleich ihnen Laute hervorbringen konnte. Als sie gar merkten, daß er ihre Sprache zu erlernen wünschte, stellte ihm der König Drohahkis mehrere Lehrer zur Verfügung und gab Befehl, jeder, der mit dem fremden Riesen in Berührung komme, habe ihm die Erlernung der Sprache zu erleichtern.

Drohahkis war dem Affenmenschen darum besonders wohlgeneigt, weil dieser seinen Sohn Florensal aus den Fäusten des Alaliweibes gerettet hatte. So geschah denn alles, um dem großen Gast den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Ein volles Hundert Sklaven war dazu bestellt, ihm sein Mahl zu bringen, sobald er sich an seinen erwählten Ruheplatz in den Schatten eines großen Baumes zurückzog. Wenn er einen Spaziergang durch die Reihen von Häuserkuppeln unternahm, galoppierte stets eine Reitereskorte vor ihm her, um den Weg freizumachen und Unfälle zu verhüten; aber Tarzan war ohnehin so vorsichtig, daß durch ihn niemals ein Unfall vorkam.

Als er erst die Sprache verstand, erfuhr er viel über dies eigenartige Völkchen. Prinz Florensal übernahm fast täglich persönlich den Unterricht seines Riesengastes, und von ihm lernte Tarzan am meisten. Aber auch auf den Spaziergängen durch die Stadt waren dessen Augen nicht müßig. Besonders die bei der Errichtung der ungeheuren Dombauten angewendete Bauweise interessierte den Affenmenschen. Was waren das aber auch für Riesenburgen, die sich diese kleinen Leute schufen! Allein der Palast des Königs hatte über siebzig Meter Durchmesser, war fünfunddreißig Meter hoch und beherbergte in seinen zwei Dutzend Geschossen viele tausend Zwerge. Er war sozusagen ein menschlicher Ameisenhaufen. Die Stadt bestand aus zehn solchen Gebäuden, die alle ein wenig kleiner waren als der Königspalast. Die Einwohnerzahl der ganzen Siedlung betrug etwa eine halbe Million, aber zwei Drittel davon waren Sklaven. Diese bildeten die Handwerker, die Dienerschaft und das Gesinde der herrschenden Klasse. Eine weitere halbe Million der Zwerge, die ungelernten Arbeiter, hauste in den unterirdischen Gewölben der Steinbrüche, aus denen die Bausteine geholt wurden. Beim weiteren Vorgraben und Austunneln zur Gewinnung von Bausteinen wurden nämlich die entstehenden Gänge und Stollen sorgfältig abgestützt und verkleidet, so daß ziemlich wohnliche Räume entstanden. Da die ganze Stadt auf einer Ebene von Steingeröll erbaut war, weil man dort von Anfang an genug Baustoffe zur Hand gehabt hatte, war auch die Lüftung dieser unterirdischen Wohnstätten genügend, so daß die Sklaven nicht unter Luftmangel zu leiden hatten.

Die Dombauten aber wurden von einem weiten bis zur Spitze der Kuppel reichenden Mittelschacht und zahlreichen Fenstern in der Außenhaut gut gelüftet. Zwar ließen diese genügend Licht in die Außenräume, aber der ganze Innenteil der Dome, besonders die finsteren. Räume halbwegs zwischen den Außenfenstern und dem Mittelschacht für Licht und Luft wurden durch riesige, langsambrennende Kerzen ohne Rauchentwicklung erleuchtet.

Tarzan sah dem Bau eines solchen neuen Domhauses mit regem Interesse zu, da es wohl die einzige Gelegenheit für ihn war, jemals das Innere eines dieser merkwürdigen, menschliche Wesen bergenden Menschenameisenhäuser zu sehen. Florensal und seine Freunde zeigten und erklärten Tarzan alles. Ihre Sklaven waren Kriegsgefangene oder deren Nachkommen. Einige von ihnen waren schon so viele Generationen in der Sklaverei, daß sie jede Spur ihrer Herkunft vergessen hatten und sich als ebenso gute Bürger von Trohana, der Stadt des Königs Drohahkis, betrachteten wie die Vornehmen. Im großen ganzen wurden sie gütig behandelt und wenigstens von der zweiten Generation ab nicht mehr ausgenützt. Die neu eingebrachten Gefangenen allerdings und deren unmittelbare Nachkommen wurden als eine Kaste ungelernter Arbeiter gehalten, aus denen das Äußerste an körperlicher Leistung herausgeholt wurde. Sie wurden im Bergwerk, in den Steinbrüchen und zu den Bauten verwendet. Die Kinder der nächsten Generation aber erhielten eine gewisse Erziehung. Die sich zu irgendeinem Handwerk geschickt zeigten, wurden aus den Steinbrüchen in die Domhäuser gebracht, wo sie einen gewerbefleißigen Mittelstand bildeten. Auch noch in anderer Weise konnte jemand aus den Steinbrüchen herauskommen: durch Heirat oder, wie sie es nannten, durch Kürung mit einem Angehörigen der herrschenden Klasse. In einem Gemeinwesen mit so ausgesprochenem Kastengeist, wo die Kaste fast ein Fetisch war, blieb es besonders eigenartig, daß solche Herkunft keinen Makel bildete. Mit der Eheschließung wurde der Tieferstehende ohne weiteres in die Kaste des Höherstehenden erhoben.

