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VI. Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte

In unserem eigenen Leben sind wir gewöhnt, das uns Gewordene teils als Glück, teils als Unglück aufzufassen und tragen dies wie selbstverständlich auf die vergangenen Zeiten über.

Obwohl uns von Anfang an dabei Zweifel aufsteigen müßten, indem je nach Lebensaltern und Erfahrungen unser Urteil in eigenen Sachen sich stark ändern kann; erst die letzte Lebensstunde gewährt den abschließenden Spruch über diejenigen Menschen und Dinge, mit welchen wir in Berührung gekommen sind; – und dieser Spruch kann ganz verschieden lauten, je nachdem wir im vierzigsten oder im achtzigsten Jahre sterben; – und er hat doch nur eine subjektive Wahrheit für uns selbst und keine objektive. Das erlebt vollends jeder, daß ihm früher gehegte Wünsche später als Torheit vorkommen.

Trotz allem aber haben sich geschichtliche Urteile über Glück und Unglück in der Vergangenheit gebildet, sowohl solche über einzelne Ereignisse als solche über ganze Zeiten und Zustände, und zwar liebt derartige Urteile hauptsächlich die neuere Zeit.

Wohl gibt es auch einige ältere Aussagen. Das Wohlbehagen einer über Dienende herrschenden Klasse spricht sich hin und wieder, z.B. im Skolion des Hybreas Vgl. S. 58 Anm. 1. aus; Machiavelli Stor. Fior. II. rühmt das Jahr 1298, freilich um den gleich darauf erfolgten Umschlag damit in Kontrast zu setzen, und ähnlich zeichnet Justinger das Bild des alten Bern um 1350. Dies alles ist zwar viel zu lokal und das betreffende Glück beruhte zum Teil auf den Leiden anderer; doch haben immerhin diese Aussagen wenigstens die Naivität für sich und sind nicht im Sinne weltgeschichtlicher Perspektiven ersonnen.

Wir aber urteilen z. B. folgendermaßen: es war ein Glück, daß die Griechen über die Perser, Rom über Karthago siegte –

ein Unglück, daß Athen im peloponnesischen Kriege den Spartanern unterlag –

ein Unglück, daß Cäsar ermordet wurde, bevor er dem römischen Weltreich eine angemessene Form sichern konnte –

ein Unglück, daß in der Völkerwanderung so unendlich vieles von den höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes unterging –

ein Glück aber, daß die Welt dabei erfrischt wurde durch neuen gesunden Völkerstoff –

ein Glück, daß Europa im VIII. Jahrhundert sich im ganzen des Islams erwehrte –

ein Unglück, daß die deutschen Kaiser im Kampf mit den Päpsten unterlagen, und daß die Kirche eine so furchtbare Gewaltherrschaft entwickeln konnte –

ein Unglück, daß die Reformation sich nur in halb Europa vollzog und daß der Protestantismus sich in zwei Konfessionen teilte –

ein Glück, daß Spanien und dann Ludwig XIV. mit ihren Weltherrschaftsplänen am Ende unterlagen usw.

Freilich, je näher der Gegenwart, desto mehr gehen dann die Urteile auseinander. Man könnte aber sagen, daß damit gegen das Urteilen an sich nichts bewiesen sei, indem dasselbe, sobald man eine etwas größere Zeitenfolge übersehe, sein gutes Recht habe und die Ursachen und Wirkungen, die Ereignisse und Folgen richtig schätzen könne.

Eine optische Täuschung spiegelt uns das Glück in gewissen Zeiten, bei gewissen Völkern vor, und wir malen es nach Analogie der menschlichen Jugend, des Frühlings, des Sonnenaufgangs und in andern Bildern aus. Ja wir denken es uns in einer schönen Gegend, in einem bestimmten Hause wohnhaft, etwa wie abendlicher Rauch aus einer entfernten Hütte die Wirkung hat, daß wir uns eine Vorstellung von der Innigkeit zwischen den dort Wohnenden machen. Auch ganze Zeitalter gelten als glücklich oder unglücklich; die glücklichen sind die sogenannten Blütezeiten der Menschheit. Ernstlich wird etwa hiefür das perikleische Zeitalter in Anspruch genommen, in welchem der Höhepunkt des ganzen Lebens des Altertums in bezug auf Staat, Gesellschaft, Kunst und Poesie erkannt wird. Andere dergleichen Zeitalter, z.B. die Zeit der guten Kaiser, sind, als zu einseitig gewählt, aufgegeben worden. Doch sagt noch Renan Questions contemporaines S. 44. von den drei Jahrzehnten zwischen 1815 und 1848, es seien die besten, welche Frankreich und vielleicht die Menschheit erlebt habe.

Als eminent unglücklich gelten natürlich alle Zeiten großer Zerstörung, indem man das Glücksgefühl des Siegers (und zwar mit Recht) nicht zu rechnen pflegt.

