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Vorträge

Über die Lage Frankreichs zur Zeit des Armagnakenzuges 1444

Habilitationsvorlesung. 29. März 1844.

Akademische Antrittsrede (Habilitationsvorlesung), gehalten Freitag, den 29. März 1844, im ehemaligen Doktorsaale der Münsterkirche (nicht am 25. März, wie H. Trog im Verzeichnis der Vorträge datiert entgegen dem richtigen Datum in seiner Biographie Burckhardts [S. 44]). Der Schluß des Manuskriptes trägt allerdings das Datum »25. Merz 1884«; es ist zweifellos das Schlußdatum der Niederschrift, aber von einem spätern als Datum der Antrittsvorlesung aufgefaßt und dementsprechend auf dem Titelblatt des Manuskriptes notiert worden. Das richtige Datum gibt die Ankündigung in Nummer 73 (26. März) des Jahrganges 1844 der Basler Zeitung.

Manuskript der Rede, ein Quartheft von 44 S., im Jac. Burckhardt-Archiv, Nr. 136..

Wir nähern uns dem vierhundertjährigen Gedächtnisfeste eines Ereignisses, das eine der größten Tatsachen unserer Schweizergeschichte bildet und, wenn nicht in den Annalen dieser Stadt, so doch in der mündlichen Ueberlieferung ihrer Erinnerungen unbestreitbar die erste Stelle einnimmt. Die Geschichte von der Schlacht bei St. Jakob hat unsere Jugend beherrscht; tausendmal haben wir sie gehört, gelesen; von früher Kindheit an kennen wir das Schlachtfeld, wie Sage und Geschichte es unter sich geteilt haben. Zugleich wissen wir aber auch, daß die Aufnahme Basels in die Eidgenossenschaft mit diesem großen Ereignisse innerlich zusammenhängt, und daß somit die Schicksale unserer Stadt in den letzten viertehalb Jahrhunderten von demselben bedingt sind. Einer so großen, wichtigen Erinnerung haben schweizerische Geschichtsschreiber, Dichter und Künstler sich längst von allen Seiten bemächtigt und der Schlacht in unserer Vorstellung eine dramatische Gestalt gegeben. Aber noch bleibt manches zu erforschen übrig, wenn die historische Anschauung dieser merkwürdigen Tatsache eine vollständige werden soll; noch sind Motive, Verlauf und Folgen nicht von allen Seiten erläutert und konstatiert; möglicherweise sind sogar wichtige, gleichzeitige Quellen vorhanden, die noch niemand hat benützen können, und hier wie in allen geschichtlichen Forschungen kann das Morgen das Heute belehren. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich bei diesem meinem ersten Auftreten vor Ihnen das Bild jener Begebenheit auch nur um wenige wesentliche Züge bereichern könnte; aber die Resultate, die sich mir bei Durchforschung einiger bisher unbenutzten Quellen darboten, sind teilweise ungewiß oder geringfügig und würden, für sich mitgeteilt, sich nicht zu einem Vortrage eignen, während sie zu einer neuen Gesamtdarstellung doch noch nicht hinreichen würden. Gleichwohl konnte ich in diesem Augenblick, der uns die vier hundertjährige Erinnerung doppelt wert und teuer macht, diesem Gegenstande nicht völlig entsagen, schon weil ich hoffen durfte, daß Ihre Teilnahme für die Sache von wohlwollender Nachsicht für den seine Laufbahn beginnenden Darsteller begleitet sein werde.

Erlauben Sie mir demnach, einen Teil des politischen Hintergrundes, auf welchem die Geschichte der Schlacht bei St. Jakob sich bewegt, in Kürze vor Ihren Blicken zu entrollen.

Die größte Erscheinung des Mittelalters ist der Konflikt der beiden Weltmächte, des deutschen Kaisertums und des Papsttums. Als die beiden großen Ideale, auf welche alles Leben der Völker sich zurückbezog, hätten sie sich gegenseitig ergänzen, stützen, steigern müssen, aber nach Art alles Menschlichen gerieten sie in den Zwiespalt, welcher den tiefen Schmerz des spätem Mittelalters bildet. Das Papsttum zersetzte das Kaisertum und spaltete es in zahllose kleine Independenzen. Deutschland, durch Vielherrschaft geschwächt, tritt erst mit der Reformation, und da in anderm Sinne, wieder an die Spitze der Weltgeschichte.

