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Über das wissenschaftliche Verdienst der Griechen

Rede an der Jahresfeier der Universität 10. November 1881.

Vortrag, gehalten an der Rektoratsfeier in der Aula des Museums an Stelle des verreisten Rektors Professor A. von Miaskowski. Manuskript, 25 Quartseiten, im Besitz von Herrn Dr. R. Grüninger-Bischoff in Basel, der die Publikation des Vortrages in verdankenswerter Weise gestattet hat. Der Vortrag beruht wohl größtenteils auf B.'s Vorlesung über die »Griechische Kulturgeschichte«, und darum denn auch zwischen jenem und dieser an verschiedenen Stellen enge Berührungen, besonders im III. Band der von J. Oeri hrgb. Griech. Kulturgeschichte.

 

Bei der Jahresfeier einer Universität gedenkt man besonders gerne derer, welche vor uns gelernt, geforscht und zuerst die Pfade der Wissenschaft gebahnt haben, die jetzt in tausendfacher Verschlingung durch die geisterfüllte Welt weiter und weiter führen. Der kräftige Forscher und Denker, unser Rector magnificus, an dessen Stelle ich heute zu Ihnen zu reden habe, weil er uns entzogen worden ist, auch er würde vielleicht aus der Vorgeschichte seiner Wissenschaft uns Köstliches mitgeteilt haben von derjenigen Art, welche zu weitem Nachdenken auffordert. Gestatten Sie mir, ein anderes, nicht ganz unbestrittenes Kapitel aus der Geschichte des Wissens in kurzen Umrissen zu behandeln: das wissenschaftliche Verdienst der Griechen. Ich hätte nicht das Recht, von den wissenschaftlichen Verdiensten der Griechen zu reden, weil dies einen Anspruch in sich schlösse, welcher ferne von mir ist: die Bekanntschaft mit dem Inhalt aller einzelnen Wissenschaften. Wohl aber möchte es erlaubt sein, diejenige spezifische Kraft, welche hier die Trägerin des Wissens war, in ihren allgemeinen Schicksalen, ihren Fördernissen und Beschränkungen zu betrachten.

Gewiß sind nicht die Griechen dasjenige Volk gewesen, bei welchem zuerst Wissen entstanden und gesammelt worden ist. Jedenfalls wird hier der vordere Orient den großen zeitlichen Vorsprung gehabt haben vor allen Völkern mindestens des ganzen seitherigen Westens. Aegypter und Babylonier besaßen alte, vielseitig durchgebildete Kulturen und mächtige Staaten, welche die Zwecke dieser Kulturen zu den ihrigen machten, und hochausgestattete Priesterkasten, welchen das eigentliche Wissen oblag – alles große Zeiträume, wenigstens viele Jahrhunderte, hindurch umwogt von einer ungeheuren und bisweilen lüsternen Barbarenwelt. Der nächste neuere und noch immer uralte Schößling war Phönicien, und von hier aus ging dann ägyptische und babylonische Tradition auch auf die frühsten Griechen über.

Aber die unwissende Jugend dieses Volkes sollte noch sehr lange Zeiten vor sich haben. Griechenland war ja gar nie Ein Staat, und eine Kaste der Wissenden hat sich hier schon deshalb gar nie gebildet. Frei und eigenwillig baut sich dies Volk seine Welt von Anschauung und nimmt von den Kulturformen des Orients und von seinen Bedürfnissen nur ganz allmählich an, was ihm dient und was es mit seiner sehr starken Eigentümlichkeit verschmelzen kann. In ungebrochener Naivität lebt es diejenigen Zeiten durch, welche ihm später als sein Heroenalter erschienen sind.

Aber auch als mit der dorischen Wanderung diese Zeiten vorüber waren, war noch lange keine Wissenschaft möglich. Die Dinge von der sogenannten Machtfrage aus betrachtet, entdecken wir einen übermächtigen direkten Feind, der vielleicht die Wissenschaft und ihr Entstehen viele Jahrhunderte verzögerte: den griechischen Mythus, d. h. die Verherrlichung eben jenes Zeitalters von Göttern und Helden.

Priesterkasten, wie in Aegypten und Indien und Persien, schaffen Theologien, welche den Mythus vereinfachen und disziplinieren. Bei den Griechen wie bei den Germanen fehlte eine solche Kaste völlig, und der Mythus konnte einen schrankenlosen Reichtum entwickeln, d. h. die Volksphantasie konnte sich dabei völlig gehen lassen und hat dieses Glück auf das reichlichste und kräftigste genossen.

Der Mythus war ein um so stärkerer Feind der Wissenschaft, als er selber eine Urgestalt und ein Lebenskonkurrent derselben war: er enthielt nämlich nicht nur die Religion in sich, sondern auch die Naturkunde, die Weltkunde, die Geschichte, alles in höchst volkstümlicher Symbolik, und seine Form war Poesie.

Die mythische Welt schwebte über den damaligen Griechen wie eine noch ganz nahe herrliche Erscheinung; Familien und ganze Stämme leiteten ihren Ursprung noch von den Göttern her; Sitten und Gebräuche beriefen sich wegen ihres Ursprungs auf die mythische Zeit. Man nennt dies Volk »klassisch«; wenn aber Romantik darin besteht, daß alle Anschauungen und Gedanken sich auf eine glänzend ausgemalte Vorzeit zurückbeziehen, so haben die Griechen eine kolossale Romantik genossen, wie vielleicht kein anderes Volk auf Erden. Eine unvergängliche Poesie, von den alten Sängern bis auf die chorische Lyrik und die größten Tragiker, dann auch eine bildende Kunst, die seither nicht wieder erreicht worden, widmeten sich weit überwiegend dieser Gestaltenwelt. Wenn die Griechen so fest am Mythus hingen, so geschah dies, weil sie ahnten, daß sie in ihm ihre Jugend verteidigten. Seine räumliche Ausbreitung geht so weit es Hellenen gab, in alle Kolonien; – die zeitliche: er hat hernach weitergelebt neben der Wissenschaft bis ans Ende der antiken Zeit, er hat sich in Naturkunde und Geschichte beharrlich immer wieder eingedrängt und ist selber zur Wissenschaft geworden, er hat sein Dasein gewaltsam verlängert in Gestalt gelehrter Mythensammlung und Mythenvergleichung. Strabo und andere ermitteln nicht, was wirklich in der Urzeit geschehen, sondern welches die reinste, des Vorzuges würdigste Aussage des Mythus sei.