Es ist erst ein Zug der neueren Zeit, denkbar erst bei dem neueren Betrieb der Geschichte, solche Urteile zu fällen. Das Altertum glaubte an ein ursprüngliches goldenes Zeitalter, auf welches hin die Dinge immer schlimmer geworden; Hesiod malt das »jetzige« eiserne Zeitalter mit düsteren Nachtfarben. In der jetzigen Zeit macht sich eher eine Theorie der wachsenden Vervollkommnung (der sogenannte Fortschritt) zugunsten von Gegenwart und Zukunft geltend. – So viel lassen die prähistorischen Entdeckungen erraten, daß die vorgeschichtlichen Zeiten des Menschengeschlechts in großer Dumpfheit, halbtierischer Angst, Kannibalismus usw. möchten dahingegangen sein. Jedenfalls sind diejenigen Epochen, welche bisher als Jugendalter der einzelnen Völker galten, nämlich diejenigen, in welchen sie zuerst kenntlich auftreten, an sich schon sehr abgeleitete und späte Zeiten.

Wer ist es nun aber, der im ganzen diese Urteile fällt? Es ist eine Art von literarischem Konsensus, allmählich angehäuft aus Wünschen und Räsonnements der Aufklärung und aus den wahren oder vermeinten Resultaten einer Anzahl vielgelesener Historiker.

Auch verbreiten sie sich nicht absichtslos, sondern sie werden oft publizistisch verbraucht zu Beweisen für oder gegen bestimmte Richtungen der Gegenwart. Sie gehören mit zu dem umständlichen Gepäck der öffentlichen Meinung und tragen zum Teil sehr deutlich (schon in der Heftigkeit, resp. Grobheit ihres Auftretens) den Stempel der betreffenden Zeitlichkeit. Sie sind die Todfeinde der wahren geschichtlichen Erkenntnis.

Und nun mögen einige ihrer Einzelquellen nachgewiesen werden.

Vor allem haben wir es mit dem Urteil aus Ungeduld zu tun. Es ist spezifisch dasjenige des Geschichtsschreibers und Geschichtslesers und entsteht, wenn man sich zu lange mit einer Epoche hat beschäftigen müssen, zu deren Beurteilung vielleicht die Kunde, vielleicht auch nur unsere Anstrengung nicht hinreicht. Wir wünschen, die Dinge möchten geschwinder gegangen sein und würden z.B. von den sechsundzwanzig ägyptischen Dynastien einige aufopfern, damit nur endlich König Amasis und sein liberaler Fortschritt Meister würden. Die Könige von Medien, obwohl ihrer nur vier sind, machen uns ungeduldig, weil wir so wenig von ihnen wissen, während das große Phantasieobjekt Cyrus bereits vor der Tür zu warten scheint. Summa: wir nehmen Partei für das uns Ignoranten interessant Erscheinende als für ein Glück, gegen das Langweilige als gegen ein Unglück. Wir verwechseln das Wünschbare entlegener Zeiten (wenn es eins gab) mit dem Ergötzen unserer Einbildungskraft.

Bisweilen suchen wir uns hierüber durch eine scheinbar edlere Auffassung zu täuschen, während uns doch nur eine retrospektive Ungeduld bestimmt.

Wir bedauern vergangene Zeiten, Völker, Parteien, Bekenntnisse usw. als unglücklich, welche lange Zeit um ein höheres Gut gekämpft haben. Gerade wie man heute den Richtungen, welche beim Einzelnen in Gunsten sind, gerne die Kämpfe ersparen und den Sieg ohne Mühe pflücken möchte, so auch in der Vergangenheit. Wir bemitleiden z.B. die römischen Plebejer und die Athener vor Solon in ihrem Kampf von Jahrhunderten gegenüber den harten Patriziern und Eupatriden und dem erbarmungslosen Schuldrecht derselben.

Allein erst durch den langen Kampf war nun einmal der Sieg möglich und die Lebensfähigkeit und der hohe Wert der Sache erweisbar.

Und dann wie kurz war die Freude, und wie nehmen wir ein Hinfälliges in Schutz gegen ein anderes Hinfälliges! Athen geriet mit der Zeit durch den Sieg der Demokratie in politische Ohnmacht, und Rom eroberte Italien und endlich die Welt unter unendlichen Leiden der Völker und bei starker innerer Entartung.

Besonders aber meldet sich diese Stimmung, der Vergangenheit ihre Kämpfe ersparen zu wollen, bei der Betrachtung von Religionskriegen. Es empört, daß irgend eine Wahrheit (oder was uns dafür gilt) sich nur durch äußere Gewalt solle Bahn machen können, und daß sie, wenn diese nicht genügt, unterdrückt wird. Unfehlbar verliert auch während längerer Kämpfe die Wahrheit innerlich von ihrer Reinheit und Weihe durch die zeitlichen Absichten ihrer Vertreter und Parteigänger. So erscheint es uns als ein Unglück, daß die Reformation politisch in der Welt Stellung fassen, materiell gegen eine furchtbare materielle Gegnerschaft kämpfen und dabei Regierungen zu Vertretern haben mußte, welchen oft mehr an den Kirchengütern als an der Religion gelegen war.

Allein absolut nur im Kampf, und zwar nicht nur in der gedruckten Polemik, entwickelt sich das ganze, volle Leben, das aus Religionsstreitigkeiten kommen muß; nur der Kampf macht auf beiden Seiten alles bewußt; nur durch ihn, und zwar in allen Zeiten und Fragen der Weltgeschichte, erfährt der Mensch, was er eigentlich will und was er kann. Zunächst wurde auch der Katholizismus wieder eine Religion, was er eben kaum noch gewesen war; dann wurde der Geist nach tausend Seiten hin geweckt, Staatsleben und Kultur mit dem religiösen Kampf in alle mögliche Verbindung und Gegensatz gebracht und am Ende die Welt umgewandelt und geistig unermeßlich bereichert, was bei bloßem glattem Gehorsam unter dem neuen Glauben unterblieben wäre.