Ganz anders Frankreich, dessen kapetingisches Königtum auf völlig verschiedenen Grundlagen ruhte. Es entrichtet seinen Tribut an die Idee der Kirche in Gestalt der Kreuzzüge und der Scholastik, die wesentlich sein Werk sind. Die Kämpfe aber, an welchen sich in der Folge seine Nationalität entwickelt, sind nicht hervorgerufen durch Ideen, sondern durch einen ganz äußerlichen Zufall, der ebensogut hätte unterbleiben können, obwohl sich natürlich die Prinzipienfragen bald hineinmischen. Die Scheidung der Alienor von Poitou von Ludwig VII. und ihre zweite Ehe mit Heinrich von Anjou ward die Ursache eines dreihundertjährigen Streites mit England, welcher für unsere historische Betrachtung einen vom übrigen Europa oft ganz isoliert scheinenden Staatenkreis schafft. England und Flandern, Schottland und Frankreich verflechten ihr Geschick in einen großen unabsehbaren Kampf, in welchen die Nachbarn – Spanien und Deutschland – und das entlegene Neapel nur selten und dann nicht wesentlich eingreifen. Allerdings ist derselbe in seinem Ursprung und meist auch in seinem Verlauf äußerlicher, zufälliger Natur; es ist nur insofern ein Prinzipienstreit, als es eben ein Völkerstreit ist. Die Kirche zum Beispiel ist dabei nur selten beteiligt; Philipp der Schöne hatte sie zur Dienerin Frankreichs erniedrigt, nachdem sie im Uebermut der Macht und des Sieges von ihrem eigenen Prinzip abgefallen war. Aber unzählige Lebenskeime hat dieser Kampf geweckt; er gab England zuerst europäische Bedeutung; er hat auch Frankreich zur Aufbietung aller Kräfte genötigt und damit die hohe Ausbildung der Administration und des Kriegswesens, wie sie unter Ludwig XIV. sich zeigt, präformiert. Das Wichtigste aber ist, daß er die Nation zum Bewußtsein ihrer selbst brachte und ihr den scharf ausgeprägten Charakter geben half, den sie bis jetzt besitzt. Von dem Frieden mit England an, welcher mit dem Armagnakenzuge zusammenfällt, tritt dann Frankreich mächtiger auf als je zuvor. Der gefährlichste große Vasall wird besiegt, Italien mehrmals mit Heeren überzogen und die lothringischen Bistümer von Deutschland losgerissen; ja Frankreich wird der große, beharrliche Gegner der habsburgisch-spanischen Weltmonarchie, oder, wie seine Geschichtsschreiber sich auszudrücken lieben, der Wächter der Freiheit Europas, bis unter Ludwig XIV. die Welt auf einmal inne wird, daß eine französische Hegemonie einer spanischen an Druck und Schmach nicht viel nachgebe.

Der Wendepunkt der französischen Geschichte liegt also unleugbar in dem Momente, da Frankreich, von den Engländern so viel als völlig befreit, sich auf das Ausland zu werfen anfängt und auf diese Weise seine Heilung erzwingt, das heißt in den letzten Jahren vor der Mitte des XV. Jahrhunderts.

Es war der Augenblick, da Land und Volk eben am tiefsten darniederlagen. Die Tage von Crécy, Maupertuis und Azincourt hatten die Reihen des französischen Adels mächtig gelichtet, während Unruhe und Parteiung ihn, zumal seit den Zeiten der Jacquerie, furchtbar demoralisiert hatten. Das Volk war verarmt und verwildert; es mußte ein neues Frankreich gegründet werden. Vorerst aber machte der Hof des wahnsinnigen Carls VI., wo Mord, Intrigue und Zauberei an der Tagesordnung waren, das Maß des Jammers voll und brachte die Verwickelung auf den höchsten Gipfel. Nicht aus fremden Vasallenhäusern, sondern aus dem eignen Blute der Valois gingen die Häupter der Parteien hervor: zwei Enkel des unglücklichen Königs Johann, der nach der Niederlage von Maupertuis in englischer Gefangenschaft gestorben war. Zuerst fiel der Herzog von Orleans durch die Partei Johanns des Furchtlosen von Burgund, und zwölf Jahre später auch dieser durch die Partei Orleans.

