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Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwickelungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.
Sie wirkt unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen ein – ausgenommen insofern dieselben sie völlig dienstbar gemacht und zu ihren Zwecken eingegrenzt haben.
Sonst ist sie die Kritik der beiden, die Uhr, welche die Stunde verrät, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken.
Ferner ist sie derjenige millionengestaltige Prozeß, durch welchen sich das naive und rassenmäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt, ja in ihrem letzten und höchsten Stadium, in der Wissenschaft und speziell in der Philosophie, in bloße Reflexion.
Ihre äußerliche Gesamtform aber gegenüber von Staat und Religion ist die Gesellschaft in weitestem Sinne.
Jedes ihrer Elemente hat so gut wie Staat und Religion sein Werden, Blühen, d.h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition (soweit es dessen fähig und würdig ist); Unzähliges lebt auch unbewußt weiter als Erwerb, der aus irgend einem vergessenen Volk in das Geblüt der Menschheit übergegangen sein kann. Ein solches unbewußtes Aufsummieren von Kulturresultaten in Völkern und Einzelnen sollte man überhaupt in Rechnung ziehen. Vgl. Lasaulx, S. 48–68
Dies Wachsen und Vergehen folgt höheren, unergründlichen Lebensgesetzen. An der Spitze aller Kultur steht ein geistiges Wunder: die Sprachen, deren Ursprung, unabhängig vom Einzelvolke und seiner Einzelsprache, in der Seele liegt, sonst könnte man überhaupt keinen Taubstummen zum Sprechen und zum Verständnis des Sprechens bringen; nur durch den entgegenkommenden inneren Drang der Seele, den Gedanken in Worte zu kleiden, ist dieser Unterricht erklärlich. Eigentlich genügt zum Beweise schon das Erlernenkönnen fremder Sprachen überhaupt bis zum Gebrauch. So viele Sprachen, so viele Herzen besitzt man. (Vgl. die tria corda des Ennius.) Dann aber sind die Sprachen die unmittelbarste, höchst spezifische Offenbarung des Geistes der Völker, das ideale Bild desselben, das dauerhafteste Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen, zumal in den Worten großer Dichter und Denker.
Ein unermeßliches Studium hat sich hier eröffnet, sowohl aufwärts nach dem ursprünglichen Grundbegriff der Wörter (etymologisch mit Hilfe der vergleichenden Sprachforschung), als abwärts nach der grammatischen und syntaktischen Ausbreitung hin, von der Wurzel ausgehend, die man durch Verbum, Substantiv, Adjektiv und deren endlose Flexionen verfolgen mag.
Im ganzen zeigt sich die Sprache je früher, desto reicher; die hohe Geisteskultur mit ihren Meisterwerken tritt erst ein, wenn sie schon im Abblühen ist.
Am Anfang, in ihrem Aufblühen, muß die Sprache ein höchst anmutiges Spiel gehabt haben; alle Organe scheinen feiner gewesen zu sein, besonders das Ohr, auch bei Griechen und Germanen. Der große Flexionsreichtum muß spätestens schon zugleich mit dem sachlichen Sprachschatz, ja vielleicht schon früher vorhanden gewesen sein, und so wird man das Werkzeug in seiner Vollkommenheit schon vor dem Gebrauche besessen haben, so daß man schon alles Mögliche hätte sagen können, als man nur erst wenig zu sagen hatte. Erst das rauhe, geschichtliche Leben und die Überwältigung der Sprache durch die Sachen, durch den Gebrauch, stumpften sie ab.
Enorm ist aber auch die Rückwirkung der einmal vorhandenen Sprache auf die Geistesgeschichte der einzelnen Völker.