Ferner das Urteil nach der Kultur. Es besteht darin, daß man Glück und Moralität eines vergangenen Volkes oder Zustandes nach der Verbreitung der Schulbildung, der Allerweltskultur und des Komforts im Sinne der Neuzeit beurteilt, wobei dann gar nichts die Probe besteht und alle vergangenen Zeitalter nur mit einem größeren oder geringeren Grade des Mitleids abgefertigt werden. »Gegenwart« galt eine Zeitlang wörtlich gleich Fortschritt, und es knüpfte sich daran der lächerlichste Dünkel, als ginge es einer Vollendung des Geistes oder gar der Sittlichkeit entgegen. Unvermerkt wird dabei auch der Maßstab der unten zu besprechenden Sekurität mit ins Spiel gezogen, und ohne diese und ohne die eben geschilderte Kultur könnten wir allerdings nicht mehr leben. Aber ein einfaches, kräftiges Dasein, noch mit dem vollen physischen Adel der Rasse, unter beständiger gemeinsamer Gegenwehr gegen Feinde und Bedrücker ist auch eine Kultur und möglicherweise mit einer hohen inneren Herzenserziehung verbunden. Der Geist war schon früh komplett! Und die Erkundigung nach moral progresses überlassen wir billig Buckle, der sich so naiv verwundert, wenn sich keine finden wollen, während sie sich doch auf das Leben des Einzelnen, nicht auf ganze Zeitalter beziehen. Vgl. oben S. 94 ff. Wenn schon in alten Zeiten einer für andere das Leben hingab, so ist man seither darüber nicht mehr hinausgekommen.

Es folgt nun, indem wir hier mehreres zusammenfassen, das Urteil nach dem Geschmack überhaupt. Dasselbe hält diejenigen Zeitalter und Völker für glücklich, in und bei welchen das Element besonders mächtig war, welches jedem gerade das teuerste ist. Je nachdem nun Gemüt, Phantasie oder Verstand vorherrschen, wird man solchen Zeiten und Völkern die Krone reichen, da eine möglichst große Quote von Menschen sich ernsthaft mit den übersinnlichen Dingen beschäftigte, oder da Kunst und Poesie herrschten und möglichst viele Zeit und Teilnahme für edlere Geistesarbeit und Kontemplation übrig hatten, oder da möglichst viele Leute guten Verdienst hatten und alles rastlos für Gewerbe und Verkehr tätig war.

Mit Leichtigkeit könnte man allen dreien beweisen, wie einseitig ihr Urteil ist, wie wenig es das ganze damalige Leben umfaßt, und wie unerträglich ihnen der Aufenthalt in jenen gepriesenen Zeiten aus verschiedenen Gründen sein würde.

Auch das Urteil nach der politischen Sympathie läßt sich oft hören. Der eine kann die vergangenen Zeiten z.B. nur da für glücklich halten, wo Republik, der andere nur da, wo Monarchie gewesen ist; der eine nur, wo beständig heftige Bewegung, der andere nur, wo Ruhe herrscht; denken wir dabei z.B. an Gibbons Ansicht von der Zeit der guten Kaiser als der glücklichsten des Menschengeschlechts überhaupt.

Diese Urteile heben einander gegenseitig von selbst auf. Und vollends diejenigen, welche das Glück der vergangenen Zeiten je nach der Konfession des Urteilenden bemessen.

Schon bei den obigen Fällen, zumal bei der Kultur, spielt stellenweise das Urteil nach der Sekurität hinein. Dasselbe verlangt als Vorbedingung jeglichen Glückes die Unterordnung der Willkür unter polizeilich beschütztes Recht, die Behandlung aller Eigentumsfragen nach einem objektiv feststehenden Gesetz, die Sicherung des Erwerbs und Verkehrs im größten Maßstab. Unsere ganze jetzige Moral ist auf diese Sekurität wesentlich orientiert, d.h. es sind dem Individuum die stärksten Entschlüsse der Verteidigung von Haus und Herd erspart, wenigstens in der Regel. Und was der Staat nicht leisten kann, das leistet die Assekuranz, d. h. der Abkauf bestimmter Arten des Unglücks durch bestimmte jährliche Opfer. Sobald die Existenz oder deren Rente wertvoll genug geworden ist, ruht auf dem Unterlassen der Assekuranz sogar ein sittlicher Vorwurf. An dieser Sekurität fehlte es nun in bedenklichem Grade in mehreren Zeitaltern, welche sonst einen ewigen Glanz um sich verbreiten und in der Geschichte der Menschheit bis aufs Ende der Tage eine hohe Stelle einnehmen werden.

Nicht nur in der Zeit, welche Homer schildert, sondern auch offenbar in derjenigen, in welcher er lebte, versteht sich der Raubüberfall von selbst, und Unbekannte werden ganz höflich und harmlos darüber befragt. Die Welt wimmelt von freiwilligen und unfreiwilligen Mördern, welche bei den Königen Gastfreundschaft genießen, und selbst Odysseus in einem seiner ersonnenen Lebensläufe dichtet sich eine Mordtat an. Daneben aber welche Einfachheit und welcher Adel der Sitte! Und eine Zeit, da der epische Gesang als Gemeingut vieler Sänger und als allverständliche Wonne der Nation von Ort zu Ort wanderte, wird man ewig um ihr Schaffen und Empfinden, um ihre Macht und ihre Naivität beneiden. Denken wir dabei nur an die eine Gestalt der Nausikaa.