Als Tarzan sich eingehend bei Florensal nach den Gründen dieser ungewöhnlichen Kastengesetze erkundigte, erklärte ihm dieser: Vor vielen Jahren, während der Regierung von Amorosal in der Stadt Trohana, zogen die Krieger der Stadt Veltopis gegen unser schönes Trohana. In der folgenden Schlacht wurde das Heer unserer Ahnen fast völlig vernichtet. Tausende unserer Männer und Frauen wurden in die Sklaverei geschleppt, und nur die heldenmütige Gegenwehr unserer eigenen Sklaven rettete uns vor dem völligen Untergang. Mein Ahne Amorosal, der mitten im wildesten Kampfgetümmel focht, bemerkte, daß die Sklaven eine viel größere Ausdauer besaßen als die Freien. Sie waren stärker als die Krieger auf beiden Seiten und schienen nicht im mindesten erschöpft, während die edelgeborenen Angehörigen der Kriegerkaste trotz ihres hohen Mutes schon nach kurzem Gefecht völlig abgekämpft waren. Nach dem Kampfe rief Amorosal den Rest seiner Fürsten zusammen und setzte ihnen auseinander, daß unsere Stadt geschlagen worden sei, nicht sowohl durch die Überzahl des Feindes, als infolge der Tatsache, daß die Kriegerkaste aus Schwächlingen bestehe. Er fragte sie, woher das komme und ob sie kein Mittel dagegen wüßten. Einzig und allein der jüngste unter ihnen, wund und schwach vor Blutverlust wie er war, konnte eine Erklärung finden und einen Weg weisen, der Entartung zu begegnen. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß von allen Minuniern die Bewohner der Stadt Trohana die reinste Rasse seien. Seit vielen Geschlechtern wäre kein frisches Blut in die Bevölkerung hineingekommen, da eine Heirat außerhalb der Kaste durch Gesetz verboten sei, während die Sklaven, die sich aus allen Schichten und Städten von Minuni zusammensetzten, infolge der ständigen Blutmischung stärker und stämmiger waren als ihre infolge Inzucht entarteten Herren.

Er empfahl Amorosal ein Gesetz, durch das jeder Sklave, Mann oder Weib, bei Heirat mit einem Angehörigen der Kriegerkaste zu dessen Stand erhoben werde, und riet zu einer Bestimmung, auf Grund deren jeder Krieger wenigstens eine seiner Frauen aus den Sklavinnen zu nehmen habe. Zunächst erhoben sich natürlich laute und bittere Einwürfe gegen einen so neuerungssüchtigen Vorschlag. Aber Amorosal erfaßte rasch genug die Weisheit dieses Rates und erließ nicht nur das Gesetz, er nahm sich auch als erster eine Sklavin zum Weibe. Da beeilten sich natürlich alle, es dem König nachzutun.

Schon bei der nächsten Generation zeigte sich der Wert dieser Maßnahme, und jedes weitere Geschlecht hat Amorosals Erwartungen mehr als erfüllt, so daß du heute im Volke von Trohana die kraftvollste und kriegstüchtigste Rasse der Minunier siehst.

Unsere alten Erbfeinde, die Städter von Veltopis, waren die ersten, die die neue Bestimmung gleichfalls einführten, Von Sklaven, die sie bei Raubzügen in unser Gebiet machten, erfuhren sie davon. Aber sie kamen erst einige Generationen später als wir dazu. Jetzt freien die Krieger von allen Minunierstädten Sklavenmädchen. Warum auch nicht? Unsere Sklaven stammen ja doch alle von den Kriegerkasten der anderen Städte, aus denen unsere Gefangenen herkommen. Wir gehören alle zur gleichen Rasse, sprechen ein und dieselbe Sprache und haben einheitliche Gebräuche.

Die Zeit hat indes einige kleine Veränderungen in der Art der Ehewahl hervorgebracht. So ist es eine häufig ausgeübte Gewohnheit geworden, eine andere Stadt mit Krieg zu überziehen, nur um deren edelste und schönste Frauen zu rauben. Für uns Angehörige des Königshauses bedeutete die Änderung nichts weniger als Verhütung des Aussterbens. Unsere Ahnen vererbten ihren Nachkommen körperliche und geistige Erkrankungen. Das neue, gesunde und unangekränkelte Blut der Sklaven spülte die Krankheit aus unseren Adern, und das hat unsere Ansichten in dieser Beziehung so geändert, daß das Kind einer Sklavin und eines Kriegers, das früher überhaupt keine Kaste besaß, nunmehr am höchsten steigt, denn heute gilt es für einen Angehörigen des Königshauses für unmoralisch, eine andere als eine Gefangene zum Weibe zu nehmen.

