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Wenn es sich im Bisherigen um die Betrachtung der allmählichen und dauernden Einwirkungen und Verflechtungen der großen Weltpotenzen auf- und miteinander gehandelt hat, so möge jetzt die der beschleunigten Prozesse folgen.
Diese zeigen eine enorme Verschiedenheit und dabei doch eine befremdliche, auf dem allgemein Menschlichen beruhende Verwandtschaft in vielen einzelnen Zügen.
Dennoch sind vorläufig auszuscheiden: die primitiven Krisen, deren Hergang und Wirkung wir nicht genau genug kennen oder nur aus spätem Zuständen erraten müssen.
So die älteren Völkerwanderungen und Invasionen. Diese sind entweder aus Not entstanden, wie die der Etrusker aus Lydien nach Italien und das ver sacrum der alten, besonders mittelitalienischen Völker, oder aus einer plötzlichen innern Gärung, wie die Erhebung von Nomaden zu großer Eroberung durch Auftreten eines großen Individuums, wofür Hauptbeispiele die der Mongolen unter Dschingiskhan, ja auch die der Araber unter Mohammed sind.
Naive Völker lassen sich in solchen Fällen fremde Länder von ihrem Nationalgott schenken und sich mit der Ausrottung der bisherigen Einwohner beauftragen, wie z. B. die Israeliten in Kanaan.
Eine etwas wohlfeile optimistische Ansicht von dem Befruchtenden solcher Invasionen finden wir bei Lasaulx. S. 80 ff. und besonders 93. Einseitig ausgehend von der germanischen Invasion ins römische Reich, sagt er: »Jedes große Volk, wenn es in seiner Gesamtheit nicht mehr eine gewisse Masse unverbrauchter Naturkräfte in sich trägt, aus denen es sich erfrischen und verjüngen kann, ist seinem Untergang nahe, so daß es dann nicht anders regeneriert werden kann als durch eine barbarische Überflutung.« Nämlich nicht jede Invasion ist eine Verjüngung, sondern nur die, welche von einem jungen kulturfähigen Volk gegen ein älteres Kulturvolk ins Werk gesetzt wird. Die Mongolen haben – wofern uns hier nicht ein post hoc, ergo propter hoc begegnet – auf den asiatischen Mohammedanismus rein ertötend gewirkt, so daß seither dessen höhere geistige Produktionskraft aufgehört hat, – wogegen nichts beweist, daß unmittelbar nach Dschingiskhan noch einige große persische Dichter auftraten, die entweder schon vorher geboren und gebildet waren oder als Sufis überhaupt von keiner irdischen Umgebung mehr abhingen. Krisen treiben das Große wohl hervor, aber es kann das letzte sein. Auch daß ein paar spätere völlig mohammedanisierte mongolische Dynastien prächtige Moscheen und Paläste bauten, beweist nicht viel. Im ganzen waren die Mongolen doch (soweit sie nicht Türken in sich begriffen) eine andere und geistig geringere Rasse, wie ihr höchstes geistiges Kulturprodukt, nämlich China, beweist.
Und selbst hochstehende kaukasische Rassenvölker können durch nomadische und kriegerische Anlagen in Verbindung mit einer besonderen Religion zu permanenter Barbarei, d. h. Unfähigkeit in höhere Kulturen einzumünden, verurteilt sein, wie z. B. die osmanischen Türken als Herrscher über das ehemalige byzantinische Reich.
Während schon der Islam selber eine gewisse Barbarei mit sich bringt, hat man es hier mit dem Gegensatz einer knechtenden und einer geknechteten Religion zu tun. Dazu kommt die Unmöglichkeit des Konnubiums, die allmähliche Gewöhnung an permanente Mißhandlung, ja langsame Ausrottung des geknechteten Volkes, mit infernalem Hochmut im Sieger, der sich an völlige Verachtung des Menschenlebens gewöhnt und diese Sorte von Herrschaft über andere zum integrierenden Teil seines Pathos macht. Nur beim Konnubium der beiden Völker kann Rettung sein, und zu einem heilbringenden Konnubium müssen es doch wohl mindestens Völker derselben Rasse sein, wenn nicht mit der Zeit die tief erstehende Rasse wieder vorschlagen soll. Auch dann sieht die Sache zunächst doch eher als Verfall aus. Denken wir dabei an die wüste Verwilderung der germanischen Reiche auf dem Boden des römischen. Daß es ein absolut entsetzliches Leben war, erhellt aus der vielen, dem germanischen Wesen entgegen geübten Untreue; es sieht aus, als hätten die Germanen ihre Rasseeigenschaften eingebüßt und von den Römern nur das Böse angenommen. Aber mit der Zeit klärte sich die Krisis ab, und es entstanden echte neue Nationen – nur mußte man lange Geduld haben. Summa: es gibt eine gesunde Barbarei, wo die höheren Eigenschaften latent schlummern, aber es gibt auch rein negative und zerstörende Barbareien.
Sodann ist hier vorauszunehmen schon der Krieg überhaupt als Völkerkrisis und als notwendiges Moment höherer Entwickelung. S. auch unten beim Krieg als Bestandteil der politischen Krisen.
Es gehört mit zur Jämmerlichkeit alles Irdischen, daß schon der Einzelne zum vollen Gefühl seines Wertes nur zu gelangen glaubt, wenn er sich mit anderen vergleicht und es diesen je nach Umständen tatsächlich zu fühlen gibt. Staat, Gesetz, Religion und Sitte haben alle Hände voll zu tun, um diesen Hang des Einzelnen zu bändigen, d. h. ins Innere des Menschen zurückzudrängen. Für den Einzelnen gilt es dann als lächerlich, unerträglich, abgeschmackt, gefährlich, verbrecherisch, sich ihm offen hinzugeben.
Im großen aber, von Volk zu Volk, gilt es als zeitweise erlaubt und unvermeidlich, aus irgend welchen Vorwänden übereinander herzufallen. Der Hauptvorwand ist, im Völkerleben gebe es keine andere Art von Entscheid, und »wenn wir's nicht tun, so tun's die andern.« Die sehr verschiedenen inneren Entstehungsgeschichten der Kriege, die oft äußerst komplizierter Art sind, lassen wir einstweilen außer Betracht.
Ein Volk lernt wirklich seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist; auf diesem Punkt wird es dann suchen müssen, sie festzuhalten; eine allgemeine Vergrößerung des Maßstabes ist eingetreten.
In philosophischer Form führt man für die Wohltätigkeit des Kriegs Heraklits » πόλεμος πατήρ παντων« an. Demgemäß führt Lasaulx (S. 85) aus, der Antagonismus sei die Ursache alles Werdens: aus dem Widerstreit der Kräfte entstehe erst die Harmonie, die rerum concordia discors Horaz, epist. I, 12, 19. oder die discordia Concors, Manilus, astron. I, 141. – an welchen Stellen indes beiderseits weiterwirkende und lebende Kräfte gemeint sind, nicht eine siegreiche neben einer zerschmetterten –; ja der Krieg sei etwas Göttliches, ein Weltgesetz, schon in der ganzen Natur vorhanden; nicht umsonst hätten die Inder auch einen Zerstörungsgott, Siwa; der Krieger sei mit dem Enthusiasmus der Zerstörung erfüllt; die Kriege reinigten die Atmosphäre wie Gewitterstürme, stärkten die Nerven, erschütterten die Gemüter, stellten die heroischen Tugenden her, auf welche ursprünglich die Staaten gegründet gewesen, gegenüber Entnervung, Falschheit und Feigheit. Denken wir hier vollends auch an H. Leos Wort vom »frischen und fröhlichen Krieg, der das skrofulöse Gesindel wegfegen soll.«
Unser Fazit ist: Die Menschen sind Menschen im Frieden wie im Kriege; das Elend des Irdischen hängt ihnen in beiden Zuständen gleich sehr an. Überhaupt waltet viel optische Täuschung zugunsten derjenigen Parteien und ihrer Individuen ob, mit deren Interesse das unsrige irgendwie zusammenhängt.
Der lange Friede bringt nicht nur Entnervung hervor, sondern er läßt das Entstehen einer Menge jämmerlicher, angstvoller Notexistenzen zu, welche ohne ihn nicht entständen und sich dann doch mit lautem Geschrei um »Recht« irgendwie an das Dasein klammern, den wahren Kräften den Platz vorwegnehmen und die Luft verdicken, im ganzen auch das Geblüt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren Kräfte zu Ehren. Jene Notexistenzen bringt er wenigstens vielleicht zum Schweigen.
Sodann hat der Krieg, welcher so viel wie Unterordnung alles Lebens und Besitzes unter einen momentanen Zweck ist, eine enorme sittliche Superiorität über den bloßen gewaltsamen Egoismus des Einzelnen; er entwickelt die Kräfte im Dienst eines Allgemeinen und zwar des höchsten Allgemeinen und innerhalb einer Disziplin, welche zugleich die höchste heroische Tugend sich entfalten läßt; ja er allein gewährt den Menschen den großartigen Anblick der allgemeinen Unterordnung unter ein Allgemeines.
Und da ferner nur wirkliche Macht einen längeren Frieden und Sicherheit garantieren kann, der Krieg aber die wirkliche Macht konstatiert, so liegt in einem solchen Krieg der künftige Friede.
Nur müßte es womöglich ein gerechter und ehrenvoller Krieg sein, etwa ein Verteidigungskrieg, wie der Perserkrieg war, welcher die Kräfte der Hellenen in allen Richtungen glorreich entwickelte, oder wie der der Holländer gegen Spanien.
Ferner ein wirklicher Krieg um das gesamte Dasein. Ein permanentes kleines Fehdewesen z. B. ersetzt den Krieg, hat aber keinen Wert als Krise; die deutschen Fehdehelden des XV. Jahrhunderts erstaunten sehr, als sie mit einer Elementarmacht wie die Hussiten zu tun bekamen.
Auch der disziplinierte Kabinettskrieg des XVII. und XVIII. Jahrhunderts brachte nicht viel mehr als Elend mit sich.
Ganz besonders aber sind die heutigen Kriege zwar wohl Teile einer großen allgemeinen Krisis, aber einzeln für sich ohne die Bedeutung und Wirkung echter Krisen; das bürgerliche Leben bleibt dabei in seinem Geleise, und gerade die jämmerlichen Notexistenzen bleiben alle am Leben; diese Kriege hinterlassen aber enorme Schulden, d. h. sie sparen die Hauptkrisis für die Zukunft zusammen. Auch ihre kurze Dauer nimmt ihnen den Wert als Krisen; die vollen Kräfte der Verzweiflung werden nicht angespannt, bleiben daher auch nicht siegreich auf dem Schlachtfelde stehen; und doch könnte nur durch sie die wahre Erneuerung des Lebens erfolgen, d. h. die versöhnende Abschaffung des Alten durch ein wirklich lebendiges Neues.
Endlich ist überhaupt nicht nötig – so wenig wie oben bei den Invasionen – bei jeder Zerstörung eine künftig daraus hervorgehende Verjüngung vorauszuverkünden. Unser Erdball ist vielleicht schon gealtert, (wobei es nichts ausmacht, wie alt er sensu absoluto ist, d. h. wie oft er um die Sonne gewandelt ist; er könnte dabei sehr jugendlich sein); von großen verkalkten Ländern ist nicht abzusehen, wie sie nach Verlust ihrer Edelvegetation je wieder eine neue erhalten sollen, und so können auch Völker vernichtet werden, ohne in anderen Völkern als Mischungsbruchteil weiterzuleben.
Und häufig ist zumal die gerechteste Verteidigung ganz nutzlos gewesen, und es ist alles Mögliche, wenn wenigstens Rom den Ruhm von Numantia weiter verkünden hilft, wenn die Sieger Sinn für die Größe der Unterliegenden haben.
Schlecht ist der Trost mit einem höheren Weltplan u. dgl. Jede erfolgreiche Gewalttat ist allermindestens ein Skandal, d. h. ein böses Beispiel; die einzige Lehre aus gelungener Missetat des Stärkeren ist die, daß man das Erdenleben überhaupt nicht höher schätze, als es verdient.
Zunächst möge nun die allgemeine Charakteristik der Krisen folgen.
