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6. Die Religion in ihrer Bedingtheit durch die Kultur

Bei der Bedingtheit der Religion durch die Kultur handelt es sich um zwei sich berührende, aber verschiedene Phänomene. Erstlich nämlich kann die Religion zum Teil durch Vergötterung der Kultur entstehen. Sodann aber kann eine gegebene Religion auch durch Einwirkung der Kulturen verschiedener Völker und Zeiten wesentlich verändert oder doch gefärbt werden; ja mit der Zeit erhebt sich aus der Mitte der Kultur eine Kritik der Religion. In besonderem Sinne gehört hiezu auch die Rückwirkung der Kunst auf die Religion, welche sie in Anspruch nimmt.

In den klassischen Religionen, ja mehr oder weniger in fast allen Polytheismen – denn Kriegs- und Ackerbaugottheiten gibt es fast überall – findet sich neben der Vergötterung der Natur und der astralen Kräfte ganz naiv auch die gewisser Zweige der Kultur. Die Naturvergötterung ist das Frühere, worauf die Kulturvergötterung erst gepfropft wird. Aber, nachdem die Naturgottheiten zu ethischen und Kulturgottheiten geworden sind, überwiegt zuletzt diese Seite.

Hier ist kein ursprünglicher Zwiespalt zwischen Religion und Kultur, beides ist vielmehr in hohem Grade identisch; die Religion vergöttert mit der Zeit so viele Tätigkeiten, als man will, indem sie die einzelnen Götter als Schützer derselben mit ihren Namen versieht. Man denke an Stellen wie Pausan. I, 24, 3, wo neben der 9Αθηνα 9Εργανη Σπουοαιωγ δαιμωνerscheint. Und nun gibt die Leichtigkeit des Götterschaffens freilich sehr zu denken und mag dem Mythologen die Frage ans Herz legen: Bist du imstande, dich ernstlich in eine solche Zeit und Nation hineinzuversetzen? Aber ein wohligeres Mitgefühl gibt es nicht, als das Hineinversenken in jene Welt, wo jeder neue Gedanke sogleich seine poetische Vergöttlichung und später dann seine ewige Kunstform findet, wo so vieles unaussprechlich bleiben darf, weil die Kunst es ausspricht.

Freilich hat dann die Philosophie, der höchste Zweig der Kultur, mit dieser Religion ein gar zu leichtes Spiel. Und nach der Philosophie und ihrem kritischen griechischen Geiste kommt erst leise und dann mächtiger der Gedanke an das Jenseits und macht – allerdings mit Hilfe der Kaiser – dieser Religion den Garaus.

Auch der germanische Polytheismus hat seine Kulturgötter. Neben der rein elementarischen Seite schließt sich an mehrere göttliche Gestalten auch eine der Kultur angehörende an: sie sind Schmiede, Weberinnen, Spinnerinnen, Runenerfinder usw.

Ein Analogon ist im Mittelalter der Kultus der Nothelfer und Spezialheiligen, wie St. Georg, S.S. Crispin und Crispinian, S.S. Kosmas und Damian, St. Eligius u.a. Doch sind diese bloße Nachklänge der antiken Kulturvergötterung. Im Volke waren offenbar die Heiligen auch als Verursacher der Übel gefürchtet und mußten als solche versöhnt werden. Vgl. Rabelais, Gargantua I, 45, wo die Pilger glauben, die Pest komme von St. Sebastian, que St. Antoine mettait le feu aux jambes, St. Eutrope faisait les hydropiques, St. Gildas les folz, St. Genoû les gouttes (offenbar z.T. nach dem Namensanklang). Auch II, 7 ist St. Adauras gut gegen das Gehenktwerden.

Wie würde aber der Olymp der heutigen Erwerbenden aussehen, wenn sie noch Heiden sein müßten?

