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Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. Nur so viel Licht, daß man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat? Welches sind die Geburtskrisen? Wo liegt die Grenze der politischen Entwicklung, von welcher an wir von einem Staat sprechen können?
Absurd ist die Kontrakthypothese für den zu errichtenden Staat, die bei Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will, wie es gewesen sei, sondern, wie es nach ihm sein sollte. Noch kein Staat ist durch einen wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte. Die Überlieferung, welche Volk und Staat nicht unterscheidet, bleibt gerne bei der Idee von der Abstammung stehen; das Volk kennt Namensheroen und zum Teil eponyme Archegeten als mystische Repräsentanten seiner Einheit, Vgl. Lasaulx, S. 18 und 40-42 oder es hat eine dunkle Kunde bald von einer Urvielheit (die ägyptischen Nomen), bald von einer Ureinheit, die sich später getrennt habe (der Turm von Babel). Aber alle diese Kunde ist kurz und mythisch.
Was für Kunde geht etwa aus dem Nationalcharakter in betreff der Anfänge des Staates hervor? Jedenfalls nur eine sehr bedingte, da er nur in einer unbestimmbaren Quote aus ursprünglicher Anlage besteht, sonst aber aus aufsummierter Vergangenheit, als Konsequenz von Erlebnissen, also zum Teil erst durch die nachherigen Schicksale des Staates und Volkes entstanden ist. Über die Sprache als höchst wichtige Offenbarung der Völkergeister vgl. den Abschnitt über die Kultur S. 87 f.
Oft widerspricht sich die Physiognomie und das politische Schicksal eines Volkes total durch späte Verschiebung und Vergewaltigung.
Ferner kann der Staat zwar um so viel mächtiger sein, je homogener er einem ganzen Volkstum entspricht; aber er entspricht einem solchen nicht leicht, sondern einem tonangebenden Bestandteil, einer besonderen Gegend, einem besonderen Stamm, einer besonderen sozialen Schicht.
Oder hätte das Rechtsbedürfnis allein schon den Staat geschaffen? Ach, das hätte noch lange warten müssen! Etwa bis die Gewalt sich selber solange gereinigt hätte, daß sie zu ihrem eigenen Vorteil und um das Ihrige sicher zu genießen, auch andere aus der Verzweiflung zur Ruhe zu bringen für gut fände. Auch dieser einladenden optimistischen Ansicht, wonach die Gesellschaft das Prius und der Staat zu ihrem Schutze entstanden wäre, als ihre negative, abwehrende, verteidigende Seite, so daß er und das Strafrecht identischen Ursprung hätten, können wir also nicht beitreten. Die Menschen sind ganz anders.
Welches waren die frühesten Notformen des Staates? Wir möchten dies z. B. gerne für die Pfahlbauleute wissen. Aber die Verweisung auf Neger und Rothäute hilft nicht, so wenig als die auf die Negerreligion bei der Religionsfrage; denn die weiße und gelbe Rasse sind gewiß von Anfang an anders verfahren, die dunkeln können für sie nicht maßgebend sein.
Etwas wesentlich anderes sind ferner die Tierstaaten, bei weitem vollkommener als die Menschenstaaten, aber unfrei. Die einzelne Ameise funktioniert nur als Teil des Ameisenstaates, welcher als ein Leib aufzufassen ist. Das Ganze, was da vorgeht, ist dem einzelnen Individuum ganz unverhältnismäßig überlegen, ein Leben in vielen Atomen; schon die höheren Tierklassen aber leben bloß als Familie, höchstens als Rudel. Nur der Menschenstaat ist eine Gesellschaft, d. h. eine irgendwie freie, auf bewußter Gegenseitigkeit beruhende Vereinigung.