Nach Lasaulx (S. 28) wäre die Reihenfolge in der Kultur die gewesen, daß auf den Bergbau (d.h. irgend einen Grad der Metallbereitung), Viehzucht, Ackerbau, Schiffahrt, Handel, Gewerbe, bürgerlicher Wohlstand gefolgt wären; dann erst wären aus dem Handwerk die Künste und aus diesen zuletzt die Wissenschaften entstanden. Der Zusammenhang der Reihenfolge mit dem Lebensalter der Völker aus Bacon: Lasaulx, S. 30. Dies ist eine scheinbare Vermengung, indem die einen dieser Dinge ihren Ursprung im materiellen, die anderen im geistigen Bedürfnis haben. Allein der Zusammenhang ist in der Tat ein sehr enger und die Dinge nicht zu sondern. Bei allem mit selbständigem Eifer, nicht rein knechtisch betriebenen materiellen Tun entbindet sich ein, wenn auch oft nur geringer, geistiger Überschuß. Dasselbe Vermögen funktioniert also rasch nacheinander in zweierlei Dienst.
»Das ist's ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.«
(Schillers Glocke)
Und dieser geistige Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zugute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung; – die Waffen und Geräte bei Homer sind herrlich, bevor von einem Götterbilde die Rede ist; – oder er wird bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede – Kunstwerk; – und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter. Im Menschen ist überhaupt nie bloß eine Seite ausschließlich, sondern immer das Ganze tätig, wenn auch einzelne Seiten desselben nur schwächer, unbewußt.
Ohnehin sind diese Dinge nicht nach der unendlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung unserer Zeit zu beurteilen, sondern nach dem Bilde von Zeiten, da noch alles näher beisammen war.
Und endlich ist nicht nötig, für die Entbindung jedes Geistigen einen materiellen Anlaß als Basis aufzufinden, obwohl er sich am Ende fände. Wenn der Geist sich einmal seiner selbst bewußt geworden, bildet er von sich aus seine Welt weiter.
Das Außerordentlichste sind jedenfalls die Künste, rätselhafter als die Wissenschaften; die drei bildenden Künste machen hier keinen Unterschied neben Poesie und Musik.
Alle fünf sind scheinbar entweder aus dem Kultus hervorgegangen oder doch in früher Zeit mit ihm verbunden gewesen, aber doch auch vor ihm und ohne ihn vorhanden. GIücklicherweise sind wir auch hier der Spekulation über die Anfänge enthoben.
Nicht ganz abschließend für die Stellung der Kunst in der Weltkultur sind Schillers »Künstler«. Es reicht nicht, daß das Schöne als Durchgangspunkt und Erziehung zum Wahren dargestellt wird; denn die Kunst ist in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden.
Die Wissenschaften sind teils die geistige Seite des praktisch Unentbehrlichen und die systematische Seite des Unendlich-Vielen, d.h. die großen Sammlerinnen und Ordnerinnen dessen, was auch ohne ihr Zutun tatsächlich vorhanden ist, – teils dringen sie voran und entdecken dasselbe, sei es Einzelheit oder Gesetz, – endlich versucht die Philosophie die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen, aber wiederum als auch ohne sie und vor ihr, nämlich ewig, bestehende.
Ganz anders die Künste; sie haben es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun, auch keine Gesetze zu ermitteln (weil sie eben keine Wissenschaften sind), sondern ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre.
Sie beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen, in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungsvoll und unvergänglich.
Die großen Alten wußten nichts von uns, und wie weit sie selber an die Nachwelt dachten, mag fraglich bleiben; aber
... »Wer den Besten seiner Zeit genug getan,
Der hat gelebt für alle Zeiten!«
Aus Welt, Zeit und Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen. Sie sind damit ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter, so gut wie die Philosophie. Äußerlich sind ihre Werke den Schicksalen alles Irdischen und Überlieferten unterworfen, aber es lebt genug davon weiter, um die spätesten Jahrtausende zu befreien, zu begeistern und geistig zu vereinigen.
Und hiebei kommt uns Spätem glücklich zu Hilfe unsere restaurierende Fähigkeit, welche aus Fragmenten mit Hilfe der Analogie das Ganze errät. Die Kunst wirkt eben noch im Exzerpt, in der Kontur, in der bloßen Andeutung, ja noch sehr stark im Fragment, seien es antike Skulpturen oder Stücke von Melodien.
Von unserer Voraussetzung des Glückes bei den Schaffenden soll später die Rede sein.