Nun ist aber keine Religion jemals ganz unabhängig von der Kultur der betreffenden Völker und Zeiten gewesen. Gerade, wenn sie sehr souverän mit Hilfe buchstäblich gefaßter heiliger Urkunden herrscht und scheinbar alles sich nach ihr richtet, wenn sie sich »mit dem ganzen Leben verflicht«, wird dieses Leben am unfehlbarsten auch auf sie einwirken, sich auch mit ihr verflechten. Sie hat dann später an solchen innigen Verflechtungen mit der Kultur keinen Nutzen mehr, sondern lauter Gefahren; aber gleichwohl wird eine Religion immer so handeln, so lange sie wirklich lebenskräftig ist.

Die Geschichte der christlichen Kirche zeigt zunächst eine Reihe von Modifikationen, je nach dem sukzessiven Eintreten der neuen Völker: der Griechen, Römer, Germanen, Kelten, – und je nach den Zeiten ist es vollends eine ganz andere Religion, d.h. die Grundstimmungen sind die entgegengesetzten. Denn der Mensch ist gar nicht so frei, zugunsten einer »Offenbarung« von der Kultur seiner Zeit und seiner Schicht zu abstrahieren. Zwang aber erzeugt Heuchelei und böses Gewissen. Lange nicht so lehrreich ist die Parallele der Geschichte des Islams bei seinen verschiedenen Völkern und in seinen verschiedenen Zeiten.

Das Christentum der apostolischen Zeit hat am wenigsten Berührung mit der Kultur; es ist nämlich von der Erwartung der Wiederkunft des Herrn dominiert, welche die Gemeinde wesentlich zusammenhält. Weltende und Ewigkeit sind vor der Tür, die Abwendung von der Welt und ihren Genüssen leicht, der Kommunismus fast selbstverständlich und bei der allgemeinen Sobrietät und Dürftigkeit unbedenklich, was ganz anders ist, wenn er mit einem Erwerbssinn in Konflikt tritt.

In der heidnischen Kaiserzeit tritt an die Stelle der verblaßten Wiederkunftsidee Jenseits und Jüngstes Gericht; aber die griechische Bildung dringt von allen Seiten in die Religion ein und zugleich ein buntfarbiger Orientalismus. Häresien und gnostische Nebenreligionen würden vielleicht das Ganze zersprengt haben, wenn dasselbe im Frieden sich selbst überlassen geblieben wäre: wahrscheinlich waren es nur die Verfolgungen, welche das Weiterleben einer herrschenden Hauptauffassung möglich machten.

Eine totale Wandlung bringt die christliche Kaiserzeit. Die Kirche wird ein Analogon des Reichs und seiner Einheit und demselben überlegen, und Hierarchen werden die mächtigsten Personen, in deren Händen enorme Dotationen und die Benefizenz des ganzen Reiches sind. Und nun siegen einerseits die griechische Dialektik im Schrauben der Trinitätsbegriffe und der orientalische Dogmensinn in der Vernichtung der Andersdenkenden, welche sonst der klassischen Welt gar nicht gemäß war; denn auch die Christenverfolgungen der heidnischen Kaiser waren nicht gegen die Denkweise der Christen gerichtet gewesen. Anderseits ist die Wirkung des Einstroms der großen Massen in die Kirche daran kenntlich, daß der Kultus sich an die Stelle der Religion drängt, d.h. daß er die Religion genugsam mit Zeremonien, Bilderdienst, Verehrung der Märtyrergräber und Reliquien usw. sättigt, um den im tieferen Grunde stets heidnisch fühlenden Massen zu genügen.

Das Christentum von Byzanz ist kenntlich das einer geknechteten Nation; während es selber nach Kräften die Nation mitknechten hilft, entbehrt es jeder freien Wirkung auf die Sittlichkeit, denn der Bann bezieht sich nur auf Lehre und äußere Disziplin; Orthodoxie und Fastenbeobachtung genügen für das Leben, und einem mäßigen und geizigen Volke wird die Askese leicht. Zwar hört der Geist von Syrien, Ägypten und Afrika seit dem VII. Jahrhundert auf, Byzanz zu beeinflussen, aber erst, nachdem er sein volles Unheil gestiftet. Der spätere Zusatz ist dann mehr slavischer Aberglaube, Vampyrglaube usw., hier und da mit wiedererwachtem antikem Aberglauben vermischt. Das Christentum von Abessinien und andern ganz verkommenen oder geistig unfähigen Völkern verträgt sich tatsächlich mit völlig heidnischem Inhalt.