Die Zeit des Perikles in Athen war vollends ein Zustand, dessen Mitleben sich jeder ruhige und besonnene Bürger unserer Tage verbitten würde, in welchem er sich todesunglücklich fühlen müßte, selbst wenn er nicht zu der Mehrzahl der Sklaven und nicht zu den Bürgern einer Stadt der attischen Hegemonie, sondern zu den Freien und zu den athenischen Vollbürgern gehörte. Enorme Brandschatzung des Einzelnen durch den Staat und beständige Inquisition in betreff der Erfüllung der Pflichten gegen denselben durch Demagogen und Sykophanten waren an der Tagesordnung. Und dennoch muß ein Gefühl des Daseins in den damaligen Athenern gelebt haben, das keine Sekurität der Welt aufwiegen könnte.

Sehr beliebt ist in den jetzigen Zeiten das Urteil nach der Größe. Schlözer traktierte einen Miltiades usw. wie Dorfschulzen. Man kann zwar dabei nicht leugnen, daß rasch und hoch entwickelte politische Macht herrschender Völker und Einzelner nur zu erkaufen war durch das Leiden von Unzähligen; allein man veradelt das Wesen des Herrschers und seiner Umgebung nach Kräften So Plutarch in De fortuna Alexandri. und legt in ihn alle möglichen Ahnungen derjenigen Größe und Güte, welche später sich an die Folgen seines Tuns angeknüpft hat. Endlich setzt man voraus, der Anblick des Genius habe verklärend und beglückend auf die von ihm behandelten Völker gewirkt.

Mit dem Leiden der Unzähligen aber verfährt man als mit einem »vorübergehenden Unglück« äußerst kühl; man verweist auf die unleugbare Tatsache, daß dauernde Zustände, also nachheriges »Glück«, sich überhaupt fast nur dann gebildet haben, wenn schreckliche Kämpfe die Machtstellung so oder so entschieden hatten; in der Regel beruht Herkommen und Dasein des Urteilenden auf so gewonnenen Zuständen, und daher seine Nachsicht.

Und nun endlich die gemeinsame Quelle, die durch alle diese Urteile hindurchsickert, das schon längst durch alles Bisherige hindurchklingende Urteil des Egoismus! »Wir« urteilen so und so; freilich ein anderer, der – vielleicht auch aus Egoismus – das Gegenteil meint, sagt auch »wir«, und in absolutem Sinne ist damit so viel erreicht als mit den Wünschen nach Regen oder Sonnenschein je nach den Interessen des einzelnen Landbauers.

Unsere tiefe und höchst lächerliche Selbstsucht hält zunächst diejenigen Zeiten für glücklich, welche irgend eine Ähnlichkeit mit unserem Wesen haben; sie hält ferner diejenigen vergangenen Kräfte und Menschen für löblich, auf deren Tun unser jetziges Dasein und relatives Wohlbefinden gegründet scheint.

Ganz als wäre Welt und Weltgeschichte nur unsertwillen vorhanden. Jeder hält nämlich seine Zeit für die Erfüllung der Zeiten und nicht bloß für eine der vielen vorübergehenden Wellen. Hat er Ursache zu glauben, daß er ungefähr das ihm Erreichbare erreicht hat, so versteht sich diese Ansicht von selbst; wünscht er, daß es anders werde, so hofft er, auch dies in Bälde zu erleben und noch selber bewirken zu helfen.

Alles Einzelne aber, und wir mit, ist nicht nur um seiner selbst, sondern um der ganzen Vergangenheit und um der ganzen Zukunft willen vorhanden.

Diesem großen und ernsten Ganzen gegenüber sind die Ansprüche der Völker, Zeiten und Individuen auf dauerndes oder nur momentanes Glück und Wohlbefinden nur von sehr untergeordneter Bedeutung; denn weil das Leben der Menschheit ein Ganzes ist, stellen dessen zeitliche und örtliche Schwankungen nur für unsere schwachen Organe ein Auf und Nieder, ein Heil und Unheil dar, in Wahrheit aber gehören sie einer höheren Notwendigkeit an.

Wir müßten überhaupt suchen, den Ausdruck »Glück« aus dem Völkerleben loszuwerden und durch einen anderen zu ersetzen, während wir, wie sich weiter zeigen wird, den Ausdruck »Unglück« beizubehalten haben. Die Naturgeschichte zeigt uns einen angstvollen Kampf ums Dasein, und dieser nämliche Kampf erstreckt sich bis weit in Völkerleben und Geschichte hinein.