Bei den meisten Künsten, selbst bei der Poesie, kann freilich noch der Sachinhalt (das Wünschbare, das Schreckliche, das sinnlich Begehrenswerte) in hohem Grade mitwirken, sowohl auf den Künstler als auf den Betrachtenden. Ja die meisten Leute glauben, die Kunst sei die Nachahmung des physisch Vorhandenen, Einzelnen, Gebrechlichen und eigentlich dazu da, um das, was ihnen aus anderen Gründen wichtig ist, recht eindringlich darzustellen und zu »verewigen«. Glücklicherweise aber gibt es eine Architektur, in welcher sich reiner als sonst irgendwo, und unabhängig von jenem allem, ein idealer Wille ausdrückt. Hier zeigt sich am deutlichsten, was Kunst ist trotz ihrer freilich nicht zu leugnenden großen Abhängigkeit vom Zweck und ihres oft langen Ausruhens auf konventionellen Wiederholungen.
Die Architektur beweist nun, wie frei von jenen stofflichen Nebenabsichten jede andere Kunst ist oder sein kann. Ihre spezielle Parallele hierin ist die Musik, in der das Nachahmende auch gerade das Verfehlteste ist.
Der höchste und früheste Dienst der Künste, dem sie sich ohne Erniedrigung fügen, ist der bei der Religion. Vgl. Lasaulx, S. 108 f. Freilich würde sie die Künste nicht immer entwickeln; denn das metaphysische Bedürfnis, das sie vertritt, kann derart sein, daß es sie (wie im Islam) teilweise oder (wie im Puritanismus) gänzlich entbehrt oder sogar anfeindet.
Von allem Irdischen aber nimmt die wahre Kunst nicht sowohl Aufgaben als Anlässe an und ergeht sich dann frei in der Schwingung, die sie daher erhalten. Wehe, wenn man sie präzis auf Tatsächliches festnagelt oder gar auf Gedankliches. Natürlich, wer in den alten Kunstwerken »Ideen« dargestellt findet, muß von den zeitgenössischen auch verlangen, daß sie »Gedanken« darstellen sollen.
Am lehrreichsten ist hierin die Poesie, welche neues Tatsächliches schafft, lieber als daß sie Vorhandenes erzählt, und in ihrer Art von Gedanken und Gefühlen den höchsten Gegensatz und die höchste Ergänzung zur Philosophie bildet. Man möge sich hier nochmals an Schillers »Künstler« erinnern.
Wie würden die Gedanken des äschyleischen Prometheus in der Philosophie lauten? Jedenfalls geben sie uns in der poetischen Darstellung das Gefühl des Ungeheuern.
Innerhalb der Kultur verdrängen, ersetzen und bedingen sich die einzelnen Gebiete. Es findet ein beständiges Hin- und Herwogen statt.
Einzelne Völker und einzelne Epochen zeigen vorherrschende Begabung und Vorliebe für die einzelnen Gebiete. Mächtige Individuen treten auf und geben Richtungen an, welchen sich dann ganze Zeiten und Völker bis zur vollen Einseitigkeit anschließen.
Andererseits kann es für uns sehr schwer zu entscheiden sein, wie weit ein Kulturelement, das für uns jetzt eine ganze Epoche färbt, wirklich damals das Leben beherrscht hat. Z.B. die Brahminenphilosophie das brahminische Indien. Sie war eine scholastische Ausdeutung der Religion und gab dem gebildeten Leben seine Farbe. Die Hofe der Könige waren ihre Mittelpunkte. (Vgl. Weber, Weltgeschichte I, S. 250.) Überhaupt ist vielleicht nirgends mehr die Spekulation so sehr Gemeingut gewesen, daher der Kampf mit dem Buddhismus vielleicht ebenso sehr ein philosophischer als ein religiöser war. Das Philisterium und die Macht haben immer daneben existiert, und wir haben uns in betreff alles geistig Großen in seiner Zeit stets vor optischen Täuschungen zu hüten.