Als aber im V. Jahrhundert vor Christus, dem der großen geistigen und politischen Entscheidungen, der Bruch der Denkenden mit dem Mythus eingetreten war und die Wissenschaft begann, traf dieselbe sofort auf eine neue Konkurrenz, welche den Mythus zeitlich genau ablöste; ja dieselben Männer, welche den Mythus und selbst das Dasein der Götter bekämpften und einzelne Zweige der Wissenschaft (Weltkunde, Staatskunde, Geschichte der πόλεις, Altertümer, Länderkunde, Dichtererklärung, Haus- und Staatsverwaltung) neu schufen, die Sophisten (die man ja nicht bloß nach ihrem Konkurrenten Plato beurteilen darf), waren auch die Hauptrepräsentanten dieses neuen Feindes der Wissenschaft.

Es war die Redekunst, längst praktisch vorhanden, jetzt plötzlich ein Gegenstand methodischer Lehre und in der Praxis eine Sache auf Tod und Leben, weil in den nunmehrigen Demokratien die Rede vor Volksversammlung und Volksgericht die Schicksale entschied; – außerdem aber im ganzen übrigen griechischen Leben mit dem größten Eifer als etwas Selbstverständliches akzeptiert und gepflegt – und als System bis zu einem solchen Grade verfeinert und vervollkommnet, daß die heutige Praxis kaum ein Hundertstel von den Vorschriften und Ratschlägen der griechischen und griechisch-römischen Rhetorik mit Bewußtsein anwendet.

Wohl ist die Redekunst ohne geistige Ausbildung und mancherlei Wissen nicht denkbar und hat mit der Gelehrsamkeit manche Berührung – es existiert kein willentlicher Antagonismus –; und der Störung und Aufregung konnte sich so ziemlich entziehen, wer kein Politiker sein wollte. Aber die Rhetorik war nun einmal eine Macht geworden von einziger Art, dergleichen kein Volk bisher gekannt hatte, und töricht wäre es, wenn wir Späte die Sache oder gar die Nation deshalb bedauern wollten, während die Griechen eine Bestimmung ihres Geistes darin fanden. Aber der Verlust (im Sinne der Forschung gesprochen) ist unleugbar, wenn man erwägt, welche Quote jedes griechischen Forscherlebens und seiner Kräfte mit der Redekunst muß dahingegangen sein, wenn man sieht, wie selbst Aristoteles einen Teil seines kostbaren Lebens darauf wandte, wenn man das noch jetzt vorhandene gewaltige Depositum kennen lernt und dann erfährt, daß dies nur arme Reste sind von hunderten von τέχναι, προγυμνάσματα; und ästhetischen Auseinandersetzungen etc. bis auf die Byzantiner herab.

Am griechischen Staat aber, an der πόλις hatte die Wissenschaft keine Stütze, sondern eher eine Feindin. Eine wissende Kaste gab es hier nie, auch nicht von den Urzeiten an. Der Wille der πόλςς ging nicht nach der Seite der Gelehrsamkeit; sie nimmt vor allem den Bürger für ihre Zwecke in Anspruch, und da hing dessen Wert eher an allem als an seinem Wissen. Eine hohe nationale Anlage brachte freilich Denker, Dichter, Künstler empor, die πόλις aber tötete sie dann hie und da oder setzte sie gefangen (Phidias) oder verscheuchte sie. Nichts aber lag ihr ferner als wissenschaftliche Anstalten; sie überließ schon den gewöhnlichen Jugendunterricht rein dem Privatleben, der Sitte. Die Demokratie war ganz besonders den Naturforschern gefährlich, und wer die Himmelskörper, die man für von Göttern belebt oder direkt für göttliche Wesen hielt, astronomisch oder die Welt überhaupt als ein System von Kräften erklärte, konnte einem Asebieprozeß und der Todesstrafe verfallen. Bei einer sehr geringen Meinung von den Göttern, bei permanenter Verhöhnung derselben in der sicilischen und in der alten und mittleren attischen Komödie duldete man doch keine Leugnung derselben; der Glaube der leicht aufzuhetzenden Massen reichte grade weit genug, um die Rancune der Götter zu fürchten und es »sicherer« zu finden, daß ein Leugner der Göttlichkeit von Sonne und Mond getötet werde.

Vom IV. Jahrhundert an gingen die meisten Denker der πόλις nach Kräften aus dem Wege, und die Cyniker machten sich ein Vergnügen daraus, ihrer offen zu spotten; aber die verkommende Demokratie fing dann etwa mit einem Forscher Händel an, weil derselbe, statt sich von ihr brandschatzen zu lassen, sein Vermögen an seine Bildung, an Reisen und Sammlungen ausgegeben hatte. – So die Abderiten mit Demokrit, worauf er ihnen seinen großen Diakosmos und seine Schrift über die Dinge im Hades vorlas und ihnen sagte: mit solchen Forschungen habe er seine Habe ausgegeben. Sie ließen ihn dann wenigstens in Ruhe und hingen ihm nicht aus Rache noch einen Prozeß an.

Unter solchen Gefahren, zwischen solchen Gegnern bildete sich die griechische Wissenschaft. Wenn nicht eine höhere Bestimmung und eine mächtige innere Notwendigkeit, ein Beruf darüber gewaltet hätte, so wäre nichts daraus geworden.

Die Anlage der Griechen ist es überhaupt, daß sie Teile und Ganzes, Besonderes und Allgemeines zu erkennen und zu benennen vermögen, und dabei wird nicht unterwegs das Wort, während es noch halb Symbol und noch nicht Begriff ist, gleich geheiligt und in seiner Versteinerung angebetet; ihre Gedankenwelt bleibt eine bewegte.

Das Entscheidende ist nicht dieser oder jener Grad von Erkenntnis, welcher erreicht wird, sondern die Fähigkeit zu jeder Erkenntnis.

Hieher gehört die griechische Sprache als Organ des Denkens überhaupt, der Philosophie und der Wissenschaft, in Parallele mit den orientalischen Sprachen. Sie scheint schon von Anfang an Poesie, Philosophie, Redekunst und Wissenschaft virtuell in sich zu besitzen.