»Glück« ist ein entweihtes, durch gemeinen Gebrauch abgeschliffenes Wort. Wohin käme man, wenn eine allgemeine Abstimmung nach der Kopfzahl auf der ganzen Erde über die Definition desselben zu entscheiden hätte? Vor allem: nur das Märchen nimmt einen sich gleich bleibenden Zustand für Glück. Die kindliche Anschauung, wie sie etwa hier lebt, mag das Bild eines dauernden festlichen Wohlbefindens (zwischen Olymp und Schlaraffenland in der Mitte) festzubannen suchen. Und auch damit ist es nicht einmal gründlicher Ernst: wenn endlich die bösen Zauberer tot, die bösen Feen bestraft sind, dann regieren Abdallah und Fatime freilich als ein glückliches Königspaar bis in ihr hohes Alter weiter; aber die Phantasie gibt ihnen eigentlich gleich nach dem Ende ihrer Prüfungen den Abschied, um sich weiter nicht mehr für sie, sondern für Hassan und Suleika oder Leila oder ein anderes Paar zu interessieren. Und doch ist schon der Schluß der Odyssee so viel wahrer; die Prüfungen des Dulders werden fortdauern, und zunächst harrt seiner noch eine schwere Pilgerfahrt.

Die Anschauung von einem Glück, welches in einem Verharren in einem bestimmten Zustande bestände, ist an sich falsch. Sowie wir von einem primitiven oder Naturzustande absehen, wo ein Tag dem andern, ein Jahrhundert dem andern gleichsieht, bis durch einen Bruch das geschichtliche Leben beginnt, müssen wir uns sagen: das Verharren würde zur Erstarrung und zum Tode; nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben. Und vor allem ist die Vorstellung vom Glück als einer positiven Empfindung schon falsch, während es nur Abwesenheit des Schmerzes ist, höchstens mit einem leisen Gefühl des Wachstums verbunden.

Freilich gibt es stillgestellte Völker, welche in ihrer Gesamterscheinung Jahrhunderte hindurch ein und dasselbe Bild gewähren und dadurch den Eindruck einer leidlichen Zufriedenheit mit ihrem Schicksal machen. Allein meist wird dies die Wirkung des Despotismus sein. Dieses entsteht von selbst, indem eine (vermutlich sehr mühsam) einmal erreichte Form von Staat und Gesellschaft gegen das Emportauchen widerstrebender Kräfte verteidigt werden muß, und zwar mit allen, auch den äußersten Mitteln. Die erste Generation ist dabei gewiß meist unglücklich, die folgenden aber wachsen schon unter dieser Voraussetzung heran und heiligen zuletzt das, was sie nicht mehr ändern können und wollen, und preisen es vielleicht als höchstes Glück. Als die Spanier materiell am Aussterben waren, hielten sie ein hohes Pathos aufrecht, sobald es sich um die Herrlichkeit des kastilischen Namens handelte. Man sieht nicht, daß der Druck der Regierung und der Inquisition sie im geringsten innerlich erniedrigt hätte; ihre größten Künstler und Dichter fallen in diese Zeit.

Solche stationären Völker und Völkerzeiten sind vielleicht dazu da, bestimmte geistige, seelische, auch materielle Güter aus einer Vorzeit zu bewahren und sie unberührt einer Zukunft als Ferment zu überliefern. Auch ist ihre Ruhe keine absolute, tödliche, sondern einem guten Schlaf zu vergleichen.

Andere Zeitalter, Völker, Individuen dagegen gehören zu denjenigen, welche zeitweise ihre Kräfte, ja ihre ganzen Kräfte in rascher Bewegung ausgeben. Ihre Bedeutung ist die, Altes zu zerstören und Neuem Bahn zu machen; zu irgend einem eigenen dauernden Glück aber – und mit Ausnahme der kurzen Augenblicke des Siegesjubels auch nur zu einem vorübergehenden – sind sie nicht geschaffen. Ihre neuernde Kraft beruht nämlich auf einer beständigen Unzufriedenheit, die sich auf jeder erreichten Station langweilt und nach einer weiteren Form verlangt.

Und zwar tritt dies Streben – wie wichtig auch seine Folgen, wie groß die historische Bestimmung sei – tatsächlich und zeitlich doch im Gewände des unergründlichsten menschlichen Egoismus auf, welcher andern seinen Willen auferlegen und seine Satisfaktion auf deren Gehorsam gründen muß, dabei aber nie genug Gehorsam und Verehrung zu genießen meint und im großen sich jede Gewalttat erlaubt. Vgl. oben S. 60 ff.

Und nun ist das Böse auf Erden allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub in den früheren Zeiten, durch Verdrängung resp. Vertilgung oder Knechtung schwächerer Rassen, schwächerer Völker innerhalb derselben Rasse, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes. Wir erinnern hier an die Prophezeiung Hartmanns: Philosophie d. Unbew. S. 341/3.

Der Stärkere ist als solcher noch lange nicht der Bessere. Auch in der Pflanzenwelt ist ein Vordringen des Gemeineren und Frecheren hie und da erweisbar. In der Geschichte aber bildet das Unterliegen des Edlen, weil es in der Minorität ist, besonders für solche Zeiten eine große Gefahr, da eine sehr allgemeine Kultur herrscht, welche sich alle Rechte der Majorität beilegt. Und nun waren alle diese unterlegenen Kräfte vielleicht edler und besser; allein die Sieger, obwohl nur von Herrschsucht vorwärts getrieben, führen eine Zukunft herbei, von welcher sie selbst noch keine Ahnung haben. Nur in der Dispensation der Staaten vom allgemeinen Moralgesetz, bei fortwährender Geltung desselben für den einzelnen, blickt etwas wie eine Ahnung durch. Das größte Beispiel bietet das römische Weltreich, begonnen mit den entsetzlichsten Mitteln – bald nach Erlöschen des Kampfes zwischen Patriziern und Plebejern – in Gestalt der Samniterkriege, vollendet durch Unterwerfung von Orient und Okzident mit unermeßlichen Strömen von Blut.