Die einzelnen Kulturelemente und die Kulturstadien verschiedener Gegenden wirken nun aufeinander anfänglich hauptsächlich durch den Handel, der die Produkte der höher und speziell für gewisse Fächer Entwickelten bei den übrigen herumbringt. Freilich nicht immer erwacht dann geistige Nacheiferung. Etrusker und Pontusvölker kaufen oder bestellen sich die schönen griechischen Sachen lieber, und es bleibt beim bloßen Austausch. Doch ist die Kulturgeschichte noch immer überreich an magnetischen und schicksalsvollen Berührungen von Volk zu Volk, von Fach zu Fach, von Geist zu Geist. Jedes Streben weckt Streben, zum mindesten den Anspruch: »Das können wir auch!« – Bis endlich die verschiedenen Kulturvölker relativ gleichmäßig jene unendliche Komplikatur aller Tätigkeiten, jenes allgemeine Ineinandergreifen darstellen, das uns jetzt selbstverständlich erscheint.
Und endlich werden wir die großen geistigen Tauschplätze wie Athen, Florenz u. a. kennen lernen, wo sich das starke lokale Vorurteil bildet, daß man hier alles können müsse, und daß hier die beste Gesellschaft und die größte, ja einzige Anregung und Würdigung vorhanden sei.
Diese Plätze produzieren deshalb auch aus ihren eigenen Mitbürgern eine unverhältnismäßige Menge von bedeutenden Individuen und wirken durch diese weiter auf die Welt. Es ist nicht wie in den modernen Großstädten (und selbst Mittelstädten!) »die viele Bildungsgelegenheit«, denn diese schafft bloß heraufgeschraubte Mediokritäten, welche die vorhandenen Positionen durch Abwarten und gesellige Vorteile an sich reißen, und außerdem nur ein allgemeines Kritisieren – sondern es ist Weckung der höchsten Kräfte durch das Außerordentliche. Es wurden nicht »Talente geweckt«, sondern der Genius rief dem Genius.
Eine Hauptbedingung aller höher vollendeten Kultur ist, auch abgesehen von solchen Tauschplätzen ersten Ranges, die Geselligkeit. Sie ist der rechte Gegensatz zu den Kasten mit ihrer einseitigen, obwohl relativ hohen, Partialkultur, welche im Technischen, in der Erwerbung und Vollendung äußerlicher Geschicklichkeit recht haben kann, im Geistigen aber, wie das Hauptbeispiel der Ägypter lehrt, jedenfalls Stillstand und Beschränkung und Dünkel gegen außen herbeiführt. Allerdings schützte vielleicht nur die Zwangserblichkeit der Gewerbe vor einem Rückfall in die Barbarei.
Die Geselligkeit aber bringt, und zwar dies auch bei Aufrechterhaltung von Ständen, alle Elemente der Kultur, vom höchsten geistigen bis zum geringsten technischen Treiben, mehr oder weniger in Berührung miteinander, so daß sie eine große, tausendfach durcheinandergeschlungene Kette bilden, welche durch einen elektrischen Schlag mehr oder weniger in ihren einzelnen Stellen affiziert wird. Eine bedeutende Neuerung im Gebiete von Geist und Seele kann auch scheinbar wenig beteiligte Menschen dahin bringen, daß sie ihr gewöhnliches, alltägliches Tun anders auffassen. Hier würde in Kürze auch von Verkehr und Presse zu reden sein.
Endlich bildet das, was höhere Geselligkeit heißt, ein unentbehrliches Forum für die Künste insbesondere. Diese sollen nicht von ihr im wesentlichen abhängig sein, namentlich nicht von ihren, falschen Nebensonnen, vom Geschwätz moderner Salons usw. Nur anzudeuten wäre hier das Verhältnis von Luxus und Geist. wohl aber sich aus der Geselligkeit das Maß des Verständlichen entnehmen, ohne welches sie ins Blaue zu streben in Gefahr sind oder kleinen anbetenden Kreisen anheimfallen.