Es erhebt sich in der Mitte des griechischen Geisteslebens die Philosophie, getragen von einer ganz abnormen spekulativen Begabung der Nation, eine ganz gewaltige Macht, mag sie auch das Höchste nicht erreicht, das große Thema von Freiheit und Notwendigkeit kaum berührt haben (wie denn das, was Aristoteles, größere Ethik, Kap. 9, darüber vorbringt, sehr ungenügend ist). Nun wird hier ähnlich wie bei der Redekunst die Frage erlaubt sein: ob nicht die Philosophie als Beschäftigung eine Konkurrentin der Forschung gewesen sei? Ob sie nicht zu hochmütig verfahren sei, als sie, nach ihrer Gewohnheit, den Wissenschaften ihr Fachwerk vorschrieb? Sie hat derselben aber doch weit mehr genützt als geschadet.

Und die allgemeine freie Bewegung des Gedankens, welche die Philosophie errang, kam auch jeglicher Forschung zugute: z. B. die Kritik der Sinneswahrnehmungen seit Heraklit, die Idee einer beständigen Bewegung und Entwicklung (πάντα ῥεῖ) bei ihm. Nicht nur das Denken, auch das Wissen hier war unpriesterlich, laienhaft.

Die Vielheit, das wetteifernde Nebeneinander der Schulen hinderte die Tyrannei einer einzelnen philosophischen Sekte, welche auch die Forschung hätte einseitig machen oder eingrenzen können.

Und endlich entwickelte die Philosophie auch im äußern Leben die freie Persönlichkeit, welche auch den Forscher ziert. Nie mehr in der ganzen Geschichte hat sich die freie Beschäftigung mit geistigen Dingen, amtlos, ohne obligatorische Berührung mit Staat und Religion, ohne offizielle Schule, ein solches Ansehen von Macht geben können; sie wäre, abgesehen von ihrem Inhalt, schon ipso facto welthistorisch durch dies bloße Auftreten, mit lauter unmittelbarem persönlichem Wirken, bei Lebzeiten fast gar nicht durch Bücher. Damals war sie von doppelt hohem Werte: weil sie dem Menschen ein inneres Glück darbot, das von dem zerrütteten Staat unabhängig war – und weil sie den Menschen auch im Leben an Freiheit durch Entbehrung und Einfachheit gewöhnte; dazu die Leichtigkeit des Lebens im Süden; und weil sie nicht bloß den Philosophen, sondern unter Umständen auch den Forscher dazu erzog, eine Persönlichkeit und nicht ein bloßer Schriftsteller zu sein.

Hiemit kommen wir von den Philosophen überhaupt (soweit die Trennung möglich ist) auf die Forscher, sowohl für die Naturwissenschaften als für die Kunde des Vergangenen, der Ferne, der Welt im weitesten Umfange, Staatswesen, Kultur und anderes.

Den Griechen gegenüber sind unsere Forderungen endlos und, zumal in neuerer Zeit, Undank und Tadel gleich bereit, wo sie nicht geradezu alles und das Höchste geleistet haben, während man andere Völker unangefochten läßt, weil man weiß, daß bei ihnen doch nichts zu holen gewesen wäre. Wir sollten uns, wenn wir optisch richtig verfahren wollen, überhaupt wundern, daß bei den Griechen neben Mythus, Redekunst und philosophischer Spekulation noch so viele Zeit und Kraft für die eigentliche Forschung übrig blieb. Sie hätten uns zum Beispiel nur ihre Poesie oder nur ihre bildende Kunst hinterlassen können und wir müßten schon leidlich zufrieden sein.

Die Opfer waren sehr groß; denn der griechische Gelehrte war durchaus auf höchste, dauernde Anstrengung angewiesen und bedurfte der Resignation gegen Armut, Exil und andere Schicksalsschläge wie der Philosoph; Demokrit gab sein Vermögen aus, und Anaxagoras ließ das seine im Stich δπ ενδουσιασμου χαι.

Die Forschung war meist ohne Verbindung mit jeglichem Erwerb, nur freie Schule, so privatim als möglich; alles war auf freie Teilnahme angewiesen und fast zufällig; sie war ohne Stellen und ohne Honorare und Verlagsrechte.

Die Schwierigkeit und das subjektive Verdienst der Wissenschaft waren daher von dieser Seite enorm. Es bedurfte einer mächtigen innern moralischen Kraft. Und im IV. Jahrhundert war es in der Tat die höchste Zeit, daß durch Alexander und die Diadochen Centra des geistigen Lebens und gesicherte Positionen für die Forschung entstanden außerhalb des verlotterten Griechenlands, und daß die Last der bleibenden Deposita, des Büchersammelns dem Einzelnen erleichtert, ja abgenommen wurde. Bisher hatte jeder Forscher selber sammeln müssen, Bücher sowohl als Kunden (von ihren Schriften ist vieles wohl nur Kopie oder Exzerpt nach andern, wie überall vor dem Bücherdruck); er hatte namentlich reisen müssen (während man nirgends im vorrömischen historischen Hellas von reisenden Aegyptern oder Babyloniern hört), sowohl um selber die Dinge der Welt und die Kunden darüber zu sammeln, als um Wissende aufzusuchen – und dazwischen lehrte er auch wohl, wo er sich befand. Freilich die Welt ist dem Weisen eine Fremde überhaupt, das Leben eine Herberge, der Leib selbst ein Kerker. Xenophanes sagt, seit 67 Jahren irre er unstet im hellenischen Land umher und dies Wanderleben habe er im 25. Jahr angetreten (er sagte es also im 92. Jahr). Andere aber reisten auch schon früh im Barbarenland und gewiß besonders nach Aegypten. So ganz wohl schon Pythagoras. Besonders ist auf Demokrit hinzuweisen, der gesagt hat: von meinen Zeitgenossen habe ich die meisten Länder durchirrt, das Entlegenste durchforscht, die meisten Klimata und Gegenden kennen gelernt und die meisten unterrichteten Männer gehört, und in der Zusammenstellung von Linien samt Beweis (er meint offenbar Geometrie) hat mich niemand übertroffen, auch nicht die sogenannten Harpedonapten in Aegypten, bei denen ich 5 Jahre in der Fremde gewesen bin. Er ist der große Gelehrte, der Polyhistor, der wahre Vorgänger des Aristoteles.