So ist denn nur zweierlei wahrscheinlich: a) Die Gewalt ist wohl immer das Prius. Um ihren Ursprung sind wir nie verlegen, weil sie durch die Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst entsteht. Oft mag der Staat nichts weiter gewesen sein als ihre Systematisierung. Oder b) wir ahnen sonst einen höchst gewaltsamen Prozeß, zumal der Mischung. Ein Blitzstrahl schmilzt mehreres zu einem neuen Metall zusammen, etwa zwei Stärkere und ein Schwächeres oder umgekehrt. So dürfen sich zum Zweck einer Eroberung oder bei Anlaß einer solchen die drei Dorierphylen und die drei Gotenstämme zusammengetan haben. Lasaulx, S. 41 ff., denkt bei diesen Dreiheiten an Einteilungen; uns scheint es sich, z. B. bei den Doriern, viel eher um eine Vereinigung zu handeln. Eine schreckliche Gewalt, an die sich das Vorhandene ansetzte, und die dann zur Kraft wurde, sind auch die Normannen in Unteritalien.
Von den furchtbaren Krisen bei der Entstehung des Staates, von dem, was er ursprünglich gekostet hat, klingt noch etwas nach in dem enormen, absoluten Vorrecht, das man ihm von jeher gewährt hat.
Dies erscheint uns wie eine aprioristische Selbstverständlichkeit, während es wohl zum Teil verhüllte Überlieferung ist, wie dies noch von manchem gilt; denn viele Überlieferung geht unausgesprochen, durch die bloße Zeugung, von Geschlecht zu Geschlecht; wir können dergleichen nicht mehr ausscheiden.
Ist die Krisis eine Eroberung gewesen, so ist der frühste Inhalt des Staates, seine Haltung, seine Aufgabe, ja, sein Pathos, wesentlich die Knechtung der Unterworfenen. Man vgl. das Skolion des Kreters Hybreas bei Th. Bergk, Anthol. lyr., S. 531
In den frühesten Bildern vom Staate braucht das älteste Überlieferte nicht gerade das Altertümlichste zu sein. Wüstenvölker, auch von hoher Rasse, von denen das einzelne Individuum, sobald es in eine andere Umgebung kommt, sogleich in das moderne Leben hineinwächst, behaupten bis in unsere Tage hinein einen sehr urtümlichen Zustand: den patriarchalischen, während die ältesten erhaltenen Staatsbilder (Inder vor der Gangeszeit, Juden, Ägypter) schon einen höchst abgeleiteten Zustand geben, der die Zeiten der Zähmung der Natur, d. h. Jahrtausende, hinter sich hat. Alles erscheint hier schon durch Reflexion hindurchgegangen, zum Teil in später Redaktion, und im heiligen Recht dieser Völker (Manu, Moses, Zendavesta) ist gewiß schon vieles aufgezeichnet, wonach man leben sollte, aber bereits nicht mehr lebte. Während also das Ägypten des Menes (ca. 4000 v. Chr.) erst beginnt, nachdem der patriarchalische Zustand längst überwunden ist, dauert er hart daneben, in Arabien, bis auf den heutigen Tag.
Das Altertum begnügte sich mit der Betrachtung der drei aristotelischen Verfassungsformen und ihrer ausgearteten Nebenformen. Deren vorgeblicher Kreislauf: Lasaulx, S. 105 f. Aber die wirkliche Stufenreihe ist viel ungeheurer und geht nicht in diese Einteilung hinein. Etwas ganz Besonderes ist z. B. das Königtum im Mittelalter, indem es 1. streng erblich ist und Thronwechseln und Usurpationen nur selten unterliegt, 2. ein persönliches Recht und Eigentum, das Gegenteil aller Volkssouveränität ist, so daß das Volk auf keine Weise als Quelle der Macht erscheint, 3. Einzelrechte ausstellt, deren Beobachtung man von ihm durch Fehde und durch Verweigerung der Steuern und des Kriegsdienstes erzwingen kann, 4. einen sehr beschränkten Kreis der Tätigkeit hat, indem es von Kirche, Universitäten, Orden, Städten, Korporationen rings umgeben ist, welche lauter Republiken und durch Privilegien und Statuten gedeckt sind, 5. ein unauslöschliches, nicht einschlafendes, selbst im größten Elend nicht sterbendes Königsrecht besitzt. Auch von den Weltmonarchien, von den »vereinigten Staaten«, von den verschiedenen Formen der Eroberung, d. h. der wirklichen mit Assimilation oder Verdrängung der Einwohner, und der unechten mit deren bloß oberflächlicher Beherrschung, vom Kolonialbesitz und dem Unterschied zwischen bloßer Kontorherrschaft und echtem Kolonialwesen, sowie vom Gesetz der Emanzipation der Kolonien wäre hier zu sprechen.