Und nun zuletzt das wahre und das angebliche Verhältnis der Kultur zur Sittlichkeit. Vgl. Hartmann, Philos. des Unbew. 31 S. 723. Gustav Freytag (Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Band I) operiert z. B. gegenüber dem 16. und 17. Jahrhundert mit der Zunahme von »Pflichtgefühl und Redlichkeit« (S. 13) oder »Inhalt, Tüchtigkeit und Redlichkeit« (S. 16). Aber die Argumentationen mit Bestechlichkeit, Liederlichkeit und besonders mit »Gewalttätigkeit« der vergangenen Zeiten oder bei den Barbaren mit Grausamkeit, Treulosigkeit usw. sind irrig. Man beurteilt eben alles nach demjenigen Grade der äußeren Lebenssekurität, ohne die wir nicht mehr existieren können, und verurteilt die Vergangenheit daraufhin, daß diese Lebensluft in ihr nicht existierte, während sich doch auch jetzt, sobald die Sekurität, z. B. im Kriege, suspendiert ist, alle Greuel melden. De Candolles, Hist. des Sciences et des Savants, S. 400. Weder Seele noch Gehirn der Menschen haben in historischen Zeiten erweislich zugenommen, die Fähigkeiten jedenfalls waren längst komplett! Buckle, Gesch. d. Civ., deutsch v. A. Ruge, I, S. 149 ff. Daher ist unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, höchst lächerlich, im Vergleiche mit riskierten Zeiten, deren freie Kraft des idealen Willens in hundert hochtürmigen Kathedralen gen Himmel steigt. Dazu kommt unser abgeschmackter Haß des Verschiedenen, Vielartigen, der symbolischen Begehungen und halb oder ganz schlafenden Rechte, unsere Identifikation des Sittlichen mit dem Präzisen und unsere Unfähigkeit des Verständnisses für das Bunte, Zufällige. Freilich handelt es sich nicht darum, uns ins Mittelalter zurückzusehnen, sondern um das Verständnis. Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein; das Gesamtvolk existierte kaum, das Volkstümliche aber blühte.
Was man also für Fortschritt und Sittlichkeit zu halten pflegt, ist die: a) durch Vielseitigkeit und Fülle der Kultur und b) durch die enorm gesteigerte Staatsmacht herbeigeführte Bändigung des Individuums, welche bis zur förmlichen Abdikation desselben gedeihen kann, zumal bei einseitigem Vorherrschen des Gelderwerbs, der zuletzt alle Initiative absorbiert. Es ist genau ebensoviele Einbuße an Initiative und Kraft zu Angriff und Verteidigung eingetreten.
Die Sittlichkeit als Potenz aber steht um nichts höher und ist nicht in reichlicherem Gesamtmaß vorhanden als in den sogenannten rohen Zeiten. Aufopferung des Lebens für andere kam gewiß schon bei den Pfahlmenschen vor. Gut und Böse, sogar Glück und Unglück mögen sich in den verschiedenen Zeiten und Kulturen ungefähr und im großen ausgeglichen haben.
Selbst die Steigerung der intellektuellen Entwicklung läßt sich bezweifeln, weil mit fortschreitender Kultur die Arbeitsteilung das Bewußtsein des einzelnen immer mehr verengern könnte. – In den Wissenschaften ist der Überblick bereits im Begriff, vor lauter Spezialentdeckungen von Einzeltatsachen sich zu verdunkeln. – In keinem Lebensgebiet wächst die Kapazität der einzelnen gleichmäßig mit der Zunahme des Ganzen; die Kultur könnte leicht über ihre eigenen Beine stolpern.
Es kommt im einzelnen nicht darauf an, in welchen Schattierungen die Begriffe »gut« und »böse« modifiziert sind (denn dies hängt von der jeweiligen Kultur und Religion ab), sondern darauf, ob man denselben, so wie sie sind, mit Aufopferung der Selbstsucht pflichtgemäß nachlebe oder nicht. Erst die Zeit seit Rousseau hat sich übrigens sittlich über der Vergangenheit en bloc gewähnt, wobei sie freilich davon ausging, den Menschen überhaupt als wesentlich gut anzunehmen, als hätte seine Güte nur bis jetzt nicht zu Worte kommen können und müßte sich nun glorreich offenbaren, wenn er einmal zur Macht käme! Man legte sich damit (in der französischen Revolution) das Recht zum Prozeß gegen die ganze Vergangenheit bei. Aber mit vollem Dünkel glauben an diese sittliche Superiorität der Gegenwart eigentlich erst unsere letzten Dezennien, welche auch das Altertum nicht mehr ausnehmen. Der geheime Vorbehalt dabei ist, daß das Geldverdienen heute leichter und sicherer sei als je; mit dessen Bedrohung wird auch das betreffende Hochgefühl dahinfallen.