Schon im fernen Altertum sind gewiß nicht selten Nationen auseinandergebrochen durch Erhebungen von Klassen und Kasten gegen einen Despotismus oder ein drückendes heiliges Recht; unvermeidlich wird auf beiden Seiten die Religion hinzugetreten, ja es mögen auf diesem Wege neue Volkstümer und Religionen entstanden sein. Allein wir kennen den geistigen Hergang nicht genug.
Sodann kommen zahlreiche, uns schon näher bekannte Krisen in den griechischen Staaten vor, welche den Kreislauf von Königtum, Aristokratie, Tyrannis, Demokratie, Despotie durchlaufen. Allein diese sind zwar echt, aber lokal und werden nur beiläufig mitzuvergleichen sein; denn in Griechenland verzettelte sich der Prozeß in lauter lokale Einzelprozesse, und auch der peloponnesische Krieg vertritt nicht die Stelle einer großen nationalen Krisis, welche hier nur im Übergang in einen Großstaat hätte liegen können. Dies geschieht auch unter Makedonien nicht, ja selbst kaum unter dem römischen Imperium, das in dem verödeten Griechenland so viele Autonomie und selbst Abgabenfreiheit bestehen ließ, daß man immer glauben konnte, die Polis lebe noch.
In Rom ist bei allen sogenannten Revolutionen doch die eigentliche, große, gründliche Krisis, d. h. der Durchgang der Geschichte durch Massenherrschaft, immer vermieden worden. Rom war bereits ein Weltreich, bevor die Revolutionen begannen. Anders als in Athen aber – wo im V. Jahrhundert die Massen der regierenden Stadt ein Reich von etwa 18 Millionen Seelen, die attische Hegemonie, regieren wollten, bis Reich und Stadt darob zugrunde gingen – ging hier der Staat immer von Mächtigen an Mächtige über. Auch hatte Rom damals neben sich keine Feinde, wie Athen an Sparta und Persien besaß; Karthago und die Diadochen waren längst ruiniert; man hatte es nur mit den immerhin gefährlichen Zimbern und Teutonen und einem Mithridat zu tun.
Und nun zeigen die sogenannten Bürgerkriege seit den Gracchen folgendes Bild: Gegen eine allein genießende, mehr und mehr entartende Nobilität werden ins Feld geführt: verarmende Bürger, Latiner, Italiker, Sklaven. Und zwar geschieht dies besonders durch einzelne nobiles selbst, wenn auch als Volkstribune, oder durch Leute wie Marius. Die Nobilität aber, durch enormen, schon gewonnenen oder aus den Provinzen zu erhoffenden Besitz gefesselt, kann erstens nur in kleinen Dingen nachgeben und wird zweitens durch ihre eigenen ruinierten Söhne, wie Catilina, im Belagerungszustand gehalten.
Dann rettet Cäsar durch seine Usurpation Rom vor allen damaligen und künftigen Catilinariern. Er wollte keinen Militärdespotismus, entschied aber tatsächlich den Gang der Dinge durch ergebene Soldaten. Daher ist auch der von seinen Erben geführte sogenannte letzte Bürgerkrieg ebenso eine Soldatensache.
Das julische Haus vollendete dann ruhig die von Marius und den Bürgerkriegen begonnene Ausrottung der Nobilität. Aber das Kaisertum war nun wirklich der Friede, mit auffallender Sekurität vor Bewegungen im Innern. Die Revolutionen in einzelnen Provinzen haben ihre speziellen, nachweisbaren Gründe in sozialen Verhältnissen, wie die gallischen Aufstände wegen des aes alienum, z.B. der durch Florus und Sacrovir zur Zeit Tibers. Oder es sind religiöse Wutausbrüche wie unter Hadrian der der Juden durch Bar Kochba. Dies alles ist rein lokal.
Die einzige Gefahr ist die Neigung sowohl der Prätorianer als der Grenzlegionen zur Erhebung von Kaisern. Allein auch die sogenannten Krisen beim Tode des Nero und des Pertinax sind stürmische Momente, keine wahren Krisen. Niemand will die Form des Reiches ändern, große Kaiser beschäftigen die Armeen durch große Kriege; vollends ist die Usurpation des III. Jahrhunderts wesentlich eine rettende; alles Erdenkliche geschieht, damit Rom erhalten werde als das, was es ist. Roms Herrschergeist ist auch in Grenzprovinzialen, wie die illyrischen Kaiser waren, immer stark genug, um das Ganze oben zu halten.
Organische Änderungen und andere fromme Wünsche, welche die neuere Wissenschaft bisweilen den damaligen Imperatoren hat anraten wollen, kommen ohnehin zu spät. Und wenn man Rom gewesen ist, so ändert man sich nicht mehr freiwillig und jedenfalls nicht mit Nutzen, sondern man lebt so aus, wie man ist.
Unter Konstantin und seinen Nachfolgern überdauert das Reich noch die allmähliche Substitution einer christlich-orthodoxen Gesellschaft und Kirche, welche sich dem krachenden Imperium unterbaut. So lange dasselbe lebt, muß es zur unerbittlichen Verfolgung von Arianern und Heiden den weltlichen Arm leihen. Und endlich, nachdem die Orthodoxie sich vollständig organisiert und einen Teil der Tradition des Altertums unter ihre Fittiche genommen hat, darf das Imperium sterben.
Die echten Krisen sind überhaupt selten. In verschiedenen Zeiten haben bürgerliche und kirchliche Händel die Luft mit sehr langem und intensivem Lärm erfüllt, ohne doch vitale Umgestaltungen mit sich zu führen. Solche Beispiele, wo die politische und soziale Grundlage nie erschüttert wird oder in Frage kommt, und die deshalb auch nicht als echte Krisen gelten können, sind die englischen Rosenkriege, in denen das Volk hinter zwei Adels- und Hof-Faktionen herläuft, und die französischen Reformationskriege, wo eigentlich zwei Adelsgefolge die Hauptsache sind und es sich darum handelt, ob der König sich außerhalb der beiden Faktionen behaupten, oder welcher von beiden er angehören soll. Um aber auf Rom zurückzukommen, so ist dann hier erst die Völkerwanderung die wahre Krisis gewesen. Sie hat im höchsten Grade den Charakter einer solchen: Verschmelzung einer neuen materiellen Kraft mit einer alten, welche aber in einer geistigen Metamorphose, aus einem Staat zu einer Kirche geworden, weiterlebt.
Und diese Krisis gleicht keiner andern uns näher bekannten und ist einzig in ihrer Art.
Indem wir uns nun auf die Krisen großer Kulturvölker beschränken, aber auch die gescheiterten Krisen mit in Betracht ziehen, ergibt sich uns das folgende allgemeine Phänomen: Bei dem enorm komplexen Zustand des Lebens, wo Staat, Religion und Kultur in höchst abgeleiteten Formen neben- und übereinander geschichtet sind, wo die meisten Dinge in ihrer dermaligen Verfassung ihren rechtfertigenden Zusammenhang mit ihrem Ursprung eingebüßt haben, wird längst das eine Element eine übermäßige Ausdehnung oder Macht erreicht haben und nach Art alles Irdischen mißbrauchen, während andere Elemente eine übermäßige Einschränkung erleiden müssen.
Die gepreßte Kraft aber kann, je nach ihrer Anlage, hierbei ihre Elastizität entweder verlieren oder steigern, ja der Volksgeist im größten Sinne des Wortes kann sich als ein unterdrückt gewesener bewußt werden. In letzterem Falle bricht irgendwo irgendwas aus, wodurch die öffentliche Ordnung gestört wird, und wird entweder unterdrückt, worauf die herrschende Macht, wenn sie weise ist, einige Abhilfe schafft, oder es knüpft sich daran, den meisten unerwartet, eine Krisis des ganzen allgemeinen Zustandes bis zur kolossalsten Ausdehnung über ganze Zeitalter und alle oder viele Völker desselben Bildungskreises; denn Invasionen nach außen und von außen hängen sich von selber daran. Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein.
Es erhebt sich nun die Frage, ob und welche Krisen man abschneiden könnte und warum dies nicht geschieht.
Die Krisis des römischen Imperiums war nicht abzuschneiden, da sie auf dem Drang jugendlicher Völker von großer Fruchtbarkeit nach dem Besitz südlicher, menschenarm gewordener Länder beruhte; es war eine Art physiologischer Ausgleichung, die sich zum Teil blind vollzog.
Analog verhielt es sich mit der Ausbreitung des Islams. Sassaniden und Byzantiner hätten ganz anders werden müssen, als sie waren, um jenem Fanatismus zu widerstehen, welcher dem Getöteten das Paradies und dem Sieger den Genuß der Herrschaft über die Welt versprach.
Dagegen hätte können wesentlich abgeschnitten werden die Reformation, und in hohem Grade gemildert konnte die französische Revolution werden.
Bei der Reformation hätte hierzu eine Reform des Klerus und eine mäßige, völlig in den Händen der herrschenden Stände bleibende Reduktion der Kirchengüter genügt. Heinrich VIII. und hernach die Gegenreformation beweisen, was überhaupt möglich war. Es lag wohl viele Unzufriedenheit, aber kein allverbreitetes positives Ideal einer neuen Kirche in den Gemütern.
Schon viel schwerer wäre 1789 in Frankreich die Gewalttat zu vermeiden gewesen, weil in den Gebildeten eine Utopie und in den Massen ein aufgespeicherter Schatz von Haß und Rache lebendig war.
Allein Kasten wie die Hierarchie und wie der alte französische Adel sind absolut inkorrigibel, selbst bei klarer Einsicht des Abgrundes in vielen Einzelnen. Es ist für den Moment unangenehmer, mit seinesgleichen anzubinden und dabei jedenfalls unterzugehen, als eine allgemeine Sintflut nur vielleicht erleben müssen. Und auch abgesehen von einer solchen Probabilitätsrechnung können die Verhältnisse schon zu verdorben sein, als daß Kasten sich noch mit Glück zu bessern vermöchten; vielleicht ist schon eine überwiegende Voraussicht da, daß andere Elemente von draußen sich der Bewegung, wenn sie nun einmal da ist, bemächtigen werden.
Ob der Krisen vorbereitende Zeitgeist die bloße Summe der vielen gleichdenkenden Einzelnen ist, oder eher, wie Lasaulx (S. 24 f.) meint, die höhere Ursache ihrer Gärung, mag dahingestellt bleiben wie die Frage über Freiheit und Unfreiheit überhaupt.
Am Ende liegt ein Drang zu periodischer großer Veränderung in dem Menschen, und welchen Grad von durchschnittlicher Glückseligkeit man ihm auch gäbe, er würde (ja gerade dann erst recht!) eines Tages mit Lamartine ausrufen: La France s'ennuye!
Eine scheinbar wesentliche Vorbedingung für die Krisen ist das Dasein eines sehr ausgebildeten Verkehrs und die Verbreitung einer bereits ähnlichen Denkweise in anderen Dingen über große Strecken.
Allein, wenn die Stunde da ist und der wahre Stoff, so geht die Ansteckung mit elektrischer Schnelle über Hunderte von Meilen und über Bevölkerungen der verschiedensten Art, die einander sonst kaum kennen. Die Botschaft geht durch die Luft, und in dem einen, worauf es ankommt, verstehen sie sich plötzlich alle, und wäre es auch nur ein dumpfes: »Es muß anders werden.«
Beim ersten Kreuzzug brachen gerade die großen Massen schon wenige Monate, ja Wochen nach dem Beginn der Predigt auf, entweder nach einer neuen, unbekannten Heimat oder dem sichern Tode entgegen.
Ebenso im Bauernkrieg, wo, in Hunderten von kleinen Territorien zugleich, der Bauer eines Sinnes war.
Frankreich war 1789 allerdings schon sehr nivelliert und der Verkehr groß, doch nicht von ferne wie jetzt; nur waren dafür die Gebildeten bereits sehr homogen im Denken.
Von unserer Zeit mit ihrem unerhörten Verkehrswesen ließe sich im Gegenteil behaupten, daß sie zu Krisen weniger geeignet sei, daß das viele Lesen, Räsonnieren und Reisen schon in gewöhnlichen Zeiten die Leute eher abstumpfe. Freilich, wenn einmal die Krisen doch kommen, werden die Eisenbahnen dabei ihre Rolle spielen, von welchem zweischneidigen Mittel wir später noch zu sprechen haben.
Die städtischen Bevölkerungen sind der Krise von Seiten des Räsonnements zugänglicher, für Demagogen erreichbarer; aber je nach der Art der Krisis sind vielleicht die ländlichen doch furchtbarer.