Was das lateinische Christentum des Frühmittelalters betrifft, so bleiben zunächst die arianischen Germanen stumm, und wir nähern uns ihnen nur durch Hypothesen; das Wort führen bloß orthodoxe Bischöfe und andere Hierarchen.

Endlich nach dem Sturz des germanischen Arianismus, bei rascher Verwilderung und Verweltlichung des nunmehr allein vorhandenen orthodoxen Episkopats, erscheint das Schreiben auf eine Korporation beschränkt, welche dann die ganze Überlieferung färbt. Hier zeigt sich nun die Einwirkung der Nichtkultur: nur noch die Benediktiner führen die Feder und halten (obwohl infolge ihres Reichtums selber beständig von Verweltlichung bedroht) irgend einen Grad der lateinischen Bildung aufrecht. Der herrschende Gesichtspunkt, der früher allgemein kirchlich war, wird ein klösterlicher; man erfährt nur noch Klösterliches und einzelnes aus der Welt nur als Beigabe; auch von dem damaligen Volkstum vernehmen wir nur insofern etwas, als es an die Klostermauern grenzt und mit den Mönchen in Kontakt tritt, was damals immerhin eine der wichtigsten Lebensbeziehungen ist. Während also zwei sehr verschiedene Dinge: Volksphantasie und Mönchtum an der Klosterpforte zusammentreffen und hier das wenige austauschen, was sie gemeinsam haben und empfinden, treten die historiae zurück neben dem Lokalen, den Legenden und annales; es droht eine Zeit, da die Übersicht der Welt und der Weltgeschichte aufhören könnte.

Die Bevölkerungen aber verlangen von den Kirchenleuten nichts mehr als Askese (im Namen der vielen, welche sie nicht mitzumachen brauchen) und permanente Wunder, und die Kirche richtet sich – unbewußt – auf diese Volksvoraussetzungen hinsichtlich ihrer Magie ein und benützt dergleichen als Stütze für ihre weltlich-politische Macht. – Merkwürdig ist, wie das Wunderwesen und die Askese seit der Rettung des Reiches durch die Karolinger und während ihrer Machtperiode zurücktreten Chrodegan und Benedikt von Aniane beweisen nicht das Gegenteil, da sie nicht eine individuell ekstatische Askese, sondern nur eine (ungern angenommene) neue Disziplin repräsentieren. – unter Karl dem Großen ist kaum davon die Rede –, wie sie dann aber im IX. und X. Jahrhundert wieder ihre alte Macht gewinnen, weil die karolingische Kultur wieder der wilden Volksdenkweise Platz gemacht hat. Die Gefühlswelt des X. Jahrhundert ist fast dieselbe wie die des VI. und VII.

Scheinbar die völligste Unterordnung der Kultur unter die Religion, welche je dagewesen, zeigt das Christentum des XI. Jahrhunderts. Das inzwischen emporgekommene, ganz achtbare Streben vieler Benediktinerklöster weicht vor dem kluniazensischen Fanatismus. Dieser bestieg mit Gregor VII. den päpstlichen Thron und richtet nunmehr seine Postulate an die Welt. Aber es läßt sich fragen, ob nicht etwa das herrschende Papsttum selbst nur das Eindringen einer besondern Art von Welt in die Kirche, ob nicht etwa das Kriegertum, welches als bewaffnete militia S. Petri im Investiturstreit auftritt, doch nur eine verhüllte Kraft der damaligen Welt und ihrer Kultur ist. Die Kreuzzugsidee jedenfalls war ein gemischtes, geistlich-weltliches Ideal.

Und das XI. Jahrhundert verwirklicht dies Ideal und seufzt nicht bloß danach; es schließt mit einem enormen Willensakt des ganzen, mehr und mehr in Feuer geratenen Okzidents.