Das Christentum hatte wohl sich als rettenden Fortschritt betrachtet, indes nur für die Seinen, und neben sich ein um so böseres Säkulum statuiert mit Einbedingung der Flucht von dieser Welt.
Eine Eigentümlichkeit höherer Kulturen ist ihre Fähigkeit zu Renaissancen. Entweder ein und dasselbe oder ein später gekommenes Volk nimmt mit einer Art von Erbrecht oder mit dem Recht der Bewunderung eine vergangene Kultur teilweise zu der seinigen an.
Diese Renaissancen sind zu unterscheiden von den politisch-religiösen Restaurationen, mit welchen sie stellenweise gleichwohl zusammentreffen. Wir möchten fragen, wie weit letzteres der Fall war bei der Herstellung des Judentums nach dem Exil und bei der des Persertums durch die Sassaniden. Bei Karl dem Großen kam beides zusammen: Restauration des spätrömischen Imperiums und zugleich Renaissance der spätrömischen christlichen Literatur und Kunst. Eine reine Renaissance dagegen war die italienisch-europäische des XV. und XVI. Jahrhunderts. Ihre besonderen Kennzeichen sind ihre Spontaneität, die Kraft der Evidenz, wodurch sie siegt, die stärkere oder schwächere Verbreitung über alle möglichen Gebiete des Lebens, z. B. über die Anschauung vom Staat, endlich ihr europäischer Charakter.
Wenn wir nun die Kultur des XIX. Jahrhunderts als Weltkultur betrachten, so finden wir sie im Besitz der Traditionen aller Zeiten, Völker und Kulturen, und die Literatur unserer Zeit ist eine Weltliteratur.
Der höchste Gewinn hierbei ist auf Seiten der Betrachtenden. Es besteht eine großartige, allseitige, stillschweigende Abrede, ein objektives Interesse an alles heranzubringen, die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln.
Selbst in beschränkten Verhältnissen genießt jetzt der edler Gebildete seine paar Klassiker und die Anblicke der Natur viel tiefer und das Glück seines Lebens viel bewußter als vor Zeiten.
Staat und Kirche hemmen dies Bestreben wenig mehr und richten sich selber allmählich auf sehr vielseitige Gesichtspunkte ein. Zur Unterdrückung fehlt teils die Macht, teils die Absicht. Man getraut sich, neben einer scheinbar schrankenlos entwickelten Kultur besser zu bestehen als bei der Repression; wie sich dabei die Kultur tatsächlich dienstbar erweist, davon soll später die Rede sein.
Schon zweifelhafter ist der Gewinn der Erwerbenden, welche wesentlich das vorwärtstreibende Element sind und mit elementarer Leidenschaft: 1. auf eine noch viel größere Beschleunigung des Verkehrs, 2. auf völlige Beseitigung der noch vorhandenen Schranken, d. h. auf den Universalstaat hindrängen. Die Strafe dafür ist die enorme Konkurrenz vom Größten bis ins Geringste und die Rastlosigkeit. Der erwerbende Kulturmensch möchte gerne geschwind recht vieles mitlernen und mitgenießen, muß aber mit Schmerzen das Beste andern überlassen; andere müssen für ihn gebildet sein, wie für den großen Herrn des Mittelalters andere beteten und sangen.
Freilich eine große Quote sind die amerikanischen Kulturmenschen, welche auf das Geschichtliche, d. h. auf die geistige Kontinuität großenteils vernichtet haben und Kunst und Poesie nur noch als Formen des Luxus mitgenießen möchten. Vgl. S. 29.
Am unglücklichsten befinden sich in dieser Zeit Kunst und Poesie selber, innerlich ohne Stätte in dieser rastlosen Welt, in dieser häßlichen Umgebung, während alle Naivität der Produktion ernstlich bedroht ist. Daß die Produktion (d.h. die echte, denn die unechte lebt leicht) dennoch fortdauert, ist nur durch den stärksten Trieb erklärbar.
Das Neuste in der Welt ist das Verlangen nach Bildung als Menschenrecht, welches ein verhülltes Begehren nach Wohlleben ist.