Was die Anfangsphysiognomie der Krisen betrifft, so tritt zunächst die negative, anklagende Seite zutage, der angesammelte Protest gegen das Vergangene, vermischt mit Schreckensbildern vor noch größerem, unbekanntem Druck. Wenn diese letztern von Bacon Sermones fid. 15: De seditionibus et turbis. überschätzt werden, so sind sie doch vielleicht schon etwas, das den Ausbruch, d.h. die Störung der öffentlichen Ordnung in ihrer bisherigen Form, entscheiden hilft. Fataliter helfen hiebei besonders alle diejenigen Aufgeregten mit, welche dann von den ersten Exzessen an in Heuler umschlagen.
Die um einer Sache willen beginnende Krisis hat den übermächtigen Fahrwind vieler andern Sachen mit sich, wobei in betreff derjenigen Kraft, welche definitiv das Feld behaupten wird, bei allen einzelnen Teilnehmern völlige Blindheit herrscht. Die Einzelnen und die Massen schreiben überhaupt alles, was sie drückt, dem bisherigen letzten Zustand auf die Rechnung, während es meist Dinge sind, die der menschlichen Unvollkommenheit als solcher angehören. – Ein Blick auf die Dürftigkeit alles Irdischen, auf die Sparsamkeit der Natur in ihrem Haushalt außerhalb des Menschenlebens sollte zum Beweise hiefür genügen; man meint aber gewöhnlich, die Geschichte mache es anders als die Natur.
Endlich machen alle mit, welche irgend etwas anders haben wollen, als es bisher gewesen ist.
Und für den ganzen bisherigen Zustand werden durchaus dessen dermalige Träger verantwortlich gemacht, schon weil man nicht nur ändern, sondern Rache üben will und den Toten nicht mehr beikommen kann.
Zu dem wohlfeilen Heldenmut gegen die Betreffenden, zumal wo man sie einzeln erreichen und verfolgen kann, kommt eine schreckliche Unbilligkeit gegen alles Bisherige; es sieht aus, als wäre die eine Hälfte der Dinge faul gewesen, und die andere Hälfte hätte längst gespannt auf eine allgemeine Änderung gewartet.
Allerdings nur durch diese blinde Koalition aller, die etwas anderes haben wollen, wird es überhaupt möglich, einen alten Zustand aus den Angeln zu heben; ohne sie würden die alten Institutionen, gut und schlecht, sich ewig, d.h. bis zum Verfall der betreffenden Nation überhaupt, behaupten. Und nun können es freilich befremdliche Allianzen sein, welche sich einer Krisis in ihren Anfängen an den Hals werfen; aber sie kann sich dieselben nicht verbitten, selbst wenn Ahnung vorhanden ist, man möchte dereinst durch dieselben beiseite gestoßen werden, und andere Kräfte als die, welche die Revolutionen begonnen, möchten sie weiterführen.
Um relativ nur weniges zu erreichen, wobei man fragt, wieweit es sich um Gewünschtes oder gar um Wünschenswertes gehandelt haben wird, braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen Lärm. – Dasselbe Phänomen kommt schon im Leben des Einzelnen vor: mit Anspannung des größten Pathos werden Entscheidungen getroffen, aus welchen Wunder was hervorgehen sollte, und aus welchen dann ein ordinäres, aber notwendiges Schicksal folgt.
Nun aber die positive, ideale Seite der Anfänge. Sie hängt daran, daß nicht die Elendesten, sondern die Emporstrebenden den eigentlichen Anfang machen; sie sind es, welche der beginnenden Krisis den idealen Glanz verleihen, sei es durch die Rede oder durch sonstige persönliche Gaben.
Und nun beginnt das brillante Narrenspiel der Hoffnung, diesmal für ganze große Schichten eines Volkes in kolossalem Maßstab. Auch in den Massen vermischt sich der Protest gegen das Vergangene mit einem glänzenden Phantasiebilde der Zukunft, welches alle kaltblütige Überlegung unmöglich macht; bisweilen mag sich darin die innerste Signatur des betreffenden Volkes verraten; vielleicht zuckt dabei auch rheumatisch ein Gefühl des Alterns mit, welches man durch das Postulat einer Verjüngung übertäubt. Die Peliaden kochten ja auf Zureden der Medea ihren eigenen Vater, aber er blieb tot.
In solchen Zeiten konstatiert man eine Abnahme der gemeinen Verbrechen; selbst die Bösen werden von dem großen Moment berührt. Vgl. Guibert. Novigent. ap. Bongars S. 482.
Und selbst ein Chamfort, in seinen Maximes und seinen Caractères sonst ein in der Wolle gefärbter Pessimist, so lange es sich um das Erdenleben im ganzen handelt, wird beim Ausbruch der Revolution anklagender Optimist.
Eine solche Zeit der hoffnungsvollen Aufregung schildert Thukydides (VI, 24) bei Gelegenheit der Verhandlungen vor der sizilischen Expedition. Die Stimmung der Athener war gemischt aus Hoffnung auf den Besitz des Landes, auf die von den Egestäern vorgewiesenen Schätze und auf dauernden Kriegssold; die Jüngern aber machten mit, »weil sie ein fernes Land zu sehen und kennen zu lernen wünschten und voll Hoffnung waren, ihr Leben zu erhalten«. Überall sah man damals in den Hemizyklien Gruppen von Leuten, welche die Gestalt der Insel auf den Boden zeichneten; Plutarch, Alkib. 17. und zu dem allem kam noch das von den heimlichen Gegnern bezweckte Fieber des Hermokopidenprozesses.
Beim ersten Kreuzzug, welcher darum so hochbedeutend ist, weil die wirklichen, welthistorischen, bleibenden Folgen sich auf einem ganz andern Gebiet als in dem ersehnten Palästina offenbarten, muß nach Guibert in den Massen ein kurioses irdisch-himmlisches Phantasiebild mitgespielt haben.
Denken wir auch an die Visionen vor Karls VIII. Zug nach Italien, der sich ganz unverhältnismäßig wichtig, wie eine Weltkrisis, anließ, aber nur der Anfang einer Interventionsära wurde.
Dagegen im Bauernkrieg war gerade der Anfang nicht phantastisch und die Einmischung der Chiliasten nur sekundär. Über die Ideen der letzterer vergl. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. II, S. 185, 207 ff.
Und gar bei der englischen Revolution findet sich nichts der Art. Sie kann hier überhaupt nicht zur Sprache kommen, weil sie das bürgerliche Leben keinen Augenblick in Frage stellte, die höchsten Nationalkräfte gar nie aufregte, in den ersten Jahren die Form eines langsamen Rechtsprozesses hatte und im Grunde schon 1644 in die Hände des Parlamentsheeres und seines Napoleon geraten war, welcher der Nation die Jahre 1792–1794 ersparte. Auch ist aller echte Kalvinismus und Puritanismus von Hause aus zu pessimistisch, um Glanzbilder zu entfalten; die närrischen Independentenpredigten erschütterten daher das Leben nicht.
Ganz glänzend dagegen zeigt sich die Herrschaft des ursprünglichen Phantasiebildes in den Cahiers von 1789 Ed. Chassin. unter der Herrschaft von Rousseaus Lehre von der Güte der menschlichen Natur und vom Werte der Gefühle als Garantie der Tugend. Es war die Periode der Feste und Fahnen, deren letzter glänzender Moment 1790 das Fest auf dem champ de Mars war. Es ist, als müßte die menschliche Natur in solchen Augenblicken ihre ganze Hoffnungsfähigkeit in Bewegung setzen.
Zu leicht hält man dann diese ideale Gestalt für den spezifischen Geist einer Krisis, während es nur ihr Hochzeitsstaat ist, auf welchen böse Werktage folgen werden.
Ewig wird es unmöglich sein, Grad und Wert einer Krisis und besonders ihre Verbreitungsfähigkeit beim Beginn richtig zu schätzen; denn hier entscheidet nicht so sehr das Programm, als vielmehr die Masse des vorhandenen entzündlichen Stoffes, d.h. die Zahl und Disposition der nicht bloß Leidenden, sondern auch längst zu einer allgemeinen Veränderung Geneigten. Nur eins ist sicher: Wahre Krisen geraten durch den materiellen Widerstand erst recht in Flammen, unwahre oder ungenügende erlahmen dabei, nachdem vielleicht der Lärm vorher überaus groß und laut gewesen.
Wenn am Anfang in einem entscheidend scheinenden Moment die Sache verschoben wird und unausgetragen bleibt, so glaubt sich eher die Partei der Neuerung im Vorteil, weil es ja an den Gegnern gewesen und in deren Wünschen begründet wäre, sie zu vernichten, wenn diese gekonnt hätten. Man denke an die Krisis auf dem Markt in Münster 1534, welche ohne Kampf den Sieg der Wiedertäufer entschied. Überhaupt aber kommt viel darauf an, nach welcher Seite inzwischen die Phantasie weiterarbeiten wird. Die Krisis muß deren Führerin bleiben, wenn sie nicht zurückgehen soll. Sie versucht dies durch Demonstrationen; denn schon die bloße Demonstration kann ein Machtbeweis sein und soll in der Regel einer sein; man soll sehen, wie viel sich die bisherige Macht muß bieten lassen.
Offizielle Tummelplätze der Krisen sind die großen Landesversammlungen. Aber sie veralten oft sehr geschwind und sind mit dem Dasein eines wirklich Mächtigen unverträglich (wie dies Napoleon 1815 betonte). Vgl. Fleury de Chaboulon, Bd. II, S. 111. Der wirkliche Machtbarometer ist eher in Klubs und Hetärien zu suchen, welche sich jeden Augenblick dem wirklichen Zustand gemäß neu bilden können und deren Charakter die Unbedenklichkeit ist.
Im ersten Stadium der Krisis, wenn einstweilen drückendes Altes abgeschafft und dessen Repräsentanten verfolgt werden, beginnt dann schon das Phänomen, welches so viel törichtes Staunen erregt: daß nämlich die anfänglichen Anführer beiseite geschoben und ersetzt werden.
Sie waren entweder die Organe ganz verschiedener Kräfte, während nunmehr eine Kraft als wirkliche Führerin sich enthüllt hat und die andern vernichtet oder mitschleppt, wie denn die englische Revolution mehr durch die Kavaliere begonnen, aber entschieden nur durch die Rundköpfe ausgeführt wird, wobei es sich zeigt, daß nicht konstitutioneller Rechtssinn, sondern Independentismus die wesentliche Triebkraft war.
Oder sie waren durch die (eigene oder fremde) Phantasie bei ziemlich trübem Bewußtsein mitgenommen worden und unberufen, etwa durch den bloßen Redegeist, an die Spitze geraten.
Oder es waren Eitle und Ehrgeizige, wie Peter von Amiens und Konsorten am Anfang des ersten Kreuzzuges; sie hielten sich für Urheber und waren nur armselige Phänomene oder Symptome, Getriebene, die sich für Treiber hielten.
Das bunte und stark geblähte Segel hält sich für die Ursache der Bewegung des Schiffes, während es doch nur den Wind auffängt, welcher jeden Augenblick sich drehen oder aufhören kann.
Wer im geringsten ermüdet oder der rascher werdenden Bewegung nicht mehr genügt, wird erstaunlich schnell ersetzt; in der kürzesten Zeit hat eine zweite Generation von Bewegungsleuten reifen können, welche schon nur die Krisis und deren wesentliche, spezifische Triebkraft als solche darstellen und sich mit dem früheren Zustand schon in viel loserem Zusammenhang fühlen, als die Leute der ersten Reihe. Die Macht duldet gerade in solchen Zeiten am wenigsten eine Unterbrechung; wo Einer oder eine Partei müde zusammensinkt oder untergeht, steht gleich ein Anderer da, welcher selbst wiederum für seinen Moment sehr ungenügend sein kann und es dennoch erlebt, daß sich für diesen Moment alles um ihn kristallisch anschließt. Es liegt im Menschen die stille Voraussetzung, daß jede Macht am Ende rationell verfahren, d.h. die allgemeinen Bedingungen des Daseins auf die Länge anerkennen und zu Ehren bringen müsse. Auch sogenannte Anarchie bildet sich so rasch als möglich zu Einzelstücken von Macht, d.h. zu wenn auch noch so rohen Vertretungen eines Allgemeinen; die Normannen sowohl in Nordfrankreich als später in Unteritalien beginnen als Räuber und gründen doch rasch feste Staaten.