Es ist hier auch auf die Reisen Platos, des Eudoxos von Knidos und anderer hinzuweisen.

Wahrscheinlich lernten die Forscher wie die Philosophen auf ihren Reisen freilich weniger die echten Landeseingeborenen als die angesiedelten Hellenen und die Halbschlächtigen, die Leute der hellenisch-barbarischen Mischrassen kennen; besonders in Aegypten kam man wohl sehr schwer an den eigentlichen Wissenden, nämlich den Priester, und Plato mag in Aegypten besonders mit Juden umgegangen sein. Aber sie lernten, was kein anderes Volk hätte lernen können, weil sie allein lernen wollten und nicht die verachtungsvolle Ignoranz des Orientalen und seine Rassenscheu hatten.

Dann war der Betrieb ihrer Wissenschaft rein individuell; die Ueberlieferung ging von einem zufällig vorhandenen Lehrer oder Autor auf zufällig vorhandene Schüler oder Leser. (Priestertümer können viel massenhafter und disziplinierter Tatsachen sammeln.)

Es fehlte bei den Griechen nicht nur einstweilen dasjenige bleibende Depositum des Wissens, das sich nur an dauernde Staatsanstalten anschließen kann, sondern auch der gleichartige Ausbau des Wissens und die gleichartige Transmission samt ihrer jetzigen Ubiquität, welche alle zivilisierten Länder umfaßt und nur beim Bücherdruck möglich ist.

Wahrscheinlich gab es viele sogenannte vergebliche Arbeit, indem vieles viele Male von Verschiedenen, mit jedesmal neuer Anstrengung, entdeckt wurde – sie wußten nicht von einander – das heißt, es gab, im Vergleiche mit jetzt, ebensoviele Inspirierte und Glückliche mehr.

Der Hauptmangel aber war, daß das Große nicht entschieden durchdrang, daß die größten Entdeckungen bald wieder verschüttet und vergessen werden konnten und daß außer dem Mythus, welcher Natur und Geschichte permanent umwogte, auch der ganz ordinäre Wahn sich behauptete. Dies hing nicht an einem Fehler des griechischen Intellektes als solchen, sondern an Umständen, unter welchen auch bei den neuern Völkern das gleiche Uebel sich eingestellt haben würde. Und vielleicht würde selbst das bloße Dasein des Bücherdrucks diese Umstände nicht aufwiegen.

Es war dies die Indifferenz der Polis, welche absolut nicht Schule hielt und dies auch keiner Korporation gestattet haben würde und keinen Bürger nötigte, die Resultate des höheren Wissens oder auch nur eine bestimmte Quote von Einzeltatsachen daraus offiziell in sich aufzunehmen, – und am allerwenigsten sich hierüber bei Schulkindern und Aemterkandidaten durch Examina vergewisserte. Der Konnex zwischen Schule halten, Examen halten, Beamte anstellen fehlte vollständig. Aemter galten als etwas Hohes, aber Anstellungen als etwas Banausisches; keinem Staat aber fiel es vollends ein, die letzteren mit einem System von Examinibus zu verknüpfen. Die Beamtencarriere existierte nicht; alle wesentlichen Verrichtungen im Staat waren wandelbar, diejenigen Verrichtungen aber, welche dauernde Tätigkeit verlangten, wie Zölle und dergleichen, waren verachtet.

Hieran änderte auch die Diadochenzeit nicht das Mindeste. Das Museion von Alexandrien war keine Lehranstalt und vollends keine Examinationsbehörde; was zunahm, war nur die sehr mäßige Sicherung des Wissens, soweit sie durch Aufbewahrung zu erreichen ist; aber von einer allgemeinen Verpflichtung zu irgend einem Wissen war so wenig die Rede als vorher.

Um so höher ist der Opfersinn der wirklichen Forscher anzuschlagen, ihre Unabhängigkeit und Hingebung, und vor allem ihr Genius.

Unbestritten haben in der Kunde des Weltsystems und der Naturwissenschaften die wissenden Kasten von Aegypten und Babylonien viel ältere und schon sehr vollständige Beobachtungen der Himmelskörper aufzuweisen gehabt; sie berechneten das astronomische Jahr, brachten die Mondumläufe mit den scheinbaren Sonnenumläufen in Einklang, kannten Sonnen- und Mondfinsternisse zum voraus, besaßen ein einfach geniales System von Maß und Gewicht, waren Meister in der Geometrie. In der Medizin bestand bei den Aegyptern ein uraltes, festgehaltenes System, welches jedenfalls überwiegend wahre und richtige Bestandteile enthielt und durch die Sitte der Einbalsamierung der Leichen den Vorsprung der anatomischen Kenntnis vor allen alten Völkern voraus hatte. Die Uebergänge zwischen Wissenschaft und Technik waren ihnen vertraut: die Chemie, Metallbereitung, Farben und anderes, die Bewältigung der größten mechanischen und konstruktiven Aufgaben. Gewiß haben die Griechen mittelbar und unmittelbar von diesen so viel ältern und in gewissem Sinne so viel vollständigeren Kulturen das Entscheidende überkommen oder gelernt. Sie müssen sich nachsagen lassen, sie hätten nicht einmal recht gelernt, und ihre Jahresberechnung, ihr Kalenderwesen sei unvollkommener gewesen nicht nur als das dieser Völker, sondern sogar als das der mexikanischen Tolteken.

Allein wir müssen erst vernehmen, ob irgend ein ägyptischer Papyrus oder ein assyrischer Toncylinder Lehren enthält wie folgende: die des Anaximander: die Erde sei eine in der Mitte des απειρον schwebende Kugel; die des Anaximenes: die Gestirne bewegten sich nicht (wie eine Decke) über der Erde, sondern um die Erde; die des Diogenes von Apollonia: es gebe endlose Welten, von der Luft erzeugt durch Verdichtung und Verdünnung; die des Pythagoras oder seiner Schule spätestens im V. Jahrhundert: die ganze Welt sei ein χοσμος, jeder Fixstern wohl eine Welt für sich. Dann die Entdeckung, welche alles aus den Angeln hebt – groß schon in ihren metaphysischen Konsequenzen, – die »Entdeckung« als solche, die größte, welche das Menschengeschlecht je gemacht und gegen allen Augenschein durchgesetzt hat: daß die Erdkugel nicht die Mitte der Welt einnehme, sondern wie andere Himmelskörper (von welchen sie bei weitem nicht der vornehmste sei) einen Zentralkörper umkreise. Freilich vollendeten die Pythagoreer die Entdeckung noch nicht; in die Mitte setzten sie nicht die Sonne, sondern ein Zentralfeuer, welches die bewohnte Erdhälfte nicht sah, weil eine Drehung der Erde um ihre eigene Axe noch fehlte; aber Sonne und Mond sahen das Zentralfeuer. Spätestens das IV. Jahrhundert (Heraklides Ponticus) holte auch noch diese Drehung nach, und das III. Jahrhundert (Aristarch und Seleukos) setzte bereits ins Zentrum die Sonne.