Je nach der Uranlage und den späteren Erlebnissen und je nach der Einwirkung von Religion und Kultur sind eben die Staaten enorm verschieden, daher bei Anlaß der beiden letztern Einwirkungen von diesen Dingen zu reden sein wird. Hier möge nur der Gegensatz des Großstaates und des Kleinstaates und deren Verhältnis zur inneren Beschaffenheit berührt werden.
Der Großstaat ist in der Geschichte vorhanden zur Erreichung großer äußerer Zwecke, zur Festhaltung und Sicherung gewisser Kulturen, die sonst untergingen, zur Vorwärtsbringung passiver Teile der Bevölkerung, welche, als Kleinstaat sich selbst überlassen, verkümmern würden, zur ruhigen Ausbildung großer kollektiver Kräfte.
Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind, ein Ziel, wobei die griechischen Poleis in ihrer bessern Zeit trotz ihres Sklavenwesens in großem Vorsprung gegen alle jetzigen Republiken bleiben. Kleine Monarchien haben sich diesem Zustand möglichst zu nähern; kleine Tyrannien, wie die des Altertums und der italienischen Renaissance, sind die unsicherste Staatsform und haben die beständige Neigung, in einem größeren Ganzen aufzugehen. Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt; jede Ausartung in die Despotie entzieht ihm seinen Boden, auch die in die Despotie von unten, trotz allem Lärm, womit er sich dabei umgibt.
Welches auch der Ursprung eines Staates (»der politischen Zusammenfassung eines Volkstums«) sei, er wird seine Lebensfähigkeit nur beweisen, wenn er sich aus Gewalt in Kraft verwandelt. Man möge hier wieder an die Normannen in Unteritalien denken.
Zwar, solange das äußere Wachstum dauert, strebt jede Macht nach völliger Ausrundung und Vollendung nach innen und außen und hält kein Recht der Schwächeren für gültig.
Völker und Dynastien handeln hier ganz gleich, nur daß bei jenen mehr Massengelüste, bei diesen mehr die Staatsraison entscheidet. Es ist nicht bloße Eroberungssucht, sondern eine sogenannte Notwendigkeit, für die das Reich der Karolinger als Beispiel dienen könnte. Ein anderes Mal möge hier der Versuch eines Code dieses sogenannten Völkerrechtes gemacht werden, wobei man »ein Vaterunser beten und darauf losgehn muß«, wie Niebuhr sagt.
Abgesehen davon, was die Macht nach innen tut, wie der Aufhebung aller übernommenen Spezialrechte, und der Ausdehnung des Machtbegriffes auf alles und jedes, angeblich im Interesse des Allgemeinen bis zur letzten Konsequenz des l'Etat c'est moi, stellt sich ihr Tun nach außen in seiner naivsten Gestalt in den alten Weltmonarchien dar, wo man erobert und knechtet und plündert und brandschatzt, so weit und breit als man kann, und, gefolgt von Beute und Sklaven, in Theben oder Ninive mit Triumph einfährt und beim Volk als gottgeliebter König gilt, – bis eine stärkere neue Weltmonarchie entsteht. Im neueren Europa aber wechseln Zeiten längerer Ruhe mit Zeiten territorialer Krisen, weil an irgend einer Stelle das sogenannte Gleichgewicht (das gar nie existiert hat) gestört worden ist.