Überhaupt findet sich in den Krisen das schnellste Umschlagen von Unbändigkeit in Gehorsam und umgekehrt. Jedes Anschließen und Gehorchen aber stellt die Verantwortlichkeit und das damit verbundene Gefühl von Seekrankheit still.
Bei weiterem Fortschreiten bringt eine große Krisis dasjenige »Soziale«, wobei ihren idealistischen Begründern die Haare zu Berge stehen, nämlich die Not und die Gier mit ins Spiel, teils durch das Stillestehen des bürgerlichen Verkehrs, teils durch den verfügbar gewordenen Raub, teils durch Straflosigkeit.
Je nach Umständen wird sie auch bald die Religion für sich oder wider sich oder einen Riß durch die Religion, eine Teilung derselben in zwei Stücke zum Inhalt haben, womit alle Kämpfe zugleich den Charakter von Religionskriegen annehmen.
Ja das ganze übrige Leben der Welt tritt mit in Gärung und mischt sich freundlich und feindlich tausendfältig mit der Krisis. Es scheint sogar, als ob diese die Bewegungsfähigkeit einer ganzen Zeit mit und in sich absorbiere, so wie bei einer Epidemie die anderen Krankheiten abnehmen, wobei dann Sprünge, Zögerungen, Rückfälle und neue Sprünge miteinander abwechseln, je nach den im Moment wirksamen Haupttrieben.
Wenn zwei Krisen sich kreuzen, so frißt momentan die stärkere sich durch die schwächere hindurch. Zweimal ist der Gegensatz von Habsburg und Frankreich durch den Gegensatz von Reformation und Gegenreformation in den Schatten gestellt und übertäubt worden, nämlich vor 1589 und dann wieder vom Tode Heinrichs IV. bis auf Richelieu. Dem Kampfe zwischen Hussiten und Katholiken substituierte sich tatsächlich ein Kampf zwischen Böhmen und Deutschen bis zur schärfsten slavischen Ausprägung auf böhmischer Seite.
Und nun die widerstrebenden Kräfte. Solche sind alle bisherigen Einrichtungen, die längst zu bestehenden Rechten, ja zum Rechte geworden sind, an deren Dasein sich Sittlichkeit und Kultur auf alle Weise geknüpft haben, und ferner die Individuen, welche die dermaligen Träger davon und durch Pflicht und Vorteil daran gekettet sind. (Hiergegen gibt es wohl Redensarten, aber keine Mixtur.)
Daher die Schrecklichkeit dieser Kämpfe, die Entfesselung des Pathos auf beiden Seiten. Jede Partei verteidigt ihr »Heiligstes«, hier eine abstrakte Treupflicht und eine Religion, dort ein neues »Weltprinzip«.
Und dabei dann die Gleichgültigkeit in den Mitteln, ja der Tausch der Waffen, so daß der heimliche Reaktionär den Demokraten spielt und der »Freiheitsmann« mit allen möglichen Gewaltstreichen vertraut wird.
Denken wir dabei an die Zersetzung des griechischen Staatslebens im peloponnesischen Krieg, wie sie Thukydides (III, 81–83) schildert, im Grunde bereits eine Reaktion gegenüber dem Terrorismus des Demos und der Sykophanten gegen jeden, der etwas war. Nachdem die Greuel von Korkyra erzählt sind, heißt es hier, daß das ganze Hellenentum erschüttert wurde. Der Krieg, der überhaupt ein Lehrer der Gewalttat ist, erlaubte den Parteien, Interventionen herbeizurufen; bei verspäteten Ausbrüchen holte man versäumte Rache nach; schon in der Sprache änderte sich die Bedeutung aller Ausdrücke; in der Bosheit suchte man sich gegenseitig zuvorzukommen; man trat zu Hetärien zusammen, um den Gesetzen zum Trotz seine Sache durchzusetzen, und das Band derselben war die gemeinsame Übertretung; Versöhnungsschwüre waren wertlos; in der Handlungsweise hatte die Tücke den Vorzug, so daß man lieber böse und gewandt als gut und ungeschickt sein wollte. Überall walteten Herrschsucht, Eigennutz, Ehrgeiz; die Parteilosen wurden aus Neid, weil sie sich aufrecht hielten, erst recht dem Verderben geweiht. Jede Art von Schlechtigkeit war vertreten, das Einfachredliche wurde verhöhnt und verschwand, und der allgemeine Ton war freche Tätlichkeit.
Die Notwendigkeit, den Erfolg um jeden Preis für sich zu haben, führt in solchen Zeiten diese völlige Gleichgültigkeit in den Mitteln und ein totales Vergessen der anfänglich angerufenen Prinzipien bald mit sich, und so gelangt man zu einem alles echte, fruchtbringende, gründende Geschehen unmöglich machenden und die ganze Krisis kompromittierenden Terrorismus, der für seinen Ursprung die bekannte Excuse der Bedrohung von außen zu haben pflegt, während er aus der höchst gesteigerten Wut gegen zum Teil unfaßbare innere Feinde entsteht, sowie aus dem Bedürfnis nach einem leichten Mittel des Regierens und aus dem wachsenden Bewußtsein, daß man in der Minorität ist. In seinem Fortgang versteht er sich dann von selbst, weil beim Nachlassen sofort die Vergeltung für das bereits Begangene eintreten würde. Allerdings muß er sich bei der Bedrohung von außen dann auch noch steigern, wie dies in Münster 1535 geschah.
Die Zernichtung des Gegners erscheint alsdann dem irren Auge als einzige Rettung; es sollen auch keine Söhne und Erben bleiben; colla biscia muore il veleno. Indem eine wahre Gespensterseherei herrscht, zernichtet man nach Kategorien mit prinzipieller Auswahl, woneben die größten Massengemetzel, anonym und ins Blaue geschehend, nur geringen Effekt machen, weil sie gelegentlich, jene Hinrichtungen periodisch und endlos sein werden. Dies wurde in den griechischen und italienischen Republiken häufig so weit als möglich durchgeführt und auch die Proskriptionen des wahnsinnigen alten Marius gegen die Nobilität überhaupt als Kaste (87–86 v. Chr.) gehören dahin. Eine Entschuldigung findet man in dem Bewußtsein, der Gegner würde es, wenn er könnte, ebenso machen.
Die höchste Wut besteht gegen alle Emigranten, welche man sich mit enormer Überschätzung viel zu mächtig denkt oder zu denken vorgibt. Man achtet es wie einen Raub, wenn sich jemand der Mißhandlung und dem Mord entzogen hat. Wenn die Fürsten, wie die Großherzoge Cosimo und Francesco Medici, ihren Emigranten in der Ferne mit Gift zusetzen, so ist alle Welt entrüstet; wenn aber Republiken die zurückgelassenen Angehörigen der Emigranten ins Gefängnis werfen oder hinrichten, so gilt dies als eine »politische Maßregel«.
Einstweilen aber trifft der Rückschlag des Terrorismus die Krisis selbst. La révolution dévore ses enfants; jede Stufe der Krisis verzehrt auch die Repräsentanten der nächstvorhergegangenen als Moderantisten.
Während nun vielleicht die Krisis auf mehrere Völker desselben Kulturkreises einwirkt (besonders Kleinstaaten reißt sie gerne mit), sich vielleicht mit den dortigen komprimierten Kräften und Leidenschaften verflicht und eigentümliche Spiegelungen in den dortigen Geistern hervorruft, kann sie in ihrem Heimatland bereits im Erlahmen und Zusammensinken begriffen sein, wobei ihre ursprüngliche Tendenz sich ins Gegenteil verkehren kann, also das eintritt, was man Reaktion nennt. Dies hat folgende Ursachen:
1. Auf die bisherige enorme Übertreibung müßte schon nach gewöhnlicher menschlicher Rechnung eine Ermüdung folgen.
2. Die Massen, deren Irritabilität nur am Anfang groß ist, fallen ab oder werden auch schon bloß gleichgültig. Sie mögen ihre Beute schon im Trockenen haben, haben aber vielleicht überhaupt nie über ein beschränktes Maß mitgehalten, und man hat nur blindlings vorausgesetzt, sie hielten unbedingt mit, ja die große Masse der Landleute hat man wohl überhaupt nie sonderlich gefragt. Man fragte z.B. die römischen Kolonen des IV. Jahrhunderts nicht, ob sie christlich und die polnischen Bauern des XVI. nicht, ob sie protestantisch werden wollten; der Gutsherr verfügte über sie.
3. Indem die Gewalt überhaupt aufgeweckt wurde, sind eine Menge schlummernder Kräfte durch die Krisis geweckt worden, die nun Posto fassen, im Getümmel plötzlich ihr Stück Beute verlangen und die Bewegung auffressen, ohne sich um deren ehemaligen idealen Gehalt im mindesten zu kümmern. Die meisten Guelfen wie Ghibellinen im XIII. Jahrhundert hatten diese Gesinnung.
4. Indem das Schafott vorzugsweise auf diejenigen greift, in denen jeder Kulminationspunkt der Krisis am deutlichsten ausgesprochen war, sind die Kräftigsten untergegangen; die sogenannte zweite Generation hat schon ein schwaches, ja epigonisches Aussehen.
5. Die überlebenden Träger der Bewegung haben sich innerlich geändert; sie wollen teils genießen, teils wenigstens sich retten.
Und auch, wenn die causa am Leben bleibt, so gerät sie doch in andere Hände und büßt ihre Unwiderstehlichkeit ein. Die deutsche Reformation war bis 1524 Volkssache und völlig dazu angetan, die alte Kirche in nicht langer Zeit gänzlich zu überwinden; da nahm sie der Bauernkrieg scheinbar auf seine Schultern, um sie rasch durch das ganze Meer zu tragen; sein schlechter Ausgang war ihr dann bleibend schädlich, weil sie erstens, wo sie siegte, Regierungssache und Sache von dogmatischen Systematikern wurde und zweitens wegen der Kräftigung der katholischen Regierung nicht mehr nach dem nordwestlichen Deutschland hindringen konnte. Das anabaptistische Nachspiel in Münster tat hierzu noch ein Mehreres.
Unglaublich ist dann die Ernüchterung, selbst unabhängig von allfallsigem Elend. Mit der größten Geduld läßt man sich alles dasjenige bieten, worüber noch wenige Zeit vorher alles in die Luft gesprungen wäre. In England unter Karl II. werden z.B. diejenigen Presbyterianer völlig aufgeopfert, welchen er seine Krone verdankt. Zu der Enttäuschung, welche auf die deutsche Reformation folgte, vergl. Sebastian Franck, Vorrede zum III. Buch der Chronik, fol. 255. – Man mag hier auch an die katholisch bleibenden Niederlande 1566 und dann 1577 denken.
Diese Ernüchterung kann, wie die französische Revolution zeigt, mit glänzenden Erfolgen nach außen und einem ganz leidlichen ökonomischen Zustand im Innern gleichzeitig sein; sie ist weit verschieden von der auf Niederlagen folgenden Erbitterung und hat auch nachweisbar andere Quellen.
Irgend etwas von der ursprünglichen Bewegung setzt sich wohl bleibend durch. So in Frankreich die Gleichheit, während die Revolution doch naiverweise meinte, sie habe die Menschen auch zur Freiheit erzogen! Sie hat sich ja auch selber für die Freiheit gehalten, während sie so elementarisch unfrei war wie etwa ein Waldbrand. Das bleibende Resultat erscheint aber zum Erstaunen gering im Vergleich mit den hohen Anstrengungen und Leidenschaften, die während der Krisis zutage getreten. Vgl. oben S. 214. Freilich übersieht man von einer ganz großen Krisis die wahren (d.h. die relativ wahren) Folgen in ihrer Gesamtsumme (das sogenannte Gute und Böse, d.h. das für den jedesmaligen Betrachter Wünschbare oder Nichtwünschbare, denn darüber kommt man doch nie hinaus) erst nach Abfluß eines Zeitraums, der zu der Größe der Krisis proportional ist; es fragt sich, in welchen Gestalten sie ihren spezifischen Gehalt bei ihrem sekundären und tertiären Auftreten behauptet.