Hier erkennen wir im großen einen wenigstens für uns recht scheinbaren weltgeschichtlichen Zweck: die Schöpfung einer gemeinsamen Weltkultur, wodurch auch die Verbreitung einer neuen Weltreligion möglich wurde, beides überlieferbar auf die barbarischen Germanen der Völkerwanderung als künftiger Zusammenhalt eines neuen Europas.

Allein daraus, daß aus Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht, daß Böses und Unglück nicht anfänglich waren, was sie waren. Jede gelungene Gewalttat war böse und ein Unglück und allermindestens ein gefährliches Beispiel. Wenn sie aber Macht begründete, so kam in der Folge die Menschheit heran mit ihrem unermüdlichen Streben, bloße Macht in Ordnung und Gesetzlichkeit umzuwandeln; sie brachte ihre heilen Kräfte herbei und nahm den Gewaltzustand in die Kur. Vgl. oben S. 62 f.

Und das Böse herrscht bisweilen lange als Böses auf Erden, nicht bloß bei Fatimiden und Assassinen. Der Fürst dieser Welt ist laut der christlichen Lehre Satan. Nichts Unchristlicheres, als der Tugend eine dauernde Herrschaft, einen materiellen Gotteslohn auf Erden zu verheißen, wie die Kirchenschriftsteller den christlichen Kaisern versprachen. Aber das herrschende Böse hat eine hohe Bedeutung: nur neben ihm gibt es ein uneigennütziges Gutes. Es wäre ein unerträglicher Anblick, wenn infolge konsequenter Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen hienieden die Bösen alle aus Zweckmäßigkeit anfingen, sich gut aufzuführen; denn unvermeidlich vorhanden und innerlich böse wären sie ja doch. Man könnte in die Stimmung kommen, den Himmel wieder um einige Straflosigkeit der Bösen auf Erden zu bitten, nur damit dieselben wenigstens ihre wahren Züge wieder an den Tag legten. Es ist schon so Verstellung genug in der Welt.

Suchen wir nun auch einigen der erlaubtesten Klagen der Weltgeschichte den unserer Ahnung zugänglichen Trost gegenüberzustellen.

Zunächst hat zwar gar nicht jede Zerstörung auch Verjüngung zur Folge. So wie das Zerstören des edleren Pflanzenwuchses ein Land auf ewig zur verbrannten Wüste machen kann, so wird sich auch ein zu übel mißhandeltes Volk nie mehr erholen. Es gibt (wenigstens scheinbar) absolut zerstörende Mächte, unter deren Hufschlag kein Gras mehr wächst. Asien scheint dauernd und auf alle Zeiten durch die zweimalige Herrschaft der Mongolen in seiner wesentlichen Kraft geknickt worden zu sein; besonders Timur wütete entsetzlich mit seinen Schädelpyramiden und seinen Mauern aus Stein, Kalk und lebenden Menschen. Es ist gut, daß man sich beim Bilde eines solchen Zerstörers, wie er seinen und seines Volkes Egoismus im Triumph durch die rauchenden Ruinen der Welt spazieren führt, davon Rechenschaft gebe, mit welcher Wucht das Böse sich zu Zeiten vordrängen darf. In solchen Ländern wird man auf ewig nie mehr an Recht und an menschliche Güte glauben. Und doch hat er vielleicht Europa vor den Osmanen gerettet; man denke sich ihn hinweg und Bajazeth und die Hussiten zugleich sich über Deutschland und Italien werfend! Die späteren Osmanen, Volk und Sultane, so schrecklich sie für Europa waren, haben doch nicht mehr jenen Höhepunkt der Kraft erreicht, welchen Bajazeth I. vor der Schlacht bei Angora darstellte.

Es gibt schon in den alten Zeiten ein entsetzliches Bild, wenn man sich die Summe von Verzweiflung und Jammer vorstellt, welche das Zustandekommen z.B. der alten Weltmonarchien voraussetzte. Unser besonderes Mitleid würden vielleicht jene Einzelvölker verdienen, welche in verzweifeltem Kampfe um ihre Nationalität den Königen von Persien, vielleicht schon denjenigen von Assyrien und Medien unterlegen sein müssen. All die einsamen Königsburgen der Einzelvölker (Hyrkanier, Baktrier, Sogdianer, Gedrosier u.a.), welche Alexander antraf, bezeichnen lauter entsetzliche letzte Kämpfe, von welchen wir nichts mehr wissen. Haben sie umsonst gekämpft?

Ganz anders stellen sich zu unserem Gefühl diejenigen Bevölkerungen, von deren letzten Kämpfen und Untergang Kunde erhalten ist: die lydischen Städte gegen Harpagus, Karthago, Numantia, Jerusalem gegen Titus. Solche scheinen uns aufgenommen in die Reihe von Lehrern und Vorbildern der Menschheit in der einen großen Sache: daß man an das Gemeinsame alles setze, und daß das Einzelleben der Güter höchstes nicht sei. So daß aus ihrem Unglück ein herbes, aber erhabenes Glück für das Ganze entsteht.

Und wenn persische Keilschriften gefunden werden sollten, die auch vom Untergang jener Völker in den Ostprovinzen des Reiches nähere Meldung täten, sei es auch nur in dem bombastischen Ormuzdstil des geistlosen Siegervolkes, so würden auch sie sich jenen großen Erinnerungen beigesellen.