Und nun zeigt es sich – man denke dabei an Louis XIV., an Napoleon und an die revolutionären Volksregierungen –, daß die Macht an sich böse ist (Schlosser), daß ohne Rücksicht auf irgend eine Religion das Recht des Egoismus, das man dem Einzelnen abspricht, dem Staate zugesprochen wird. Schwächere Nachbarn werden unterworfen und einverleibt oder irgendwie sonst abhängig gemacht, nicht, damit sie selbst nicht mehr feindlich auftreten, denn das ist die geringste Sorge, sondern damit sie nicht ein anderer nehme oder sich ihrer politisch bediene; man knechtet den möglichen politischen Verbündeten eines Feindes. Und auf dieser Bahn angelangt, ist dann kein Anhaltens mehr; alles wird exkusabel, denn »mit der bloßen Beschaulichkeit wäre man zu nichts gelangt, sondern frühe von andern Bösewichtern gefressen worden«, und »die andern machen's auch so.«
Das Nächste ist, daß dergleichen im Vorrat geschieht, ohne irgendeinen besondern Anlaß, nach dem Grundsatz: »Nehmen wir es zur rechten Zeit, so sparen wir einen künftigen gefährlichen Krieg.« Endlich bildet sich ein permanentes Gelüste des Arrondierens; man nimmt, was einem gelegen liegt und was man erwischen kann, namentlich »unentbehrliche« Küstenstriche, und benützt dabei alle Schwächen, innern Krankheiten und Feinde des Schlachtopfers; der Grad der Wünschbarkeit, namentlich des Zusammenlegens kleinerer Gebiete, die Aussicht auf Vervierfachung des Wertes bei bloßer Verdoppelung des Gebiete usw. wird unwiderstehlich; vielleicht wünschen die betreffenden Bevölkerungen selbst, zumal Kleinstaaten ohne Freiheit, eine Reunion, weil ihnen dabei Erweiterung von Zollgebiet und Industriezone in Aussicht steht, der modernen künstlichen Schmerzensschreie usw. zu geschweigen.
Missetaten müssen womöglich naiv geschehen; denn gräßlich ist die ästhetische Wirkung der Rechtsdeduktionen und der Rekriminationen von beiden Seiten. Man schämt sich nämlich der heißersehnten und mit allen Verbrechen erreichten Macht, da das Recht noch immer einen Zauberklang hat, den man bei den Menschen nicht entbehren will. So kommt man zu einer Sophistik, wie sie z. B. Friedrich II. beim ersten schlesischen Kriege sich gestattete, und zu der sauberen Lehre von den »unberechtigten Existenzen«. Die spätere wirklich erreichte Amalgamierung des Geraubten ist keine sittliche Lossprechung des Räubers, wie überhaupt nichts gutes Folgendes ein böses Vorangegangenes entschuldigt.
Auch auf das Schrecklichste, was geschehen, muß ja die Menschheit sich wieder einrichten, ihre noch heilen Kräfte herbeibringen und weiterbauen.
Auch der auf lauter Fluch errichtete Staat wird gezwungen, mit der Zeit eine Art von Recht und Gesittung zu entwickeln, weil sich die Gerechten und Gesitteten seiner allmählich zu bemächtigen wissen.
Endlich kommt noch die große indirekte Exkuse: daß, ohne Vorauswissen des Täters, durch seine Tat große, einstweilen fernliegende weltgeschichtliche Zwecke gefördert werden. So räsonnieren besonders Späterlebende, die ihren zeitlichen Vorteil auf das seither Gewordene gegründet wissen. Aber es erheben sich die Gegenfragen: Was wissen wir von Zwecken? Und, wenn solche existierten, konnten sie nicht auch auf anderm Wege erreicht werden? Und ist die Erschütterung der allgemeinen Sittlichkeit durch das gelungene Verbrechen so gar nichts?
Eines wird immerhin von den meisten zugegeben: das Königsrecht der Kultur zur Eroberung und Knechtung der Barbarei, welche nun blutige innere Kämpfe und scheußliche Gebräuche aufgeben und sich den allgemeinen sittlichen Normen des Kulturstaates fügen müsse. Vor allem darf man der Barbarei ihre Gefährlichkeit, ihre mögliche Angriffskraft benehmen. Fraglich aber ist, ob man sie wirklich innerlich zivilisiert, was aus den Nachkommen von Herrschern und von überwundenen Barbaren, zumal anderer Rassen Gutes kommt, ob nicht ihr Zurückweichen und Aussterben (wie in Amerika) wünschbarer ist, ob dann der zivilisierte Mensch auf dem fremden Boden überall gedeiht. Jedenfalls darf man nicht in den Mitteln der Unterwerfung und Bändigung die bisherige Barbarei selber überbieten.