Es ist ein großes Glück, wenn eine Krisis nicht in die Hände einer fremden Intervention fällt oder geradezu den Erbfeind zum Herrn macht. Ein Unikum ist hier das Hussitentum, wo sich neben der heftigen terroristischen Partei in den Städten die gemäßigte Partei (später Calixtiner genannt) beständig behauptet, bei der Verteidigung gegen den Angriff von außen mit den Terroristen hält, ihnen aber später, nachdem sie etwas ermattet sind, den Garaus macht, selbstherrlich den Abgrund der Revolution schließt und hundert Jahre lang wesentlich ihren Willen behauptet.
Der peloponnesische Krieg war ursprünglich ein Streit derjenigen beiden Hegemonien, welche, eine wie die andere, Gesamtgriechenland gegenüber von Persien anführen, ja es erziehen wollten! Zu Anfang des Krieges wird ihr Gegensatz unter sich so hoch als möglich genommen, und Perikles und andere Redner stellen ihn sogar als den zweier streitender Weltanschauungen dar, was nicht hindert, daß in der Folge ein von sich selbst abgefallenes Sparta mit persischem Geld ein paar Jahrzehnte die Szene behauptet.
Es kommt nun auch die Rückwirkung der neu entstandenen Güterverteilung in Betracht. Hiebei ist zunächst das physiologische Faktum festzustellen, daß in jeder Krisis eine bestimmte Quote von fähigen, entschlossenen und eiskalten Menschen mitschwimmt, welche mit der Krisis nur Geschäfte machen und vorwärts kommen wollen Vgl. oben S. 224. und eben dasselbe mit dem Gegenteil oder überhaupt mit etwas anderem wollen werden. Diese Art der Haltefest, Raubebald und Eilebeute schwimmt um jeden Preis oben, und um so viel sicherer, da kein höheres Streben sie irre macht. Dieser und jener von ihnen wird freilich erwischt und geht unter, Man denke an den zum Teil affektierten sittlichen Zorn der französischen Revolution gegen einen Fabre d'Eglantine. Anno 1794 nahm man es nicht mehr so genau, obwohl der Lärm gegen die vendus dauerte. allein die Sorte als solche ist ewig, während die primären, anführenden Tendenzmenschen zählbar sind und von den sich steigernden Krisen unterwegs verzehrt werden. Auf Erden ist das Unsterbliche die Gemeinheit. Vgl. Goethes Reim: »Übers Niederträchtige usw.«. Diese Sorte aber gibt dann den Ton unter den neuen Besitzern an.
Nun kann schon jeder Besitz, auch der säkulare, an seiner causa Verrat üben. Von dem Schatz von Delphi sagte schon Perikles voraus, daß er einst mit Werbungen könnte ausgegeben werden, und nachdem schon Jason von Pherä und der ältere Dionys die Augen darauf gerichtet hatten, traf dies im heiligen Krieg ein. Auch zur Reformation haben die Kirchengüter den stärksten Anlaß gegeben.
Vollends aber betrachtet neuer Besitz sich selbst und seine Erhaltung, nicht aber die Krisis, durch die er entstanden ist, als das Wesentliche; die Krisis soll ja nicht rückgängig gemacht werden, wohl aber genau an der Stelle innehalten, da der Besitz ins Trockene gebracht ist. So sind die neuen Eigentümer in Frankreich seit 1794/95 voll von Abscheu gegen den früheren Zustand, aber ebenso voll von Sehnsucht nach einer despotischen Gewalt, welche den Besitz garantieren soll, gehe es dann der Freiheit, wie es wolle.
Ähnlich gestalten sich die Dinge nach dem Albigenserkrieg. Die vierhundertunddreißig Lehensträger im Midi hatten das Interesse, daß die Krone Frankreich den Grafen von Toulouse nicht mehr aufkommen lasse, wobei die Frage über Ketzerei gar nicht mehr aufkam; d.h. in ihrem Innern wäre es ihnen ganz gleich gewesen, ob ihre Gutsbauern albigensisch oder katholisch waren.
In den griechischen Städten schlägt die Behauptung des Besitzes ausgetriebener oder ausgemordeter Parteien, den man im Namen irgend eines Prinzips, heiße es Demos oder Aristokratie, ergriffen hat, leicht in Tyrannis um, wobei weder Demokratie noch Aristokratie behauptet werden.
Und nun spielen auch die Kriege und der Militarismus ihre Rolle. Teils durch die Bändigung solcher Gegenden und Parteiungen im Innern, welche sich gegen die Krisis empören, so daß z.B. ein Cromwell in Irland, die französischen Generale gegen Föderalisten und Vendée zu kämpfen haben, teils durch Angriff und Gegenwehr gegen das bedrohte oder angreifende Ausland, wie der Widerstand der Oranier gegen die Spanier, Hier entsteht dann eine eigentliche Militärpartei unter Moritz, der sich ihrer für seinen politischen Zweck bediente. der Franzosen gegen die Koalitionen seit 1792, entstehen unvermeidlich Kriege und Armeen. Die Bewegung bedarf auch schon an sich äußerer Gewalt, um die losgebundenen Kräfte aller Art in irgend ein Bette zu leiten. Allein sie pflegt den Rückschlag derselben auf ihr Prinzip zu fürchten St. Just sagte zu Barere: tu fais trop mousser nos victoires. und gibt dies zunächst durch Terrorismus gegen ihre Generale zu erkennen. Dahin gehört in gewissem Sinne schon der Feldherrnprozeß nach der Arginusenschlacht und ganz besonders das Benehmen der Franzosen in den Jahren 1793 und 1794.
Allein den Rechten erwischt man nicht, weil man ihn noch nicht kennt.
Und sobald dann die Krisis sich überstürzt hat und die Epoche der Ermüdung eintritt, so organisieren sich ohnehin die früheren Machtmittel der älteren Routine, Polizei und Militär, wie von selbst wieder in ihrer älteren Form. Etwas Todmüdes aber fällt unfehlbar dem Stärksten in den Arm, der gerade in der Nähe ist, und dies werden nicht neugewählte und gemäßigte Versammlungen sein, sondern Soldaten.
Nun hat man es mit den Staatsstreichen zu tun. Ein solcher ist die Beseitigung einer für konstitutionell geltenden, aus Krisen übrig gebliebenen Staatsrepräsentation durch militärische Macht, unter beifälligem oder gleichgültigem Verhalten der Nation, wie sie Cäsar 49 v.Chr., Cromwell 1653 und die beiden Napoleons wagten. Dabei wird das Konstitutionelle zum Schein beibehalten und rekonstruiert, ja erweitert, wie denn Cäsar den Senat vermehrt, Napoleon III. das suffrage universel herstellt, das durch das Gesetz vom 31. Mai 1850 beschränkt war.
Der Militärgeist aber wird dann unfehlbar nach einigen Momenten des Überganges auf eine Monarchie, und zwar auf eine despotische, hindrängen. Er schafft den Staat nach seinem Bilde um.
Nicht jede Armee verschwindet so bescheiden wie die Armee Cromwells, welche allerdings erst während der englischen Revolution entstanden und daher nicht fähig war, an frühere monarchisch-militärische Einrichtungen anzuknüpfen. Sie hatte Cromwell selbst das Königtum nicht gewährt, sondern war despotisch-republikanisch gewesen und geblieben; die Restauration der Monarchie erfolgte, indem Monk sie täuschte, nicht durch sie. Und nun verschwand sie 1660 im Privatleben und ähnlich auch die amerikanische nach dem letzten Kriege. Beides freilich geschah bei ganz unmilitärischen Nationen.
Wenn vollends die Krisis in der Art auf andere Nationen gewirkt hat, daß sich dort ihr Gegensatz (etwa gegenüber von Versuchen der Nachahmung) befestigt hat, Die französische Revolution ruft z.B. nach Josephs II. Tode in Österreich ein geschärftes Polizeiregiment hervor. während sie daheim ebenfalls in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, so erledigt sich das übrige in reinen, von Despoten gegen Despoten geführten Nationalkriegen.
Der Despotismus nach den Krisen ist zunächst die Herstellung zweckmäßigen Befehlens und willigen Gehorchens, wobei sich die gelösten Bande des Staates wieder neu und fest knüpfen. Er beruht nicht sowohl auf der direkt zugestandenen Einsicht, daß man selber nicht regierungsfähig wäre, als vielmehr auf dem Schauder vor der durchgelebten Herrschaft des ersten Besten, des Rücksichtslosesten und Schrecklichsten. Die Abdikation, welche man wünscht, ist nicht sowohl die eigene als die einer Rotte von Gewalttätern.
Auch Aristokratien abdizieren mit Willen zeitweise. So die römische Republik, wenn sie einen Diktator ernannte; denn »creato dictatore magnus plebem metus incessit«. Livius II, 18. Die venezianische Aristokratie hängte permanent über sich und ihrem Volke mit dem Rat der Zehn ein Damoklesschwert auf, als traute sie sich selber nicht.
Ganz besonders leicht aber abdizieren bisweilen Demokratien. In Hellas machen sie den, welcher ihre Aristokratie gebrochen oder verjagt hat, zum Tyrannen und setzen dann voraus, daß ein solcher dauernd ihren dauernden Willen vollziehe. Wenn dies dann doch nicht so ganz der Fall ist, so sagt etwa der Demagog Hybreas zum Tyrannen Euthydemos in Mylasa: »Euthydemos, du bist ein notwendiges Übel für den Staat; denn wir können weder mit dir, noch ohne dich leben.« Strabo XIV, 2, 24. Die Anekdote fällt freilich spät, in die Zeit des zweiten Triumvirats.
Der Despot kann unendlich viel Gutes stiften, nur nicht eine gesetzmäßige Freiheit herstellen; auch Cromwell regierte England distriktweise durch Generale. Gäbe der Despot eine freie Verfassung, so würde er nicht nur bald selbst beiseite geschoben, sondern durch einen andern und geringern Despoten ersetzt, aber nicht durch die Freiheit; denn diese will man einstweilen nicht, weil man sie in zu schlimmen Händen gesehen hat. Man möge sich erinnern, wie das jetzige Frankreich sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet.
Das nächste Phänomen unter dem Despotismus kann dann ein großes materielles Gedeihen sein, womit sich die Erinnerung an die Krisis verwischt. Nur hat der Despotismus wieder seine eigenen inneren Konsequenzen; er ist an sich garantielos, persönlich und als Erbe einer großen gefundenen Macht zu Gewaltstreichen nach außen aufgelegt, wäre es auch schon nur, weil er diese als eine Metastase der bisherigen inneren Unruhe erkennt.
Es folgen nun auch Restaurationen. Diese sind von den früher (S. 145f.) besprochenen wohl zu unterscheiden; denn dort handelte es sich um die Herstellung eines Volks- oder Staatstums, hier dagegen um die Herstellung einer besiegten Partei innerhalb desselben Volkes, also um diejenigen partiellen politischen Restaurationen, welche nach Krisen durch zurückgekehrte Emigranten erfolgen.
Sie sind vielleicht an und für sich eine Herstellung der Gerechtigkeit, ja eine Herstellung der unterbrochenen Totalität der Nation, praktisch aber genau um so viel gefährlicher, je umfassender die Krisis gewesen ist.
So sehen wir schon bei den Griechen zahlreiche ausgetriebene Bürgerschaften ihre Städte wieder beziehen. Da sie aber meist mit den neuen Besitzern teilen müssen, geschieht es nicht immer zu der Städte und ihrem eigenen Glücke.
Während man eben einige Trümmer und Prinzipien des Vergangenen wieder aufzustellen bemüht ist, hat man es zu tun mit der neuen Generation, welche seit der Krisis aufgewachsen ist und schon das privilegium iuventutis für sich hat. Und diese ganze neue Existenz beruht auf der Zerstörung des Vorhergegangenen, ist großenteils schon nicht mehr selber schuld daran und betrachtet daher die Restitution, die man von ihr verlangt, als Verletzung eines erworbenen Rechtes. Und daneben lebt in lockender Verklärung das Bewußtsein weiter, wie leicht einst der Umsturz gewesen, wogegen die Erinnerung an die Leiden verblaßt.