Im XII. Jahrhundert tut sich dann eine baldige Reaktion auf das Abendland kund. Große weltliche Interessen, Rittertum und Städtetum werden durch die überhaupt geweckten Kräfte an den Tag gebracht und machen der Kirche unbewußt Konkurrenz; die Kirche selber wird wieder unfrommer und weltlicher; ein kenntliches Sinken der Askese ist zu konstatieren; statt ihrer machen sich der Kirchenbau und die Kunst geltend. Es beginnt ein weltliches Raisonnement, und es entstehen die Pariser Schulen und die großen Häresien in den Niederlanden, am Rhein, in Italien und besonders in Südfrankreich mit ihren teils pantheistischen, teils dualistischen Lehren. Es läßt sich fragen, wieweit diese Häresien ein Eindringen fremder Kulturelemente und wieweit sie ein bloßer Beleg des religiösen Schwunges der vorhergegangenen Zeit seien. Letzteres gilt jedenfalls von den Vertretern der ecclesia primitiva, den Waldensern.

Es folgt das Christentum des XIII. bis XV. Jahrhunderts, da die Kirche sich als Reaktion im Siege, ja als Polizei darstellt. Künstlich wird das Mittelalter neu befestigt; die Hierarchie, an die äußersten Mittel gewöhnt, ist tatsächlich großenteils mit Junkern und Kanonisten besetzt; die Wissenschaft ist die kirchlich völlig dienstbare Scholastik, und zwar in den Händen der Bettelorden.

Die Volksreligion aber macht damals ein höchst merkwürdiges Durchgangsstadium durch; sie verflicht sich auf das engste mit der damaligen Volkskultur, wobei man nicht mehr sagen kann, welches das andere bedingt. Sie schließt ein Bündnis mit dem ganzen äußern und innern Leben der Menschen, mit all ihren Geistes- und Seelenvermögen, statt sich im Zwiespalt damit zu erklären.

Das Volk, sehr religiös, mit seinem Seelenheil ernstlich beschäftigt, und zwar mit Hilfe des Werkdienstes, ist jetzt von pantheistischen und dualistischen Auswegen abgeschnitten; auch die Mystiker sind orthodox und unpopulär. Für die Kontinuität des Kultus ist man sehr besorgt, selbst beim Bann. Die starke Versenkung in das Leiden Christi, der sehr gesteigerte Kultus der Hostie und der Mariendienst – alles ist schon als wesentlicher Protest gegen alle Häresie von Bedeutung. In dem naiv polytheistischen Kultus der Nothelfer, Stadtpatrone und Fachheiligen Vgl. oben S. 186 spricht sich eine wirkliche Teilung der göttlichen Kraft aus. Denken wir auch an die populären Mariensagen, die geistlichen Dramen, die Fülle von Bräuchen, die der damalige Kalender verzeichnet, die Naivität der religiösen Kunst.

Bei allen Mißbräuchen, Erpressungen, dem Ablaß usw. hatte die damalige Religion den großen Vorzug, daß sie alle höheren Vermögen des Menschen reichlich mitbeschäftigte, zumal die Phantasie. Während die Hierarchie zeitweise über die Maßen verhaßt war, war sie, die Religion, daher wirklich populär und den Massen nicht bloß zugänglich, sondern diese lebten darin, sie war ihre Kultur.

Ja, hier wäre die Frage auf zuwerfen, ob nicht der wahre Lebensbeweis einer Religion doch darin liegt, daß sie sich auf eigene Gefahr jederzeit kühn mit der Kultur verflechte. Das Christentum gab Beweis von seinem Wachstum, so lange es neue Dogmen, Kultformen und Kunstformen trieb, d. h. bis zur Reformation. – Nur daß in den letzten Zeiten vorher bedenkliche Zeichen am Horizont aufstiegen: die ruchlose Machtsucht der Fürsten, die schrecklichen Päpste, die Zunahme der Macht des Teufels in dem (halb populären, halb dominikanischen) Hexenwesen.

Vom Christentum der Reformation wird das Heil auf einen innern Prozeß zurückgeführt, nämlich auf die Rechtfertigung und die Aneignung der Gnade durch den Glauben, woneben der Kalvinismus dann noch die Lehre von der Gnadenwahl aufstellt. Gerade aus dem Gegensatz zum katholischen Werkdienst macht man das Hauptdogma der neuen Lehre. – Wie wandelbar sind alle so auf die Spitze getriebenen Dinge!