Hat irgend ein anderes Volk des Altertums diese Erkenntnisse vor den Griechen gehabt? Ja? oder Nein?

Waren nicht vielleicht die wissenden Kasten von Aegypten und Babylonien, die des griechischen Agons entbehrten, im Stillstand gewesen, nachdem sie früher die erstaunlichen Grundlagen gelegt? Hatte das Wissen der Orientalen nicht überhaupt innerliche Grenzen? War ihnen Teilnahme für alles erlaubt? Zogen sie die Konsequenzen? Bedurfte es nicht vielleicht der Griechen, das heißt des freien Geistes, um jene Ahnungen und Entdeckungen ans Licht zu bringen?

Freilich blieben dieselben in der Minorität und konnten wieder verdunkelt werden kraft jenes Umstandes, daß keine außerhalb der Wissenschaft liegende Macht existierte, welche willentlich das einmal errungene Wissen verbreitet hätte. Entscheidend war, daß schon Aristoteles hier zur Reaktion gehörte und ungefähr dasjenige System aufrecht hielt, welches später das ptolemäische hieß: die konzentrischen, sich drehenden Hohlkugeln, auf deren äußerster die Fixsterne befestigt sind, wie die Planeten und die Sonne auf ähnlichen nähern sich bewegen; die Erde steht im Zentrum still; die Reibung beim Drehen der Hohlkugeln verursacht Licht und Wärme etc.

Und nicht bloß das Volk, sondern auch viele Gebildete blieben bis in die späteste antike Zeit beim ungefähren Augenschein und hielten die Erde für eine Scheibe – es war keine »Schande« dies zu glauben –, sogar für eine oblonge Fläche, – obwohl Eratosthenes unter dem dritten Ptolemäer die erste Gradmessung unternommen und danach den Erdumfang leidlich richtig, nur 1/7 zu hoch (Ptolemäus später 1/6 zu niedrig) berechnet hatte.

Dem Copernicus aber genügten dann mitten im Strom der aristotelisch-ptolemäischen Lehren die wenigen, nur als Kuriosität miterwähnten pythagoreischen Ahnungen, um ihm den Mut zu seinem System zu verleihen.

Und nun Aristoteles. Die Klagen über ihn betreffen seinen Hang, ins Breite zu gehen, seine Ungleichheit in der Empirie: bald liebt er die emsigste Einzelforschung und tausendfaches Experiment, bald will er aus bloßen Begriffen das einzelne Wesen der Dinge ermitteln; er jagt Probleme auf und löst sie nicht, wobei aber zu unterscheiden wäre, welche seiner Schriften abgeschlossene Werke, welche bloß nachgeschriebene Hefte und welche bloß Collectaneen sind, wie zum Beispiel die Προβληματα, lauter Beobachtungen aus allen möglichen Gebieten mit über tausend Fragen und offenbar provisorischen Antworten, wie er sie für sich hinschreibt, oft flüchtig und wunderlich, dann aber scharfsinnig und geistvoll. Eine andere Schrift dieser provisorischen Art ist περι φαυπασιαν αχουσματων, später von andern beliebig vermehrt, lauter Naturtatsachen aus der Ferne, wobei es nicht Aristoteles' Schuld war, daß die Erzähler oder deren zehnte und zwanzigste Gewährsmänner Mythisch-Gesinnte oder Lügner waren. Er nahm sich die Sache ad notam, um sie einst zu untersuchen. Es hätte übrigens eine ganze Reihe von Lebensläufen bedurft, um alle Wissenschaft so weit durchzuarbeiten, wie es zum Beispiel ein Teil seiner zoologischen Schriften sind.

Die Größe des Aristoteles aber liegt darin: Er ist der Vater der Logik; durch ihn wurde es möglich, den ganzen Mechanismus des Denkens von dem Gedachten abgelöst anzuschauen. Aristoteles beginnt überall mit der Erforschung von Tatsachen; später folgt dann sein abschließendes Wissen und Denken. Vor Plato hat er voraus die Rhetorik, ferner alles Historische und Philologische. Seine bedeutende Bibliothek ist eine der frühesten. Er kennt und behandelt öfter die Leistungen seiner Vorgänger; seine Poetik zeigt große Kenntnis der Geschichte der Poesie. Er schuf die erste theoretische Betrachtung der Dichtkunst. Seine Rhetorik ist ein Muster wissenschaftlicher Methode; seine Geschichte aller Theorien der Redekunst, συναγωγη τεγνων, ist verloren gegangen. Die Geschichte der ihm vorangegangenen philosophischen Systeme verdankt man vorherrschend ihm und seiner Polemik dagegen. Enorm sind seine politisch-historischen Kenntnisse; verloren sind seine πολιτειαι, aber erhalten ist seine Politik, die frühste vorhandene Staatslehre, (indem er sich nicht begnügte, eine Utopie aufzustellen). Und wenn er im Weltbau die höchsten schon vorhandenen Resultate verkennt und in der Metaphysik Zweifelhaftes leistet, so ist er dafür der Schöpfer der Zoologie, der vergleichenden Anatomie und der wissenschaftlichen Botanik, – il maestro di color che sanno.