Wünschbar wäre, daß Emigranten nie oder wenigstens nicht mit Ersatzansprüchen zurückkehrten, das Erlittene als ihr Teil Erdenschicksal auf sich nähmen und ein Gesetz der Verjährung anerkennten, das nicht bloß nach Jahren, sondern nach der Größe des Risses seine Entscheide gäbe. Über emigrierte Männer der konstitutionellen Freiheit und die Wünschbarkeit ihrer Rückkehr s. Quinet, la révolution, Bd. II, S. 545. Denn die neue Generation, von der man verlangt, daß sie ihrerseits in sich gehen sollte, tut es eben nicht, sondern sinnt auf neuen Umsturz, als auf Beseitigung einer erlittenen Schmach. Und so erhebt sich der Geist der Neuerung doch wieder, und je öfter und unerbittlicher eine Institution über ihn gesiegt hat, desto unvermeidlicher wird ihr endlicher Sturz durch die sekundären und tertiären Neubildungen der Krisis. Les institutions périssent par leurs victoires (Renan).
Bisweilen kommt dann etwa ein Philosoph mit einer Utopie darüber, wie und wasmaßen ein Volk von Anfang an organisiert sein müßte oder hätte sein müssen, um keinen demokratischen Schwindel, keinen peloponnesischen Krieg, keine neue Einmischung von Persien durchmachen zu müssen. Eine solche Lehre vom Vermeiden der Krisen kann man in Platos Staat finden. Aber freilich um den Preis welcher Unfreiheit soll dies möglich werden! Und erst noch wäre fraglich, wie bald auch sogar in Utopien eine Revolution ausbräche. In Platos Staat wäre dies gar nicht so schwer; sobald seine Philosophen unter sich Händel bekämen, würden sich die übrigen komprimierten Stände von selber regen.
Andere Male ist aber der Utopist schon früher dagewesen und hat das Feuer anzünden helfen, wie Rousseau mit seinem Contrat social.
Zum Lobe der Krisen läßt sich nun vor allem sagen: Die Leidenschaft ist die Mutter großer Dinge, d.h. die wirkliche Leidenschaft, die etwas Neues und nicht nur das Umstürzen des Alten will. Ungeahnte Kräfte werden in den einzelnen und in den Massen wach, und auch der Himmel hat einen andern Ton. Was etwas ist, kann sich geltend machen, weil die Schranken zu Boden gerannt sind oder eben werden.
Die Krisen und selbst ihre Fanatismen sind (freilich je nach dem Lebensalter, in welchem das betreffende Volk steht!) als echte Zeichen des Lebens zu betrachten, die Krisis selbst als eine Aushilfe der Natur gleich einem Fieber, die Fanatismen als Zeichen, daß man noch Dinge kennt, die man höher als Habe und Leben schätzt Nur muß man eben nicht bloß fanatisch gegen andere und für sich ein zitternder Egoist sein.
Überhaupt geschehen alle geistigen Entwicklungen sprung- und stoßweise, wie im Individuum, so hier in irgend einer Gesamtheit. Die Krisis ist als ein neuer Entwicklungsknoten zu betrachten.
Die Krisen räumen auf: zunächst mit einer Menge von Lebensformen, aus welchen das Leben längst entwichen war, und welche sonst mit ihrem historischen Recht nicht aus der Welt wären wegzubringen gewesen. Sodann aber auch mit wahren Pseudoorganismen, welche überhaupt nie ein Recht des Daseins gehabt und sich dennoch im Laufe der Zeit auf das stärkste bei dem ganzen übrigen Leben assekuriert, ja hauptsächlich die Vorliebe für alles Mittelmäßige und den Haß gegen das Ungewöhnliche verschuldet hatten. Die Krisen beseitigen auch die ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor »Störung« und bringen frische und mächtige Individuen empor.
Ein besonderes Verhältnis haben die Krisen zu Literatur und Kunst, wofern sie nicht geradezu zerstörend wirken oder mit teilweiser bleibender Unterdrückung geistiger Einzelkräfte verbunden sind, wie z.B. der Islam Bildhauerei, Malerei und Epos unmöglich machte.
Die bloße Störung nämlich schadet der Kunst und Literatur dann wenig oder nichts; mitten in der allgemeinen Unsicherheit treten große, bisher latente geistige Kräfte auf den Schauplatz und machen bisweilen die bloßen Ausbeuter der Krisis ganz verblüfft; die bloßen Schwätzer aber sind in schrecklichen Zeiten ohnehin machtlos. Zusatz: Ja, aber leider die Narren nicht.
Es zeigt sich, daß kräftige Denker, Dichter und Künstler deshalb, weil sie kräftige Menschen sind, eine Atmosphäre von Gefahren lieben und sich in der frischeren Luftströmung wohl befinden. Große und tragische Erlebnisse reifen den Geist und geben ihm einen andern Maßstab der Dinge, eine unabhängigere Taxation des Irdischen. Augustinus' de civitate dei wäre ohne den Einsturz des weströmischen Reiches kein so bedeutendes und unabhängiges Buch geworden, und Dante dichtete die divina commedia im Exil. Auch die großen persischen Dichter der Mongolenzeit, wenn sie schon dann die letzten waren, gehören hieher; Saadi sagt: »Die Welt war kraus wie Negerhaar.«
Künstler und Dichter brauchen nicht gerade den Inhalt der betreffenden Krisen zu schildern oder gar zu verherrlichen, wie David und Monti taten; – wenn nur wieder ein neuer Gehalt in das Leben der Menschen gekommen ist, wenn man nur wieder weiß, was man liebt und haßt, was Kleinigkeiten und was Lebensbedingungen sind.
»Quant à la pensée philosophique elle n'est jamais plus libre qu'aux grands jours de l'histoire,« sagt Renan. Die Philosophie gedieh in Athen trotz des Gewagten und Gespannten des athenischen Lebens, das sich im Grunde in einer beständigen Krisis mit beständigem Terrorismus bewegte, trotz den Kriegen, den Staats- und Asebieprozessen, der Sykophantie, den gefährlichen Reisen, wobei man als Sklave verkauft werden konnte usw.
Dagegen umspinnt in ganz ruhigen Zeiten das Privatleben mit seinen Interessen und Bequemlichkeiten den zum Schaffen angelegten Geist und raubt ihm die Größe; vollends aber drängen sich die bloßen Talente an die erste Stelle, daran kenntlich, daß ihnen Kunst und Literatur als Spekulationszweige, als Mittel, Aufsehen zu machen, gelten und daß ihnen die Ausbeutung ihrer Geschicklichkeit keine Beschwerde macht, weil ihnen kein Überquellen des Genius im Wege ist. Und oft nicht einmal das Talent.
Die große Originalität, hier übertönt, übermault, muß auf Sturmzeit warten, wo alle Verlegerkontrakte samt den Paragraphen gegen den Nachdruck von selber aufhören; in dieser Sturmzeit sind auch wohl andere Leute das Publikum, und die Protektionen, welche bisher Leute sui generis protegiert und »beschäftigt« haben, sind von selber am Ende.
Für den besonderen Charakter der Krisen unserer Zeit weisen wir besonders auf unsere frühere Erörterung (S. 171 ff.) zurück, wo wir nachzuweisen suchten, wie die Kultur heute dem Staate das Programm schreibt.
Sie sind vorwiegend bedingt durch die tägliche, nicht exzeptionelle Wirkung von Presse und Verkehr; sie haben einen zu jeder Stunde ökumenischen Charakter.
Daher die viele contrefaçon, die gemachte Scheinkrisis, die falschen, auf künstlicher Agitation, Lektüre, unberechtigter Nachahmung an ungehöriger Stelle, künstlicher Impfung beruhenden Krisen, welche dann in ihrem Krepieren ganz etwas anderes an den Tag bringen, als sie bezweckt und geahnt hatten, etwas, das längst darunter lag und das man längst hätte sehen können, das aber erst durch eine Verschiebung der Macht an den Tag kam.
Ein sprechendes Beispiel hiefür bietet Frankreich im Jahre 1848, da die plötzlich aufgedrungene Republik einem Besitz- und Erwerbssinne weichen muß, von dessen Intensivität man noch nicht den wahren Begriff gehabt hatte.
Übrigens wird jetzt manches auch zerschwatzt, bevor es ein Element einer Krisis werden kann.
Neu ist die Schwäche der den Krisen gegenüberstehenden Rechtsüberzeugungen. Frühere Krisen hatten sich gegenüber ein göttliches Recht, welches im Falle seines Sieges zu den äußersten Strafmitteln berechtigt war. Jetzt dagegen herrscht das allgemeine Stimmrecht, welches von den Wahlen aus auf alles ausdehnbar ist, die absolute bürgerliche Gleichheit usw. Von hier aus wird sich dereinst gegen den Erwerbsgenius unserer Zeit die Hauptkrisis erheben.
Ihr besonderes Verhältnis zu Revolution, Reaktion und Krieg haben die Eisenbahnen. Wer sie wirklich oder auch nur ihr Material besitzt, kann ganze Völker regungslos machen.
Drohend aber steht die Verflechtung der gegenwärtigen Krisis mit gewaltigen Völkerkriegen in Aussicht.
Die Lehre vom Verfall und Tod der Nationen müssen wir uns versagen zu behandeln. Vgl. darüber Lasaulx, S.93. 101. 107. 139-153. Als Parallele mögen die Phantasiebilder der verschiedenen Völker und Religionen dienen, von denen wir früher (S.73 f.) gesprochen haben, besonders das VIII. Buch Ottos von Freising, und auch auf Sebastian Francks Ketzerchronik Fol. 252. ist zu verweisen. Von der Seite der voraussichtlichen Veränderungen des Erdballs behandelt das Ableben der Nationen Decandolle. Histoire des Sciences et des Savants, S. 411. (De l'avenir probable de l'espèce humaine.
Der lange Friede seit 1815 hatte den täuschenden Schein erweckt, als wäre ein Gleichgewicht der Mächte erreicht worden, welches ewig dauern könnte. Jedenfalls rechnete man von Anfang an zu wenig auf den beweglichen Geist der Völker.
Die Restauration und ihr angebliches Prinzip, die Legitimität, welche soviel als eine Reaktion gegen den Geist der französischen Revolution war, stellten in einer an sich höchst ungleichen Weise eine Anzahl von früheren Lebens- und Rechtsformen und eine Anzahl von Ländergrenzen her, bei völliger Unmöglichkeit, die weiter wirkenden Resultate der französischen Revolution aus der Welt zu schaffen, nämlich den tatsächlich hohen Grad von Rechtsgleichheit (Steuergleichheit, Ämterfähigkeit, gleiche Erbteilung), die Beweglichkeit des Grundbesitzes, die Verfügbarkeit alles Besitzes für die Industrie, die Parität der Konfessionen in mehreren jetzt stark gemischten Ländern.
Und der Staat selber wollte von den Resultaten der Revolution eins nicht entbehren: die große Ausdehnung seines Machtbegriffes, welche inzwischen u.a. aus der Terreur und aus dem überall nachgeahmten napoleonischen Cäsarismus entstanden war. Der Machtstaat selber postulierte die Gleichheit, auch wo er seinem Adel noch Hof- und Militärstellen zur Beute ließ.
Und diesem gegenüber nun der Geist der Völker, unter deren heftigster nationaler Aufregung die Kriege von 1812 bis 1815 geführt worden. Ein Geist der Kritik war wach geworden, der sich trotz allem Ruhebedürfnis nicht mehr schlafen legen wollte und an alle Existenz fortan einen andern Maßstab legte. Noch schien es soziale Fragen nicht zu geben, und noch wirkte auch Nordamerika nur wenig ein; aber schon die bisherigen und einheimischen Postulate erfüllten die Regierungen mit Sorge.
Die schwächsten unter den Restaurierten wären ohne die Intervention der Großstaaten bald erlegen: Italien 1820/21, Spanien 1823; in solchen Ländern trat dann unvermeidlich eine Verfolgung aller zum Räsonnement aufgelegten Klassen ein.
Es fragte sich aber, wie lange die Großstaaten überhaupt einig sein, d.h. das System von 1815 aufrecht erhalten würden. Und hier wies sich nun die Bedeutung der orientalischen Frage: Das allgemeine Verhältnis der Mächte, das wirkliche oder angebliche Gleichgewicht konnte jeden Augenblick auf eine für unerträglich geltende Weise geändert werden durch partielle oder totale Versetzung des ad hoc für verfügbar geltenden osmanischen Reiches.
Den Anlaß bot der Aufstand der Griechen; die wirklichen Gründe waren die Machtgier Rußlands und dessen altes Programm und ferner der Anfang der von Canning vertretenen Tendenz Englands, mit auswärtigen Fragen und mit dem kontinentalen Liberalismus Geschäfte zu machen. Man übersah dabei in England, daß man dergleichen auf die Länge schwer in den Händen behält.