Und deine Gattin? fragte Tarzan. Die hast du dann wohl im Kampfe gegen eine fremde Stadt gewonnen? Ich habe noch keine, entgegnete Florensal. Wir wollen aber demnächst Veltopis mit Krieg überziehen. Wie mir die Sklaven aus jener Stadt sagen, hat deren König das schönste Mädchen der Welt zur Tochter. Sie heißt Dschansara. Da sie mit mir nicht oder nur ganz entfernt verwandt sein kann, gibt sie eine passende Gattin für den Sohn von Drohahkis.

Woher weißt du denn, daß sie nicht mit dir verwandt ist? fragte der Affenmensch.

Wir führen ebenso genaue Listen über die Stammbäume des Königshauses von Veltopis und einiger anderer in der Nähe wie über unseren eigenen, erwiderte Florensal. Die Unterlagen dafür bekommen wir von den Gefangenen, und zwar von denen, die zur Ehe in unser eigenes Volk gewählt sind. Seit einigen Generationen waren die Könige von Veltopis nicht mächtig oder erfolgreich genug, uns unsere Prinzessinnen durch Gewalt oder List zu rauben, obgleich sie es nie unversucht gelassen haben. Daher mußten sie sich Frauen in anderen, oft weit entfernten Städten suchen.

Der derzeitige König von Veltopis, Moelhago, Vater der Prinzessin Dschansara, gewann sich deren Mutter von einer fernen Stadt, die niemals Sklaven von Trohana erbeutet hat. Auch kann sich keiner erinnern, daß unsere Krieger jemals jene Stadt heimgesucht hätten. Dschansara würde daher eine durchaus geeignete Gattin für mich sein.

Aber wie steht es mit der Liebe? forschte Tarzan. Angenommen, ihr könnt euch nicht verstehen?

Florensal zuckte die Achseln: Sie muß mir einen Sohn schenken, der eines Tages König von Trohana sein wird, mehr kann ich nicht verlangen.

Während die Vorbereitungen zu der Unternehmung gegen Veltopis betrieben wurden, blieb Tarzan meist sich selbst überlassen. Das Leben und Treiben des Zwergvolkes bot ihm dafür eine unerschöpfliche Quelle des Interesses. Er sah den endlosen Reihen von Sklaven zu oder er wandelte über das Ackerland jenseits der Stadt. Die Gespanne wurden von Diadets gezogen, so nannten sie die Zwergantilopen, die ihre Last- und Arbeitstiere bildeten. Die Sklaven waren stets von Wachen begleitet, um einerseits einer Flucht oder Meuterei vorzubeugen, andererseits sie vor wilden Tieren und Raubvögeln gleichzeitig zu schützen. Diese Sklaven der ersten und zweiten Generation waren leicht an dem hellgrünen Kittel zu erkennen, der das Abzeichen ihrer Kaste bildete. Er reichte bis zu den Knien und trug auf Rücken und Brust ein Wappen oder Abzeichen in schwarzer Farbe, das seine Geburtsstadt und den Namen seines Besitzers angab. Die an den öffentlichen Bauten beschäftigten Sklaven gehörten alle dem Könige Drohahkis, aber draußen im Felde sah man häufig die vornehmen Familien durch ihre Sklaven vertreten.

Im Innern der Stadt gingen Tausende von Sklaven in weißen Kitteln ihren Geschäften nach. Sie betrieben ihr Gewerbe und verkauften ihre Waren in völliger Freiheit. Diese Sklaven der höheren Kasten trugen andere, weniger auffällige Marken auf ihren Kitteln; kleine Zeichen auf einer oder beiden Schultern oder am Ärmel kündeten die Beschäftigung des Hörigen. Reitknecht, Leibdiener, Hausmeister, Koch, Haarkünstler, Gold- und Silberarbeiter, Töpfer – mit einem Blicke konnte man den Beruf eines jeden erkennen – alle gehörten sie mit Leib und Seele ihrem Herrn, der dafür verpflichtet war, sie zu ernähren und zu kleiden, während sie ihm die Früchte ihrer Arbeit restlos abliefern mußten.

Mit diesen interessanten Beobachtungen vertrieb sich Tarzan den lieben langen Tag. Auf seine wiederholten Fragen, wie er aus dieser verschrobenen dornumwallten Welt seinen Weg hinausfinden könne, erwiderten seine Wirte stets, daß es zwecklos sei, den Dornwald durchdringen zu wollen, da er sich unendlich weit bis zu den Grenzen der Welt ausdehne. Ihr Weltbegriff beschränkte sich natürlich auf das, was sie sehen konnten, auf ihr Land von Hügeln, Tälern und Wäldern innerhalb des Ringes aus Dornwäldern. Für Geschöpfe ihres Wuchses war zwar das Dornendickicht keineswegs undurchdringlich, nur war Tarzan eben weit größer als sie. Aber er fand die Minunier recht interessant, und da er wieder einmal eine seiner primitiven Urmenschenstimmungen hatte, behagte es ihm, noch einige Zeit in der Stadt Trohana müßig zu verbringen, ehe er sich einen Weg suchte.

Aber eines schönen Morgens, beim ersten Tagesgrauen in aller Frühe, kam ein Zwischenfall.


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