Freilich auch gegenüber von seinen Errungenschaften erhebt sich wieder bergeshoch der siegreiche Irrtum; zum Beispiel zur Kaiserzeit kann gegenüber den zoologischen Schriften des Aristoteles ein Buch entstehen wie Aelian περι ζωων, in welchem hie und da die mythische Anschauung, sonst aber überall der dickste Volksaberglaube die stärksten Wellen schlägt. Dazu noch die Dickgläubigkeit des Pausanias – sein vermeintliches Justemilieu. Wir Modernen verwundern uns über die Leichtgläubigkeit der Griechen in allem, was außerhalb des innern Lebens des Menschen und des alltäglichsten Wahrnehmungskreises lag, über die kritiklose Leichtigkeit, womit sie sich in irgend einen von jemandem behaupteten Tatbestand fügten, über ihren mangelhaften Begriff von dem, was im Bereich und Willen der Natur liegen kann. Dies alles aber wäre bei uns trotz allem Bücherdruck annähernd ebenso, wenn nicht der Staat durch seine Schulen jedes Grades ein gesetzliches Maß von Kenntnissen oben hielte, und die größten heutigen Resultate könnten wiederum vereinzelt und vergessen bleiben (wobei dem Wissen doch auch die jetzige Industrie und Technik zu Hilfe kommt). Dabei soll nicht geleugnet werden eine besondere Lust des Griechen am Fabelhaften, für Nähe und Ferne, Altes und Neues, die durch den fortlebenden Mythus immer neu gespeist wurde. Diese Fabelliebe wogt wie ein Meer immer wieder über das Wissen her. Es machte ihnen Vergnügen zu glauben, daß noch Kentauren und bocksfüßige Pane und Tritonen irgendwo angetroffen würden. Sie logen gerne, nahmen einander aber auch die Lügen gutwillig ab ohne aufzubrausen.

Wir übergehen die Medizin und Hippokrates und wenden uns zur Geschichte und Völkerkunde.

Hier ist die Inferiorität des alten Orients mit Händen zu greifen, so dürftig auch unsere Kunde ist.

Die Inder sind überhaupt geschichtslos, und mit Willen, hat doch die ganze äußere Welt Platz in einer einzigen Falte von B(r)ahmas Mantel.

Aegypter und Assyrer haben ihre Regentenchronik und ihre offiziellen Aktenstücke, wobei das eigene Volk wesentlich als Sache oder Werkzeug, das ganze Ausland aber nur als Objekt von Gier und Rache, als Beute figuriert. Ob sie wohl daneben Statistiken ihres eigenen Gebietes hatten? Die sonstige assyrische Literatur ist weit überwiegend grammatisch, betrifft die Deutung von Sprache zu Sprache, mit geringen Resten von historischer, mythologischer, geographischer und statistischer Art – abgesehen von der Astronomie.

Wenn Plato im Timäus die ägyptischen Priester Buch führen läßt über das Treffliche und Große, was bei andern Völkern vorgekommen, so stehen dem entgegen der ägyptische Rassenhaß und Hochmut und die Reinigkeitsgesetze, welche den Aegypter unvermeidlich isolierten und des Verständnisses alles Außerägyptischen unfähig machten.

Die Perser hatten königliche Archive der Achämenidengeschichte, mit welchen es sich wird ebenso verhalten haben wie mit der Regentenchronik von Assur; daneben besaßen sie aber ein typisch verklärtes Bild ihres alten Rajanidischen Hauses im Königsbuch, wo alle Personen und Ereignisse dem Kampf der beiden Weltprinzipien untergeordnet erscheinen.

Die Juden machen es mit ihrer eigentlichen Geschichte so: sie ordnen dieselbe dem großen Gegensatz der Theokratie und ihrer Gegner unter – die Belebung ihrer Geschichte hängt an diesem Punkt –, erzählen jedoch nicht typisch-poetisch, sondern prosaisch: sie wollen das Geschehene melden; ihre Geschichte besteht aus den Akten eines Prozesses. Ueber Aegypten und Assur haben sie höchst wichtige Kunden, aber nur insofern diese ihre Invasoren waren; objektiver Geist über sich und die Fremden fehlt ihnen gänzlich. Bei den Propheten der Juden wird Jehovah auch zum Gott der Heiden, denn die ganze Welt soll ihm zukünftig dienen; aber von einem Verständnis dieser Heiden ist keine Rede.

Ob es bei den Phöniziern und Puniern ein Wissen gab? vielleicht bei erzwungenem Stillschweigen? Ihre Länderkunde mag ein arcanum imperii gewesen sein.

Diesen allen gegenüber haben nur die Griechen objektiven Geist für die ganze Welt. Was Goethe in seinen Maximen und Reflexionen auf sich selbst beziehen kann, gilt ganz besonders von den Griechen: »Panoramic ability schreibt mir ein englischer Kritiker zu, wofür ich allerschönstens zu danken habe.« Solche panoramatische Augen hatten nur die Griechen und durch sie die seitherigen Kulturvölker. Sie sind die ersten, welche etwas sehen und sich dafür interessieren können, ohne es zu besitzen oder zu begehren. Sie führen die Feder für alle andern Völker; sie kennen viel vom Ausland durch ihre Kolonien. Ferner kennen und schildern sie einander unter sich, da sie aus lauter kleinen Staaten und diese wieder aus Parteien bestanden. Ihre Geschichte und Kosmographie entsteht so gesund und natürlich als möglich: Ihre Basis ist die Topographie des einzelnen Ortes oder Gaues und Landes, sind Ortsmythen, lokale Antiquitäten, Erinnerungen aller Art, Verfassungsgeschichte. Von da gehen sie über zur Geographie und Historiographie der Nachbarn, der Griechen überhaupt und fremder Länder und suchen sich einen Begriff von der οιχουμενη zu machen. Die Aegypter hatten Flurpläne und vielleicht Landkarten gehabt, die Griechen entwarfen Weltkarten. Endlich bringen die Perserkriege, in welchen sich die Schicksale so vieler Länder verflechten, die Darstellung dieser Verflechtung hervor: Herodot, und damit ist ein Ziel gewonnen, hinter welchem man nicht mehr zurückbleiben darf.

Auch hier wurden die größten Opfer nicht gescheut: jeder mußte selber reisen, sammeln, seinen Vorrat bilden. Keine Polis stellte einen Historiker an, keine beauftragte oder unterstützte einen Reisenden, und was Müllenhoff bei Pytheas von einer Unterstützung der massaliotischen Kaufmannschaft und selbst des Staates meint, ist nichts als Vermutung und im geraden Gegensatz gegen das einzige Wort der Ueberlieferung bei Strabo: er sei ιδιωτης ανδρωποσ χαι πενης gewesen. – Auch die Periplen sind reine Privatleistungen gewesen.