Die früheste offizielle Durchbrechung des Systems von 1815 brachte der russisch-englisch-französische Vertrag von 1827 zur Befreiung Griechenlands, auf welchen Navarin, der russisch-türkische Krieg von 1828 und der Friede von Adrianopel 1829 folgten.
Allein die Satisfaktion der öffentlichen Meinung war gering, alles wartete – und zwar besonders auf Frankreich.
Hier stand jedenfalls ein Ausbruch selbst beim korrektesten Benehmen der Bourbons in steter Aussicht; die Demütigung von 1815 sollte durch ihren und ihrer Werkzeuge Sturz negiert werden; eine Fusion ad hoc zwischen Liberalen und Bonapartisten war deshalb zustande gekommen. Die Regierung, bei manchen guten Eigenschaften, förderte den Haß durch emigrantische Rankunen und dadurch, daß sie das ganze Interesse der katholischen Kirche, d.h. den ganzen Todeshaß zwischen dieser und der französischen Revolution auf ihre Rechnung herübernahm.
Als dann 1830 die Julirevolution kam, war deren allgemeine Bedeutung als europäische Erschütterung viel größer, als die speziell politische.
Österreich, Preußen und Rußland blieben scheinbar, wie sie waren; überall sonst wurde als Heilmittel die Konstitution anerkannt, insofern mit derselben Ernst gemacht werde. Im Westen bestand die Quadrupelallianz, welche unter der Ägide von England und Frankreich auch den Spaniern und Portugiesen die Wohltaten des Verfassungslebens sichern sollte; in Deutschland bildete sich in den Einzelstaaten das damalige konstitutionelle Leben aus, aber überwacht durch die beiden Großstaaten; in Italien, wo es zu völligen, aber bloß lokalen Revolutionen und Versuchen von Republiken gekommen war, erfolgte eine vollständige Repression und als deren Gegenschlag die Verschwörung der giovine Italia, bei deren Beteiligten die Einheitsidee schon über den bloßen Föderalismus hinausging.
Neidisch bewundernd blickten die zersplitterten Deutschen und Italiener, welche das konstitutionelle Wesen verkümmert oder gar nicht besaßen, zu Frankreich und England als den Großstaaten auf, welche zugleich große Nationalstaaten und dabei konstitutionell waren. Zugleich bestimmte die Unterdrückung der polnischen Revolution die seitherige Physiognomie der russischen Politik. Nur eine bleibende territoriale Veränderung geschah in dieser Zeit: die Trennung Belgiens vom Königreich der Niederlande.
Aber die Konstitutionen konnten, so wenig als sonst etwas Irdisches, die geweckte Gier stillen. Zunächst war die französische in sich sehr ungenügend; der Wahlzensus war so engbrüstig, daß die Kammer später der in ihren Zielen verrannten Regierung nicht mehr zu Hilfe kommen konnte, weil sie selbst nur der Ausdruck einer kleinen Minorität war. Dazu wurde das Programm der Regierung: la paix à tout prix, künstlich mit Haß beladen; Louis Philippe hätte dieses sein Friedensprogramm einer auf viel weiterer Basis, ja auf dem suffrage universel beruhenden Kammer zur Ausführung überlassen können.
In Westeuropa fand in den 1830er Jahren die Ausbildung eines allgemeinen politischen Radikalismus, d. h. derjenigen Denkweise statt, welche alle Übel dem vorhandenen politischen Zustand und dessen Vertretern zuschrieb und durch Umreißen und Neubau vom Boden auf nach abstrakten Idealen das Heil schaffen wollte, jetzt schon unter stärkerer Berufung auf Nordamerika. Und seit den 1840er Jahren kam, zum Teil hervorgehend aus den Zuständen der großen englischen und französischen Fabrikstädte, die Entwicklung der sozialistischen und kommunistischen Theorien bis zu vollständigen gesellschaftlichen Gebäuden, ein unvermeidliches Korrespondens und ein Rückschlag des entfesselten Verkehrs. Die tatsächlich vorhandene Freiheit war zu ungestörter Verbreitung solcher Ideen reichlich groß genug, so daß laut Renan seit 1840 das Gemeinerwerden deutlich zu spüren war. Dabei herrschte die größte Unklarheit darüber, welches und wie stark die entgegenstehenden Kräfte und Rechte sein würden. Wie man am Rechte der Verteidigung irre geworden, bewies dann der Februar 1848. Seine Spiegelung fand dieser Zustand in der damaligen Literatur und Poesie. Hier machten sich Hohn, lautes Knurren und Weltschmerz in der neuen, nach-byronischen Auffassung geltend.
Daneben vollzog sich die gefährliche innere Aushöhlung in der konservativen Vormacht Österreich, das Auftreten des Panslavismus zunächst in der russischen offiziellen Publizistik und endlich die italienische Bewegung seit 1846. Für diese letztere nahm England 1847 Partei, was soviel als den Entschluß bedeutete, jenes Österreich stürzen zu helfen, welches doch allein noch einen kontinentalen Subsidienkrieg für England hätte führen können. Die mit Canning begonnene, auf englische Wahlmajoritäten berechnete liberale auswärtige Politik wurde damals mit Palmerston fortgesetzt.
Während sich der europäische Horizont mit revolutionärem Geist und mit der Voraussicht eines sozialen Kraches vollständig erfüllte, erhob sich in der Schweiz der Sonderbundskrieg, von ganz kolossal unverhältnismäßigen Sympathien und Antipathien begleitet, nur weil er ein Exponent der allgemeinen Lage war.
Und nun kam die Februarrevolution von 1848. Diese brachte mitten im allgemeinen Umsturz eine plötzliche Klärung des Horizonts. Weit ihr wichtigstes, wenn auch nur augenblickliches Resultat war die Proklamation der Einheit in Deutschland und in Italien, während der Sozialismus sich lange nicht so mächtig erwies, als man geglaubt hatte; denn schon die Pariser Junitage gaben die Gewalt fast sofort wieder in die Hände der bisherigen Monarchisch-Konstitutionellen, und rasch entwickelte sich der Besitzsinn und Erwerbsinn intensiver als je.
Auf den Wendepunkt hin, der mit der ersten Schlacht bei Custozza gegeben war, folgte zunächst freilich eine allgemeine Reaktion, im ganzen mit Herstellung der Formen und Grenzen, wie sie vorher gewesen waren. Sie siegte im Oktober und November 1848 zu Wien und Berlin und 1849 mit Hilfe der Russen in Ungarn.
Und als Frankreich in neuen Sorgen war, weil sich der Sozialismus von seiner Niederlage erholt zu haben schien und die Maiwahlen von 1852 sicher zu haben glaubte, wurde diese Krisis durch den Staatsstreich des 2. Dezember 1851 kupiert. Für diejenige einzig richtige Lösung, welche schon 1848 in allgemeiner Akzeptation und Unterstützung der einmal vorhandenen Republik bestanden haben würde, waren die Dinge 1851 schon viel zu verdorben.
Allein bei der höchst unvollständigen Durchführung der Reaktion in den meisten Staaten bildete sich nun ein Zustand voller Widersprüche.
Neben dem Weiterdauern von Dynastien, Bureaukratien und Militarismen mußte man die innere Krisis der Geister fast völlig sich selber überlassen. Öffentlichkeit, Presse, der enorm steigende Verkehr waren überall der stärkere Teil und schon mit dem Erwerb so verflochten, daß man sie nicht mehr hemmen konnte, ohne ihn mit zu schädigen. Überall strebte die Industrie, an der Weltindustrie teilzunehmen.
Zugleich hatten die Regierenden bei den Ereignissen von 1848 tiefere Blicke in das Volk getan. Louis Napoleon wagte für die Wahlen das allgemeine Stimmrecht und andere ahmten ihm nach; man hatte in den großen Bauernmassen das konservative Element erkannt – freilich ohne dessen mögliche Ausdehnbarkeit von den Wahlen auf alles und jedes (Einrichtungen, Steuern usw.) genauer zu erwägen.
Mit der Steigerung aller Geschäfte ins Große wird nun die Anschauung des Erwerbenden folgende: einerseits sollte der Staat nur noch Hülle und Garant seiner Interessen und seiner Art Intelligenz sein, welche als selbstverständlicher nunmehriger Hauptzweck der Welt gelten; ja er wünscht, daß sich diese seine Art von Intelligenz vermöge der konstitutionellen Einrichtungen des Staatsruders bemächtige; anderseits hegt er ein tiefes Mißtrauen gegen die Praxis der konstitutionellen Freiheit, insofern selbige doch eher von negativen Kräften möchte ausgebeutet werden.
Denn daneben wirkt als allgemeiner Ausdruck teils der Ideen der französischen Revolution, teils der Reformpostulate neuerer Zeit die sogenannte Demokratie, d. h. eine aus tausend verschiedenen Quellen zusammengeströmte, nach Schichten ihrer Bekenner höchst verschiedene Weltanschauung, welche aber in einem konsequent ist: insofern ihr nämlich die Macht des Staates über den Einzelnen nie groß genug sein kann, so daß sie die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft verwischt, dem Staat alles das zumutet, was die Gesellschaft voraussichtlich nicht tun wird, aber alles beständig diskutabel und beweglich erhalten will und zuletzt einzelnen Kasten ein spezielles Recht auf Arbeit und Subsistenz vindiziert. Vgl. oben S. 173 ff., 236 f.
Inzwischen war die allgemeine Gefahr der politischen Lage von Europa in Zunahme; das Jahr 1848 hatte alle Positionen wesentlich verändert und teilweise tief erschüttert.
Die größten Regierungen mußten wünschen, sich nach außen zu regen.
In solchen Zeiten meldet sich unvermeidlich die orientalische Frage wieder; sie kommt, wenn und weil Europa gärt. Sodann war der tiefe Unwille der deutschen und der (nunmehr durch Cavour vertretenen) italienischen Nation so weit gediehen, daß Großmächte ihn notwendig mit in ihre Berechnungen ziehen mußten.
Die sämtlichen Regierungen hätten höchst einig sein müssen, um die bisherigen Grenzen und das sogenannte Gleichgewicht zu behaupten.
Der Krimkrieg gab letzteren Zweck vor; die Hauptsache war die Befestigung Louis Napoleons auf seinem neuen Thron, bei einem Anlaß, den man liberal, klerikal und militärisch geltend machen konnte.
Österreichs größter Fehler oder, falls es nicht anders konnte, sein größtes Unglück war, daß es wegen dauernder innerer Erschütterung nicht um jeden Preis bei irgendeiner der beiden Parteien mithielt; gerade diese Erschütterung hätte es vielleicht durch Teilnahme für die Westmächte oder für Rußland beseitigen können.
England offenbarte seine Schwäche, die es in allen Kriegen zeigt, wo es auf Massen ankommt, und mußte den Krieg noch extra in Bändigung des indischen Aufstandes bezahlen. Die ältere Form wäre durchaus gewesen, daß zugleich mit dem englischen Seekrieg Österreich einen englischen Subsidienlandkrieg geführt hätte.
Statt Österreichs trat durch die entscheidende Tat Cavours Sardinien ein, und so heftete sich fataliter eine Erledigung der italienischen Frage an den Pariser Vertrag von 1856.
Hier war der Anfang der ganz grundfalschen Position Louis Napoleons. Mit England zusammen bedrohte er Ferdinand von Neapel; sodann betonte er das im Verhältnis zu seiner Position in Frankreich stets gefährliche Nationalitätsprinzip, trotzdem er angesichts des Nationalitätsgärens wissen mußte, daß ein starkes Italien und Deutschland daraus hervorgehen müsse, ja er bot Preußen mehrmals große Stücke von Deutschland an; kurz er benahm sich wie ein Gelehrter, z.B. ein Philosoph oder Naturforscher, welcher vorhandene Kräfte danach konstatiert, ob sie ihm lieb oder leid seien. Auch seine alte Verpflichtung gegen die italienischen Geheimbünde, woran ihn das Attentat Orsinis erinnerte, kam für ihn in Betracht, während er den französischen Klerikalen und allem Konservatismus überhaupt Sicherheiten geben sollte. Und dazu kam seine scheinbare Oberhoheit über alles, was überhaupt passieren durfte.