Was den Staat nach innen betrifft, so ist er nicht entstanden durch Abdikation der individuellen Egoismen, sondern er ist diese Abdikation, er ist ihre Ausgleichung, so daß möglichst viele Interessen und Egoismen dauernd ihre Rechnung dabei finden und zuletzt ihr Dasein mit dem seinigen völlig verflechten.
Das Höchste, wozu er es bringt, ist dann das Pflichtgefühl der Bessern, der Patriotismus, der auf seinen beiden Stufen, nämlich der der primitiven und der der abgeleiteten Kulturen, im Volke mehr unwillkürlich, als hohe Rassetugend erscheint, teilweise gespeist vom Hasse gegen die, welche nicht wir sind, in den gebildeten Geistern aber als Bedürfnis der Hingebung an ein Allgemeines, der Erhebung über die Selbstsucht des Einzelnen und der Familie, soweit dies Bedürfnis nicht von der Religion und von der Gesellschaft absorbiert wird.
Es ist eine Ausartung und philosophisch-bürokratische Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will, was nur die Gesellschaft kann und darf.
Wohl ist der Staat die »Standarte des Rechts und des Guten«, welche irgendwo aufgerichtet sein muß, aber nicht mehr. Was die sozialen Machtprogramme betrifft, welche man dem Staate zumutet und überhaupt wegen der ganzen jetzigen Gärung des Staatsbegriifs unter dem Einfluß der Kultur, verweisen wir auf den Abschnitt vom Staate in seiner Bedingtheit durch die Kultur. Die »Verwirklichung des Sittlichen auf Erden« durch den Staat müßte tausendmal scheitern an der innern Unzulänglichkeit der Menschennatur überhaupt und auch der der Besten insbesondere. Das Sittliche hat ein wesentlich anderes Forum als den Staat; es ist schon enorm viel, daß dieser das konventionelle Recht aufrechthält. Er wird am ehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur (vielleicht sogar seines wesentlichen Ursprungs) als Notinstitut bewußt bleibt.
Die Wohltat des Staates besteht darin, daß er der Hort des Rechtes ist. Die einzelnen Individuen haben über sich Gesetze und mit Zwangsrecht ausgerüstete Richter, welche sowohl die zwischen Individuen eingegangenen Privatverpflichtungen als auch die allgemeinen Notwendigkeiten schützen – weit weniger durch die wirklich ausgeübte Gewalt als durch die heilsame Furcht vor ihr. Die Sekurität, deren das Leben bedarf, besteht in der Zuversicht, daß dies auch in Zukunft geschehen werde, d.h. daß man nie mehr nötig haben werde, innerhalb des Staates, so lange derselbe überhaupt besteht, gegeneinander zu den Waffen zu greifen. Jeder weiß, daß er mit Gewalt weder Habe noch Macht vermehren, sondern nur seinen Untergang beschleunigen wird.
Der Staat hat weiter zu verhindern, daß sich die verschiedenen Auffassungen des »bürgerlichen Lebens« an den Haaren nehmen. Er soll über den Parteien stehen; freilich sucht jede Partei sich seiner zu bemächtigen, sich für das Allgemeine auszugeben.
Endlich: in späten, gemischten Staatsbildungen, welche Schichten von verschiedenen, ja entgegengesetzten Religionen und religiösen Auffassungen beherbergen (und in letzterem Sinn sind jetzt alle Kulturstaaten paritätisch) sorgt der Staat wenigstens dafür, daß nicht nur die Egoismen, sondern auch die verschiedenen Metaphysiken einander nicht aufs Blut befehden dürfen (was noch heute ohne den Staat unvermeidlich geschehen würde, denn die Hitzigsten würden anfangen und die andern nachfolgen).