Die eigentümlichen Schranken und Schwierigkeiten bestehen in Folgendem. Die Historiographie wurde groß in der Darstellung des Zeitgenössischen oder noch nicht lange Vergangenen, wo sie die volle Höhe der pragmatischen Darstellung schon mit Thukydides, sogar schon mit Herodot in der Darstellung des ionischen Aufstandes, erreicht. Man kann hier fragen, ob man es mit einer Wissenschaft und nicht eher mit einem künstlerischen Vermögen zu tun habe. Dagegen ist die Forschung über das Längstvergangene, die historische Kritik im engern Sinne hier immer eine schwache Seite geblieben: die mythischen Zeiten blieben natürlich auch in den Händen des Mythus und die vermeintlich historische Auslegung, wie sie der Euhemerismus betrieb, war lächerlich oberflächlicher Rationalismus. Für die nachmythischen Zeiten aber, von der dorischen Wanderung bis ins VI. Jahrhundert, da wo nach heutigem Maßstab die Kritik hätte ansetzen müssen, war man, abgesehen von vereinzelten urkundlichen Angaben, wesentlich auf mündliche Ueberlieferung angewiesen, wenn man dieselben darzustellen strebte. Die mündliche Ueberlieferung aber bleibt, im Unterschied vom mündlichen Fortleben des Epos, nicht beim buchstäblich Genauen, sondern sie wird eine typische, das heißt sie bleibt nicht bei einer sachlich genauen Begründung des Tatbestandes, sondern sie hebt die innere Bedeutsamkeit des Ereignisses, das Charakteristische, das was einen allgemein menschlichen oder volkstümlichen Gehalt hat, hervor und läßt oft am Ende von einer großen Kette von Persönlichkeiten, Ereignissen und Umständen nichts mehr übrig als eine Anekdote. Inzwischen aber haben außerdem die Erzählenden von Mund zu Mund die Geschichte auch ergänzt, nicht nur aus sonstiger Kunde, sondern aus der allgemeinen Natur des betreffenden Gegenstandes; sie haben ausgemalt und weitergedichtet; sie haben namentlich, was in gewissen Lebensbeziehungen vorkam, auf den berühmtesten Repräsentanten derselben gehäuft. So wimmeln denn namentlich die Lebensumstände der meisten berühmten Griechen von solchen Zügen, die bei ihresgleichen vorgekommen, aber auf sie übertragen sind – on ne prête qu'aux riches –, und die moderne Kritik hat hier oft ziemlich leichtes Spiel, solche Fiktionen aufzudecken, sie zum Beispiel als beliebig ersonnen zu erweisen im Interesse eines oft nur vermeintlichen Synchronismus oder sonst auf falsche Voraussetzungen hin. Im Lebenslauf nicht nur eines Pythagoras, sondern auch eines Euripides und Plato ist fast jeder Punkt der Ueberlieferung streitig. Im Leben des Demosthenes stehen alle äußern Umstände und zwar durch urkundliche Angaben fest, aber die typische Erzählung warf sich dann auf seine rednerische Bildungsgeschichte, und erst Schäfer hat mit kritischer Meisterhand diese Fülle von Zutaten weggeschnitten. Hierher gehört auch die Ausmalung aller Geschichten von Verschwörungen.

Und doch ist auch dies Typische, Anekdotische auf seine Weise Geschichte, nur nicht im Sinne des Einmalgeschehenen, sondern des Irgendwann vorgekommenen, und oft von so sprechender Schönheit, daß wir es nicht entbehren möchten. Was bliebe vom I. Buch des Herodot übrig, welches völlig auf mündlicher Erzählung oft aus zehnter Hand beruhen mag und deshalb auch noch lautet wie ein Epos? Wer aber diese typische Erzählungsweise der Griechen in Beziehung auf ihre Vergangenheit einmal kennt, der verzichtet in der Regel darauf, in griechischen Erzählungen aus der Vergangenheit jemals das wirklich einmal, durch einen bestimmten Menschen Geschehene buchstäblich genau zu erkunden. Der Grieche ist gleichgültig gegen das Exakte, an welchem uns alles gelegen ist.

Außerdem aber ist der alte Grieche ein Fälscher von frühe an. Bei Homer kann noch niemand schreiben; – in der spätern Weiterbildung der Trojasage ist dann gleich der erste Brief, welcher vorkommt, eine Fälschung, welche Odysseus, Diomed und Agamemnon durch einen gefangenen Phryger verüben lassen, als käme der Brief von Priamos an Palamedes, und dieser kommt damit ins Verderben. Da man massenhaft und schon frühe Weissagungen fälschte, da eine ganze heilige Literatur seit dem VI. Jahrhundert im Interesse des sogenannten orphischen Systems von einem Dutzend Autoren ersonnen und durchweg dem alten Orpheus zugeschrieben werden konnte, wie hätte man sich gegenüber der profanen Welt scheuen sollen? Von den erhaltenen griechischen Briefen sind reichlich neun Zehntel fingiert. Gefälschte Urkunden und Geschlechtstafeln, neue Dichtungen mit den Namen der berühmtesten Sänger an der Spitze kamen häufig vor. Fürstliche Sammler wurden später mit einem Falsum über das andere betrogen.

Wer das Wahre suchte wie Thukydides, mußte erstens die Wahrheit von typischer Poesie, zweitens die Wahrheit von Fälschung auf Schritt und Tritt unterscheiden, und endlich: auch Thukydides konnte ein beharrlich eingewurzeltes falsches Faktum wie die Tötung des Hipparch als Stadtregenten, woran sich der sofortige Sturz der Tyrannis geknüpft haben sollte, nicht entwurzeln; er scheiterte gegenüber einer beliebten Stadtsage und mußte sich nachsagen lassen, er habe, weil selber mit den Pisistratiden verwandt, dem Harmodios und Aristogeiton die Ehre nicht gegönnt, die Tyrannis gestürzt zu haben.