Der italienische Krieg von 1859 wurde für ihn auf alle Weise gefährlich. Er erschütterte seinen wahren Alliierten Österreich noch mehr, d.h. er stärkte Preußen, und Österreich trat lieber die Lombardei ab, als daß es damals Preußen für dessen Hilfe die Anführerschaft über alle deutschen Bundeskorps gewährt hätte, und den Italienern enthielt er doch Venedig und vollends Rom vor und hatte nun gar die Idee eines italienischen Staatenbundes unter päpstlichem Präsidium! Die Ereignisse von 1860 in Italien aber konnte er gar nicht mehr hindern, während das Publikum sie ihm großenteils zuschrieb, und während es eigentlich England war, das ihm zum Trotz, aus Gründen lokaler Popularität die Sache vollführen half und dabei dem Interesse Österreichs an einem vielheitlichen Italien den Todesstoß gab.
Das«Weitere, was Louis Napoleon unternahm, hatte den unbestimmten Charakter einer Beschäftigung seiner Nation und Armee.
An den nordamerikanischen Parteikrieg hängte er den mexikanischen, während er und England, wenn sie in Amerika etwas tun wollten, nur eins konnten, nämlich die Trennung der Union befördern. Daß England hiezu nicht aus allen Kräften half, war freilich unbegreiflich, und dies hatte er allerdings nicht berechnen können.
Als Usurpator war er unfähig, ernstlich eine Partei der inneren Verbesserung oder gar der konstitutionellen Freiheit um sich zu sammeln, welche ihn der Besorgnisse vor Verschwörungen, Aufständen der arbeitenden Klassen usw. enthoben hätte. Statt dessen wurde sein Bund mit dem Klerus durch die Septemberkonvention von 1864 täglich dubioser. Und doch entschieden Priester und Bauern wesentlich die Wahlen des suffrage universel.
Inzwischen geriet Rußland durch die Bauernemanzipation, die Preßfreiheit und den polnischen Aufstand von 1862 in eine oszillierende Bewegung, deren literarischer Ausdruck jetzt der schärfste Panslavismus ist; wie weit derselbe in den Händen der Regierung oder gar schon sie in den seinigen ist, läßt sich fragen.
Dazu kam jetzt das nicht mehr zu verhehlende Sinken Englands durch die Wiedervereinigung der siegreichen Union. In direkter Proportion damit wird Irland schwieriger und die Gärungen der arbeitenden Klassen gefährlicher.
Und endlich reifte die deutsche Frage mindestens so weit, daß sich die beiden Großmächte unmittelbar mit derselben einlassen mußten.
Es geschah dies in Konkurrenz mit der konstitutionellen Frage, zumal in Preußen. Die, erwerbenden und räsonnierenden Klassen suchten sich tatsächlich durch Entscheidung über Budget und Dienstzeit der Staatsgewalt zu bemächtigen; der Erfolg hat dann bewiesen, daß die Frage der nationalen Einheit die weit mächtigere war; diese Frage fraß sich durch die andere hindurch.
Nach der Zeit der Feste von 1862 und 1863, welche auch Konfliktszeit genannt wird, kam nun der durch maßlose Unvorsichtigkeit der Dänen hervorgerufene dänische Krieg, den noch beide Großmächte gemeinsam führten.
Offen lag jetzt die Schwäche Englands am Tage; man wußte fortan, daß es um kontinentaler Verhältnisse willen keinen Krieg mehr führen könne, auch nicht wegen Belgiens. Louis Napoleon aber ließ diesmal die Deutschen völlig machen und gab a priori das Londoner Protokoll auf. Künstlich deutet Sybel diese Nachgiebigkeit so, all hätte Louis Napoleon Preußen erst recht in gefährliche politische Abenteuer hineinhetzen wollen.
Endlich machte die preußische Regierung und Armee die große deutsche Revolution von 1866. Dies war eine abgeschnittene Krisis ersten Ranges. Ohne dieselbe wäre in Preußen das bisherige Staatswesen mit seinen starken Wurzeln wohl noch vorhanden, aber eingeengt und beängstigt durch die konstitutionellen und negativen Kräfte des Innern; jetzt überwog die nationale Frage die konstitutionelle bei weitem.
Die Krisis wurde nach Österreich hineingeschoben, welches seine letzte italienische Position verlor und mit seiner polyglotten Beschaffenheit gegenüber von allem Homogenen, zumal von Preußen, in eine immer gefährlichere Stellung geriet.
Louis Napoleon wäre nun mit keiner »Kompensation« mehr zu helfen gewesen; wenn Preußen ihm Belgien ließ, so nahm es voraussichtlich dafür Holland. Es ist zweifelhaft, ob er mit großen und riskierten innern Maßregeln sich hätte retten sollen; jedenfalls waren seine Konzessionen ungenügend.
Die spanische Revolution von 1868, an welcher er Anteil gehabt haben sollte, ging sicher gegen sein eigenes Interesse. Im Jahre 1869 aber brach in Frankreich offener Hohn gegen ihn aus.
Nochmals machte er sich legitim durch das Plebiszit vom Mai 1870, und doch war es fraglich, wie lange noch der Konnex von sehr starken Interessen, der ihn bisher oben gehalten, ihn gegenüber vom Geist der städtischen Massen oben halten und die Elemente darbieten würde, um darauf eine dauernd starke Regierung zu bilden.
Bei irgend einer der in Frankreich stets bedenklichen Fragen des auswärtigen Einflusses war er voraussichtlich genötigt loszubrechen. Prevost-Paradol braucht für diese Situation das Bild von zwei gegeneinander laufenden Eisenbahnzügen.
In Deutschland war inzwischen die Spannung aufs höchste gestiegen; die Südstaaten mußten entweder eng an Preußen angeschlossen oder ihm wieder entfremdet werden; neben der nationalen Frage trat alles andere ins tiefe Dunkel.
Da kam die Hohenzollernsche Thronkandidatur für Spanien, und was sich daran hängte.
Die französische Kriegserklärung entschied den Anschluß Süddeutschlands an den Norden und damit den Krieg überhaupt, insofern er jetzt mit höchstem Nachdruck als Sache der ganzen Nation geführt wurde.
Damit sind die innern politischen Krisen auf lange Zeit in Deutschland abgeschnitten. Die Macht nach innen und außen kann nun ganz systematisch von oben her organisiert werden.
Die große kirchliche Krisis ist neben all dem anscheinend gänzlich verschollen, und niemand, vielleicht nicht einmal Rom selbst, weiß, in welche Beziehungen das mit neuer Machtvollkommenheit bekleidete Papsttum zu den neuen Gestaltungen treten wird. Sic Anfangs 1871.
Frankreich liegt in Ruinen; seine Einwirkung auf Italien und Spanien als Großmacht ist auf lange Zeit null, als vorbildliche Republik dagegen ist es vielleicht nicht ohne Bedeutung.
Das erste große Phänomen nach dem Kriege von 1870/71 ist die nochmalige außerordentliche Steigerung des Erwerbssinnes, weit über das bloße Ausfüllen der Lücken und Verluste hinaus, die Nutzbarmachung und Erweckung unendlich vieler Werte, samt dem sich daran heftenden Schwindel (Gründertum).
Das Staunen der ganzen Fachwelt erweckt die Zahlungsfähigkeit Frankreichs, das in seiner Niederlage einen Kredit genießt, wie kaum je ein Land im vollen Siege.
Eine Parallele von unten herauf bietet die Menge und das Gelingen der Streiks.
Das gemeinsame ökonomische Resultat ist eine Revolution in allen Werten und Preisen, eine allgemeine Verteuerung des Lebens.
Die teils schon eingetretenen, teils bevorstehenden geistigen Folgen aber sind: Die sogenannten »besten Köpfe« wenden sich auf das Geschäft oder werden schon von ihren Eltern hiefür vorbehalten; die Bureaukratie ist nirgends mehr eine »Karriere«, das Militär in Frankreich und andern Ländern auch nicht mehr; in Preußen muß es mit den größten Anstrengungen im Rang einer solchen erhalten werden.
Die geistige Produktion in Kunst und Wissenschaft hat alle Mühe, um nicht zu einem bloßen Zweige großstädtischen Erwerbs hinabzusinken, nicht von Reklame und Aufsehen abhängig, von der allgemeinen Unruhe mitgerissen zu werden. Große Anstrengung und Askese wird ihr nötig sein, um vor allem unabhängig im Schaffen zu bleiben, wenn wir ihr Verhältnis zur Tagespresse, zum kosmopolitischen Verkehr, zu den Weltausstellungen bedenken. Dazu kommt das Absterben des Lokalen mit seinen Vorteilen und Nachteilen und eine starke Abnahme selbst des Nationalen.
Welche Klassen und Schichten werden fortan die wesentlichen Träger der Bildung seih? Welche werden fortan die Forscher, Künstler und Dichter liefern, die schaffenden Individuen?
Oder soll gar alles zum bloßen business werden wie in Amerika?
Was die politischen Folgen betrifft, so ist durch die Gründung der neuen Großstaaten Deutschland und Italien, welche mit Hilfe einer längst sehr hoch aufgeregten öffentlichen Meinung, zugleich aber mit großen Kriegen erfolgt ist, sowie durch den Anblick des schnellen Wegräumens und Neubauens an Stellen, wo man das Vorhandene noch lange unwandelbar geglaubt hätte, das politische Wagnis in den Völkern zu etwas Alltäglichem geworden, und die entgegenstehenden Überzeugungen, welche geneigt wären, irgend etwas Bestehendes zu verteidigen, immer schwächer. Staatsmänner suchen die »Demokratie« jetzt nicht mehr zu bekämpfen, sondern irgendwie mit ihr zu rechnen, die Übergänge zu dem für unvermeidlich Geltenden möglichst gefahrlos zu machen. Man verteidigt kaum mehr die Form des Staates, nur noch Umfang und Kraft desselben, und hiebei hilft die Demokratie einstweilen mit; Machtsinn und demokratischer Sinn sind meist ungeschieden; erst die sozialistischen Systeme abstrahieren von der Machtfrage und stellen ihr spezifisches Wollen allem voran.
Die Republiken Frankreich und Spanien können schon durch die bloße Gewöhnung und durch die Furcht vor dem schrecklichen Übergangsmoment zu einer Monarchie ganz wohl als Republiken weiter leben, und wenn sie zeitweise wieder etwas anderes werden, so möchten es eher Cäsarismen als dynastische Monarchien sein.
Man fragt sich, wie bald andere Länder folgen werden.
Allein diese Gärungen kollidieren mit dem Erwerbssinn, und dieser ist am Ende der Stärkere. Die Massen wollen Ruhe und Verdienst; kann ihnen Republik oder Monarchie dies gewähren, so halten sie mit; wo nicht, so werden die Völker, ohne lange zu fragen, die erste Staatsform befördern, welche ihnen jene Vorteile verheißt. Freilich erfolgt ein solcher Entscheid nie rein, sondern durch Leidenschaft, Persönlichkeiten, Nachwirkung bisheriger Positionen auf das stärkste getrübt.
Das vollständige Programm enthält die neueste Rede Grants, welche einen Staat und eine Sprache als das notwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt postuliert.
Und endlich die kirchliche Frage. In ganz Westeuropa besteht der Konflikt zwischen der aus der französischen Revolution hervorgegangenen Weltanschauung und der Kirche, namentlich der katholischen; ein Konflikt, der im tiefsten Grunde auf dem Optimismus der ersteren und dem Pessimismus der letzteren beruht.
In neuerer Zeit ist derselbe durch Syllabus, Konzil und Infallibilität gesteigert, nachdem die Kirche aus dunkeln Ursachen beschlossen hatte, bewußt den modernen Ideen im weitesten Umfange entgegenzutreten.
Italien benützte den Moment, um Rom zu nehmen; sonst lassen Italien, Frankreich, Spanien usw. die theoretische Seite auf sich beruhen, während Deutschland und die Schweiz den Katholizismus irgendwie dem Staat völlig botmäßig zu machen, ihm nicht nur jegliche Exemtion vom gemeinen Recht zu benehmen, sondern ihn auf immer unschädlich zu machen suchen.
Der ganze Hauptentscheid kann nur aus dem Innern der Menschheit hervorgehen. Wird der als Erwerbssinn und Machtsinn ausgeprägte Optimismus weiter dauern, und wie lange? Oder wird – worauf die pessimistische Philosophie der heutigen Zeit könnte hinzuweisen scheinen – eine allgemeine Veränderung der Denkweise wie etwa im III. und IV. Jahrhundert eintreten?