Beiseite mag hier der Trost bleiben, daß ohne solche vorläufige Zermalmer, wie Assur und Persien, Alexander die Elemente der griechischen Kultur nicht so weit nach Asien hinein hätte tragen können; über Mesopotamien hinaus hat dieselbe keine große Wirkung mehr gehabt. Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere geschichtlichen Perspektiven ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten.

Bei allen Zerstörungen läßt sich aber immer eins behaupten: weil uns die Ökonomie der Weltgeschichte im großen dunkel bleibt, wissen wir nie, was geschehen sein würde, wenn etwas, und sei es das Schrecklichste, unterblieben wäre. Statt einer weltgeschichtlichen Woge, die wir kennen, wäre wohl eine andere gekommen, die wir nicht kennen, statt eines schlimmen Unterdrückers vielleicht ein noch böserer.

Nur soll deshalb kein Mächtiger sich zu entschuldigen glauben mit dem Wort: »Tun wir's nicht, so tut's ein anderer,« womit jede Art von Verbrechen gerechtfertigt werden könnte. (Solche halten eine Entschuldigung übrigens auch meist nicht für nötig, sondern finden: »Was wir tun, schlägt ja eo ipso zum Glück aus.«)

Vielleicht würde auch der unterlegene Teil selbst bei längerem Dasein unserer Teilnahme nicht mehr würdig scheinen. Ein Volk z.B., das früh in glorreichem Kampf untergegangen, wäre vielleicht später nicht sehr glücklich, nicht sehr kulturfähig, ja durch eigenes Böses in seinem Innern frühe verrucht und für die Nachbarn verderblich geworden. Dagegen, in seiner Vollkraft dahingenommen, macht es eine ähnliche Wirkung, wie frühgestorbene ausgezeichnete Menschen, welchen die Phantasie bei vorausgesetztem längerem Dasein nur Fortschritt in Glück und Größe andichtet, während sie vielleicht ihre Sonnenhöhe schon erreicht und überschritten hatten.

Von der anderen Seite meldet sich als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation, nachweisbar wenigstens an einer Stelle: an der Zunahme der Bevölkerung nach großen Seuchen und Kriegen. Es scheint ein Gesamtleben der Menschheit zu existieren, welches die Verluste ersetzt. Vgl. besonders die konstanten Zahlen der Statistik, Bevölkerungslehre usw. (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, S. 575.)

So ist es z. B. nicht gewiß, wohl aber für unser Auge wahrscheinlich, daß das Zurückweichen der Weltkultur aus dem östlichen Becken des Mittelmeers im XV. Jahrhundert äußerlich und innerlich kompensiert wurde durch die ozeanische Ausbreitung der westeuropäischen Völker; der Weltakzent rückte nur auf eine andere Stelle.

So wie dort statt eines Todes ein anderer Tod gekommen wäre, so substituiert hier statt eines untergegangenen Lebens die allgemeine Lebenskraft der Welt ein neues.

Nur ist die Kompensation nicht etwa ein Ersatz der Leiden, auf welchen der Täter hinweisen könnte, sondern nur ein Weiterleben der verletzten Menschheit mit Verlegung des Schwerpunktes. Auch darf man nicht etwa den Leidenden und ihren Deszendenten und sonstigen Verwandten damit kommen. Die Völkerwanderung war eine große Erfrischung der Welt für das absterbende Römerreich, aber wenn man in dem östlichen, übrig gebliebenen Rest desselben etwa im XII. Jahrhundert unter den Komnenen einen Byzantiner fragte, so redete er so stolz als möglich vom Fortleben Roms am Bosporus und so verachtungsvoll als möglich gegen das »erneute und erfrischte« Abendland; und noch der jetzige Gräkoslave unter den Türken hält sich nicht für geringer und wohl auch nicht für unglücklicher als den Abendländer. Überhaupt, sobald man die Leute fragt, bedanken sie sich für alle Erneuerung der Welt, welche durch ihren Untergang und durch Einwanderung wilder Horden bewirkt werden soll.

Die Lehre von der Kompensation ist meist doch nur eine verkappte Lehre von der Wünschbarkeit, und es ist und bleibt ratsam, mit diesem aus ihr zu gewinnenden Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinnste haben. Entstehen und Vergehen sind zwar das allgemeine Erdenschicksal; aber jedes wahre Einzelleben, das durch Gewalt und (nach unserem Dafürhalten) vorzeitig dahingerafft wird, darf als schlechthin unersetzlich gelten, sogar als nicht ersetzlich durch ein anderes ebenso treffliches.

Eine andere Schattierung der Kompensation ist die Verschiebung eines versprochen scheinenden Ereignisses. Es unterbleibt einstweilen etwas Großes, sehnsüchtig Gewünschtes, weil eine künftige Zeit es vollkommener vollziehen wird. Deutschland war im dreißigjährigen Kriege vielleicht zweimal der Einheit ganz nahe: 1629 durch Wallenstein, 1631 durch Gustav Adolf; in beiden Fällen würde ein furchtbarer, kaum zu bändigender Gegensatz im Volke geblieben sein; der Welttag der Nation wurde um 240 Jahre verschoben und trat dann ein in einem Moment, da jener Gegensatz seine Gefährlichkeit völlig verloren hatte. Im Gebiete der Kunst kann man sich in ähnlicher Weise sagen, daß die neue St. Peterskirche des Papstes Nikolaus V. unendlich geringer geworden wäre als die des Bramante und Michelangelo.