In Betreff der Kunde der Ferne haben sich die Griechen auch durch die besten und wahrhaftesten Nachrichten nicht leicht an ihrer alten Fabelwelt irre machen und sich später recht viele neue Lügen gefallen lassen. Als der Pontus längst von griechischen Kolonien wimmelte, als längst ionische Weltkarten existierten – und Hecataei περιοδοσ γης – und Charon von Lampsakos seine äthiopischen, libyschen, persischen Monographien, ja einen Periplus des äußern Oceans verfaßt hatte, ließ Aeschylos im Prometheus die prachtvollste Fabelgeographie erglänzen; die alten Fabelvölker-, länder und -tiere leben beharrlich fort, und Neuere dichten dazu ihre Utopien, wie Plato seine Atlantis. Im Geist der meisten Griechen waren Geschehenes und bloß innerlich Geschautes und Gedachtes nie völlig geschieden. Daher denn auch die Erzählungen derjenigen, welche mit Alexander dem Großen und den Diadochen bis nach Indien gedrungen, mit den enormsten Lügen Erfolg fanden.

Gegenüber von diesen Schwierigkeiten erhellt nun die volle Größe derer, welche der wahren und großen Geschichtschreibung auf alle Zeiten die Bahn gebrochen und Vorbilder aufgestellt haben. Nicht um einer Dynastie, nicht um eines Tempels willen, sondern frei aus innerm Interesse an den Dingen, unter lauter Opfern hatten Geschichte und Geographie hundert Jahre hindurch sich ihr Dasein erkämpft, ohne »Regierungsunterstützung«, ohne Verlegerhonorare; eine bedeutende Reihe von Forschern hatte die schriftlichen und erfragten Kunden von Hellenen und Barbaren gesammelt und nach Ländern und Orten zusammengestellt; es war wesentlich Geschichte in geographischer Anordnung, verbunden mit Naturbeschreibung und Sittenschilderung.

Nun Herodot, von dem sein Landsmann Dionys von Halikarnass mit Stolz sagt: er hob die pragmatische, das heißt auf die ursächlichen Zusammenhänge gehende Darstellung ins Große und Mächtige, indem er nicht bloß einzelner Städte, einzelner Völker Geschichte schrieb, sondern viele Hergänge aus Europa und aus Asien zu einem zusammenhängenden Bilde sammelte – und zwar, wie er selbst sagt: damit nicht große und wunderbare Taten der Hellenen und Barbaren ruhmlos blieben, ein Gedanke, der nie einem Barbaren kam; ihm glaubt man's gern, den ägyptischen Priestern des Plato aber nicht. Ewig bleibt die Frische des weltkundigen Reisenden, der von Autopsie und überwiegend mündlichen Mitteilungen überfließt, an Hellenen und Barbaren Freude hat, sobald er an ihnen das Konstante, das Lebendige erkennt; wo ihm das Verständnis fremder Religionen und vollends die Anschauung eines zeitlichen Entstehens, Wachsens und Aenderns der Religionen aufgeht, ist er für uns der Stifter der vergleichenden Religionsgeschichte und Dogmengeschichte. In solchen Aussagen ist er erhaben.

Und nun Thukydides: Seine Aufgabe war nach Zeit und Räumlichkeit viel enger begrenzt: Es ist der Kampf von Athen und Sparta um die Hegemonie, mit eherner Objektivität geschildert von einem Athener; überall sind Gründe, Hergang und Ergebnisse des Geschehenen in gleichmäßiger Vollständigkeit und vom höchsten Gesichtspunkt aus dargestellt. Außerdem aber sind das erste Buch und seine Einleitung von erster Bedeutung; hier wird zunächst dem Mythus völlig und in tiefstem Ernst der Abschied gegeben und dann bei der Uebersicht der frühern Entwicklung Griechenlands zum ersten Mal eine Subsumtion von Ereignissen und Phänomenen unter allgemeinere Gesamtbeobachtungen, unter Resultate versucht. Thukydides könnte hier in jedem einzelnen Punkte irren und er irrt wirklich hie und da, aber er ist mit dieser Einleitung der Vater des kulturhistorischen Urteils geworden. – Der allgemeine politische Sinn der Athener wendet sich hier mit genialer Divination auf die Machtverhältnisse der Vergangenheit.

Diese beiden Großen hatten Vorbilder aufgestellt, welchen man allermindestens nachstreben mußte. Xenophons Hellenica in ihren zwei ersten Büchern reichen noch nahe an Thukydides; seine Anabasis löst in vollendeter Objektivität die Aufgabe, ein Hellenenheer unter Barbaren als lebendes Gesamtwesen zu schildern, und wenn von den folgenden Geschichtschreibern bis auf Polyb kein einziger in seiner alten Form erhalten ist, so lernt man doch wenigstens aus ihren spätem Umarbeitern wie Diodor von Sizilien, was für herrliche Quellen dieselben vor sich hatten. Sizilien hat seine ganze, schmerzensvolle Geschichte seit dem V. Jahrhundert gerettet. Aus den Literarhistorikern aber sieht man, welchen gewaltigen Umfang die historische und kosmographische Literatur gewonnen hatte.

Wer hieß jene Historiker, ihr Leben an ihre Aufgaben zu setzen? Mit Ausnahme derjenigen, welche später für diadochische Fürstenhäuser schrieben, wird kein anderes Motiv zu nennen sein als der innere Drang, sowohl die Vergangenheit als vorzüglich Zeitgeschichte zu erzählen, und das Bewußtsein des Genius, dies würdig und künstlerisch zu können.

Die ganze griechische Wissenschaft ist längst in die neuere Wissenschaft aufgenommen und übergegangen; ihre Entdeckungen sind berichtigt, vermehrt, überboten worden, und mit Ausnahme der Geschichte braucht man nicht mehr den Stoff des Wissens von den Griechen zu lernen, wie die Renaissance es mußte. Aber die Originalen unter ihnen bleiben nicht bloß eine große Erinnerung in der Geschichte der Entwicklung des Geistes, sondern sie gewähren beim Studium den erfrischenden Duft, welchen nur Blüten der Freiheit hervorbringen; ihre Gedanken, oft gewagt und einseitig, oft von sprechender Wahrheit und ergreifend in der Form, machen in hohem Grade den Eindruck der persönlichen Kraft, des Selbsterworbenhabens, der freien Teilnahme; es lautet nie, als hätte es ihnen ein anderer vorgeschrieben; es ist kein Müssen, sondern lauter Wollen. Hierin sind sie ein ewiges, ermutigendes Vorbild. Möge dasselbe auch für uns, Lehrende und Lernende, nicht verloren sein.


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