Die Religion ist »gereinigt«, d. h. sie ist jetzt ohne jene Außenwerke und Verpflichtungen, in welche überall Werkdienst eingenistet schien; sie sollte auf einmal mit einem mächtigen Vermögen des Menschen, mit der Phantasie, als einer rein sündlichen und weltlichen, irreführenden Potenz nichts mehr zu tun haben und sich dafür »verinnerlichen«. – Dazu gehörte schon Muße und Bildung, d.h. Unpopularität, soweit man nicht das allgemeine Mitmachen durch Gewalt erzwang. Und dabei hatte man erst noch die größte Mühe, die unbeschäftigt gelassene Phantasie vom Nebenhinausgehen abzuhalten. Dies war denn auch der Grund, weshalb die Gegenreformation wenigstens in der Kunst eine gewaltsame Herstellung des Verhältnisses zur volkstümlichen Phantasie durchsetzte und der Pomp der Charakter des Barocco wurde.

Ferner erfolgte die Herstellung der Religion in der urchristlichen Auffassung als einer ewig gültigen, doch in einer sehr davon abweichenden Zeitlichkeit, bei gewerblichen, kräftig emporstrebenden Völkern in einer Epoche gewaltiger Bildungsgärung, welche dann mit Gewalt durch zwei Orthodoxien, eine katholische und eine protestantische, zur schweigenden Huldigung gezwungen wurde.

Die Kultur, auf doppelte Weise (als Phantasie = Kunst und Lebensgestaltung, und als Bildung) geknechtet und abgewiesen, legte sich dann auf heimliche Meuterei, bis in der Literatur des XVIII. Jahrhunderts die Abwendung der Geister offen hervorbricht, gegen die katholische Kirche als reine Negation, gegen die protestantische als Auflösung in allgemeine Vernunft, als Umschlag in Aufklärung und Humanität, auch als individuelle Religiosität, je nach den Gemütern und Phantasien. Zuletzt kann auch der offizielle Protestantismus, als durch einen Prozeß der Geister entstanden, sich der Konzessionen nicht mehr erwehren.

Und nun das neuere Verhältnis des Christentums zur Kultur. Zunächst weist die Kultur in Gestalt von Forschung und Philosophie dem Christentum seine menschliche Entstehung und Bedingtheit nach; sie behandelt die heiligen Schriften wie andere Schriften. Das Christentum, wie alle Religionen, in völlig kritiklosen Momenten und unter völlig hingerissenen und kritikunfähigen Menschen entstanden, kann sich nicht mehr als sensu proprio und buchstäblich gültig gegenüber einem allseitigen Geistesleben behaupten. Neben der rationellen Anschauung von Natur und Geschichte ist die Behauptung eines eximierten Stückes eine Unmöglichkeit. Je mehr dergleichen dennoch versucht wird, desto unerbittlicher steigt beim Gegner die Neigung zur Kritik und zur Auflösung alles Mythischen. Dabei möge man sich immerhin der Schwierigkeit bewußt sein, welche unsere einseitige Kulturzeit hat, zu glauben und uns vorzustellen, daß und wie andere geglaubt haben, und auch unserer Unfähigkeit, uns bei fernen Völkern und Zeiten diejenige Einseitigkeit und hartnäckige Marterbereitheit klar zu machen, welche für die religiösen Bildungskrisen unumgänglich war.