Eine Schattierung ist auch der Ersatz von einzelnen Kulturzweigen durch andere: In der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, bei fast völliger Nullität der Poesie und geringer Richtung in der Malerei, erreicht die Musik ihre größte Erhabenheit. Allein auch dies sind Imponderabilien, die man nicht so keck gegeneinander abwägen darf. Sicher ist nur, daß eine Zeit, ein Volk nicht alles zugleich besitzen kann, und daß viele an sich unentschiedene Kräfte von derjenigen Gattung angezogen werden, welche sich bereits im größten Schwung befindet.

Die allergerechtesten Klagen jedoch, welche man, wie es scheint, gegen das Schicksal sollte erheben dürfen, beziehen sich auf den Untergang hoher Werke der Kunst und Dichtung. Auf das Wissen des Altertums, auf die Bibliotheken von Pergamon und Alexandrien würden wir am Ende noch verzichten; das neuere Wissen ist erdrückend genug; allein die untergegangenen Dichter höchsten Ranges erfüllen uns mit Jammer, und auch an den Historikern haben wir unersetzliche Verluste erlitten, weil die Kontinuität der geistigen Erinnerungen auf große, wichtige Strecken fragmentarisch geworden ist. Diese Kontinuität ist aber ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer Beweis für die Bedeutung seiner Dauer; denn ob Zusammenhang des Geistigen auch ohne unser Wissen davon vorhanden wäre, in einem Organ, das wir nicht kennen, das wissen wir nicht und können uns jedenfalls keine Vorstellung davon machen, müssen also dringend wünschen, daß das Bewußtsein jenes Zusammenhanges in uns lebe.

Allein unsere unerfüllte Sehnsucht nach dem Untergegangenen ist auch etwas wert; ihr allein verdankt man es, daß noch so viele Bruchstücke gerettet und durch eine rastlose Wissenschaft in Zusammenhang gesetzt worden sind; ja Verehrung der Reste der Kunst und unermüdliche Kombination der Reste der Überlieferung machen einen Teil der heutigen Religion aus.

Die verehrende Kraft in uns ist so wesentlich als das zu verehrende Objekt.

Vielleicht auch mußten jene hohen Kunstwerke untergehen, damit eine neuere Kunst unbefangen schaffen könne. Wenn z.B. im XV. Jahrhundert plötzlich große Massen wohlerhaltener griechischer Skulpturen und Malereien wären gefunden worden, so hätten Lionardo, Michelangelo, Raffael, Tizian und Correggio nicht schaffen können, was sie geschaffen haben, während sie mit dem von den Römern Ererbten wohl in ihrer Weise wetteifern konnten. Und wenn nach der Mitte des XVIII. Jahrhunderts bei der begeisterten Erneuerung des philologischen und antiquarischen Studiums die verlorenen griechischen Lyriker aufgetaucht wären, so hätten sie möglicherweise den ganzen hohen Flor der deutschen Poesie stören können. Freilich würde wohl nach einigen Jahrzehnten der Störung, nach dem ersten Erstaunen das massenhaft vorhandene Alte mit dem Neuen sich auseinandergesetzt und das Neue seine eigenen Wege gefunden haben – allein der entscheidende Augenblick des Vermögens der Blüte, welcher nicht mehr in seiner vollen Höhe wiederkehrt, wäre vorüber gewesen. Nun aber war im XV. Jahrhundert für die Kunst, im XVIII. für die Poesie genug vom Alten da, um anzuregen, und nicht so viel, um zu erdrücken.

Auf diesem Punkt angelangt, ist innezuhalten. Wir sind unmerklich von der Frage des Glückes und Unglückes auf das Fortleben des Menschengeistes geraten, das uns am Ende wie das Leben eines Menschen erscheint. Dieses, wie es in der Geschichte und durch sie bewußt wird, muß allmählich die Blicke des Denkenden dergestalt fesseln, und die allseitige Ergründung und Verfolgung desselben muß seine Anstrengung derart in Anspruch nehmen, daß die Begriffe Glück und Unglück daneben mehr und mehr ihre Bedeutung verlieren. »Reif sein ist alles.« Statt des Glückes wird das Ziel der Fähigen nolentium volentium die Erkenntnis. Und dies nicht etwa aus Gleichgültigkeit gegen einen Jammer, der uns ja mitbetreffen kann – wodurch wir vor allem kalten Objektiv-tun geschützt sind –, sondern weil wir die Blindheit unseres Wünschens einsehen, indem die Wünsche der Völker und Einzelnen wechseln und sich widersprechen und aufheben.

Könnten wir völlig auf unsere Individualität verzichten und die Geschichte der kommenden Zeit etwa mit ebenso viel Ruhe und Unruhe betrachten, wie wir das Schauspiel der Natur, z.B. eines Seesturms vom festen Lande aus mitansehen, so würden wir vielleicht eines der größten Kapitel aus der Geschichte des Geistes bewußt miterleben.

In einer Zeit:

würde es ein wunderbares Schauspiel, freilich aber nicht für zeitgenössische, irdische Wesen sein, dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über all diesen Erscheinungen schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben.


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