Zweitens stellt sich die Moral, so gut sie kann, von der Religion getrennt, auf ihre eigenen Füße. Die Religionen stützen sich in ihren späteren Zeiten gern auf die Moralen als ihre angeblichen Töchter; allein dagegen erhebt sich sowohl theoretisch die Doktrin einer vom Christentum unabhängigen, rein auf die innere Stimme begründeten Sittlichkeit als auch praktisch die Tatsache, daß im großen und ganzen die heutige Pflichtübung enorm viel mehr vom Ehrgefühl und vom eigentlichen Pflichtgefühl im engeren Sinne als von der Religion bestimmt wird. Deutliche Anfänge hievon treten seit der Renaissance zutage. Das künstliche Neupflanzen von Christentum zum Zwecke der guten Aufführung aber war immer völlig vergeblich. Wie lange freilich das Ehrgefühl noch als »letzter mächtiger Damm gegen die allgemeine Flut« vorhalten wird, ist fraglich. Ein einzelner Beleg von der Abtrennung der Moral vom Christentum liegt z. B. in der heutigen von optimistischer Grundvoraussetzung ausgehenden Philanthropie, welche, insofern sie den Menschen vorwärts helfen, Tätigkeit befördern will, viel mehr ein Korrelat des Erwerbsinnes und der Diesseitigkeit überhaupt als eine Frucht des Christentums ist, das ja konsequenterweise nur Weggeben aller Habe oder Almosen kennt. Indem ferner die liberalen Ansichten vom Jenseits in starkem Fortschreiten begriffen sind, abstrahiert die Moral von einer zukünftigen Vergeltung. Überhaupt dringt der moderne Geist auf eine Deutung des ganzen hohen Lebensrätsels unabhängig vom Christentum.

Drittens sind das Weltleben und seine Interessen, zu schweigen von derjenigen Sorte von Optimismus, die einen idealen Zustand auf Erden herzustellen hofft, stärker als alles geworden. Die gewaltige zeitlich-irdische Bewegung und Arbeit jedes Grades, mit Inbegriff der freien geistigen Tätigkeit, wobei schon materiell die Muße zur Kontemplation fehlt, steht in einem großen Mißverhältnis zum Dogma der Reformation, welches – ob man nun an die Rechtfertigung oder an die Gnadenwahl denke – an sich schwierig und ohnehin nie jedermanns Sache wäre. Vollends aber steht das Urchristentum selbst zum geschärftesten Christentum unserer Tage (etwa die Trappisten ausgenommen) im Kontrast. Man liebt das demütige Sichwegwerfen und die Geschichte von der rechten und linken Backe nicht mehr: man will die gesellschaftliche Sphäre behaupten, wo man geboren ist; man muß arbeiten und viel Geld verdienen, überhaupt der Welt alle mögliche Einmischung gestatten, selbst wenn man die Schönheit und den Genuß haßt; in Summa: man will bei aller Religiosität doch nicht auf die Vorteile und Wohltaten der neueren Kultur verzichten und gibt damit wiederum einen Beweis von der Wandlung, in welcher sich die Ansichten vom Jenseits befinden. Die kalvinistischen Länder, die schon von der Reformation an wesentlich die erwerbenden sind, sind zu dem angloamerikanischen Kompromiß zwischen kalvinistischem Pessimismus in der Theorie und rastlosem Erwerb in der Praxis gekommen. Sie haben damit einen starken Einfluß ausgeübt, können es aber, sollte man denken, mit dem petit nombre des élus nie so recht ernst genommen haben.

Bedenkliche Mittel der jetzigen Orthodoxien sind das Eingehen auf die »Solidarität der konservativen Interessen«, das Anschließen an den Staat, der doch nicht mehr gerne mithalten mag, das Aufrechterhalten des Mythus um jeden Preis u. a. Irgendwie aber wird sich das Christentum zurückziehen auf seine Grundidee vom Leiden dieser Welt; wie sich damit das Leben- und Schaffenwollen in derselben auf die Länge ausgleichen wird, ahnen wir noch nicht.

Zusatz 1871. Ob wir jetzt am Eingang einer großen religiösen Krisis stehen, wer vermag es zu ahnen? Ein Kräuseln auf der Oberfläche wird man bald inne werden – aber erst in Jahrzehnten, ob eine Grundveränderung vorgegangen.

Zum Schluß möge hier noch als Ergänzung und Gegenstück zu früher (S. 138 ff.) Gesagtem von der besonderen Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie die Rede sein. Beide haben von jeher in hohem Grade zum Ausdruck des Religiösen beigetragen. Allein jede Sache wird durch ihren Ausdruck irgendwie veräußerlicht und entweiht.

Schon die Sprachen üben Verrat an den Sachen: »ut ubi sensus vocabulum regere debeat, vocabulum imperet sensui«, Baco, Sermones fideles 3 wozu dann kommt, daß die unzähligen, welche sich, obwohl unberufen, mit den Sachen abgeben müssen, froh sind, sich mit dem Wort abfinden zu können.

Vollends aber ist die Kunst eine Verräterin, erstens indem sie den Inhalt einer Religion ausschwatzt, d. h. das Vermögen der tieferen Andacht wegnimmt und ihm Augen und Ohren substituiert, Gestalten und Hergänge an die Stelle der Gefühle setzt und diese damit nur momentan steigert, zweitens aber, indem ihr eine hohe und unabhängige Eigentümlichkeit innewohnt, vermöge deren sie eigentlich mit allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt und auf Kündung. Und diese Bildnisse sind sehr frei; denn sie läßt sich von der religiösen oder anderen Aufgabe nur anregen, bringt aber das Wesentliche aus geheimnisvollem eigenem Lebensgrunde hervor.

Freilich kommt dann eine Zeit, da die Religion inne wird, wie frei die freie Kunst verfährt, ihre Stoffe ballt usw. Sie versucht dann die stets gefährliche Restauration eines vergangenen und befangenen Stiles als eines hieratischen, der nur das Heilige an den Dingen darstellen soll, d. h. von der Totalität der lebenden Erscheinung abstrahiert und natürlich neben dem gleichzeitigen Vollbelebten (wobei die Kunst von dem Baum der Erkenntnis gegessen) um ein Großes zurücksteht.

Hierher gehört die mürrische Dezenz und Behutsamkeit z. B. der neueren katholischen Kunst und Musik. Und vollends wissen Kalvinismus und Methodismus recht gut, warum sie die Kunst mit Gewalt abweisen, so gut es der Islam wußte. Hierbei hat man es freilich vielleicht auch mit einer unbewußten Nachwirkung des Pessimismus des älteren Christentums zu tun, welcher keine Stimmung zur Darstellung von irgend etwas übrig hatte, auch wenn ihm die Sündlichkeit der Kreatur deren Nachbildung nicht schon verleidet hätte.

Es kommt eben auf das Naturell der Völker und der Religionen an. Das Gegenbild von diesem allem sind Zeiten, in welchen die Kunst den Inhalt der Religionen bestimmen hilft. So, wenn Homer und Phidias den Griechen ihre Götter schaffen, wenn im Mittelalter die Bilderkreise, zumal die der Passion, die ganze Andacht und die Gebete stückweise vorschreiben, oder wenn das religiös-festliche griechische Drama die höchsten Fragen coram populo von sich aus darstellt, und wenn die katholischen Dramen des Mittelalters und die autos sacramentales die heiligsten Ereignisse und Begehungen derb der Volksphantasie zur Beute hinlegen, ohne alle Sorge vor Profanation. Aus guten Gründen beschränkte sich dagegen der Protestantismus des XVI. Jahrhunderts in seinen öffentlichen Dramen auf Allegorien, Moralitäten, Altes Testament und etwa Geschichtliches.

Ja die Kunst ist eine wundersam zudringliche Verbündete der Religion und läßt sich unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem Tempel weisen; sie stellt die Religion dar, selbst nachdem diese, wenigstens bei den Gebildeten (und selbst bei einigen Malern wie bei Pietro Perugino), erloschen ist; im späteren Griechenland, in Italien zur Zeit der Renaissance lebt die Religion (außer etwa noch als Superstition) wesentlich nur noch als Kunst fort.

Aber die Religionen irren sich sehr, wenn sie glauben, daß die Kunst bei ihnen einfach nach Brot gehe.

Sie geht in ihren hohen und primären Repräsentanten auch nicht bei der jeweiligen Profankultur nach Brot, so sehr es oft diesen Anschein hat, wenn geschickte und berühmte Leute sich dazu hergeben, die Lektüre der Philister zu illustrieren.


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