Diese beiden sich bedingenden Mordtaten warfen den burgundischen Erben Philipp entschieden den Engländern in die Arme und mit ihm das alte Königspaar, das in seine Gewalt geraten, den wahnsinnigen Carl VI. und die schuldbeladene Isabel von Baiern. Sie willigten darein, daß Heinrich V. die Krone von Frankreich mit der von England vereinige und daß der Dauphin Carl als vorgeblicher Anstifter der Ermordung Johanns von Burgund von der Erbfolge ausgeschlossen bleibe. Von diesen Feinden mußte nun Carl VII. sein eignes Land nach und nach wieder erobern. Nur ein Wunder konnte Frankreich retten und das erdrückte Volk neu beleben und begeistern. Das Wunder ward zur Wirklichkeit in der Gestalt des Mädchens von Orleans, welche die Engländer von der Loire vertrieb und den König Carl VII. nach Reims zur Krönung führte. Sie selbst hat einmal auf die Frage: was sie zu ihren Taten bewogen? geantwortet: der Jammer Frankreichs, das französische Blut, das sie nicht länger konnte fließen sehen.

Endlich entschied der Bruch zwischen Philipp von Burgund und den Engländern für immer zu Gunsten Frankreichs, worauf Philipp durch den Vertrag von Arras im Jahr 1435 sich feierlich mit Carl VII. versöhnte. Von diesem Augenblick an folgte für die Engländer Schlag auf Schlag, und schon 1436 mußten sie aus der Bastille von Paris abziehen.

Aber in welchem Zustande fanden sich nun Hof, Volk und Land! Alles mußte neu organisiert werden, und doch fehlte es völlig an Mitteln. Von Carl VII. weiß man, daß er bisweilen nicht satt zu essen hatte; mir ist eine Geldanweisung seiner Gemahlin Marie von Anjou in die Hände gefallen, woraus erhellt, daß sie von einem ihrer Valets de chambre eine kleine Summe entlehnte und demselben dafür ihre Bibel zum Pfand lassen mußte. Auch ist es Tatsache, daß die königliche Kasse einmal nur vier Taler enthielt. Mit unsäglicher Mühe eröffnete nun Carls gewandte Administration die alten Hilfsquellen wieder; nur flossen sie am Anfang spärlich genug. Noch lange Zeit blieb der Hof ärmlich und sparsam; auch der Adel hatte viel zugesetzt und sich überdies während des Krieges und der Parteiungen an wilde, rohe Willkür gewöhnt. In diese Jahre fällt die schauerliche Untersuchung gegen Gilles de Retz, einen bretannischen Großen, welcher den Dämonen 140 Kinder geopfert hatte, um von jenen »Gold, Weisheit und Macht« zu erlangen. Denn bodenloser, grausamer Aberglaube ist in jenen Zeiten der notwendige Gefährte kriegerischer Verwilderung, wie es denn auch das Bild des dreißigjährigen Krieges mit verdüstern hilft. Je mehr die Not der Zeit die sittlichen Antriebe abstumpft, um so sicherer wird der versunkene Mensch sich seine neuen Götzen schaffen; denn etwas muß er haben, wovor er knieen kann.

Andere Adliche hatten sich als Räuber konstituiert, und zwar auf ganz andere Weise als die deutschen Raubritter. Ihnen genügte es nicht, hohe Zölle zu erheben und Kaufleute aufzubringen; sie fingen vielmehr in ihrer Gegend selbst die begüterten Einwohner weg und zwangen sie oft durch die greulichsten Martern, sich mit ihrem Vermögen auszulösen. So der berüchtigte Denis de Vauru, von welchem das gleichzeitige Tagebuch von Paris erzählt. Derselbe nahm in Ermangelung reicher Leute auch mit Bauern vorlieb, welche er hordenweise fangen, und wenn sie sich nicht lösen konnten, alle aufhängen ließ an einer großen Ulme in der Nähe von Meaux, welche noch lange nachher der Baum des Vauru hieß. Eine unglückliche, schwangere Frau, die ihm das Lösegeld für ihren Mann brachte, wies er, nachdem er das Geld eingesteckt, mit dem Bescheide ab, ihr Mann sei schon tot. Sie fluchte dem Wüterich; darauf hin ließ er sie an die Ulme binden, an deren Aesten, vom Winde hin und her bewegt, schon zahllose Opfer hingen; und als es Nacht wurde und die Geburtswehen das jammernde Weib faßten, kamen die Wölfe, welche die Leichname unter dem Baum zu verzehren pflegten und zerrissen die noch Lebende. Olivier de la Marche gibt uns im vierten Kapitel eine Uebersicht derjenigen Dynasten, welche damals in der Champagne, an den Grenzen von Burgund und Lothringen hausten, und die Gegend unsicher machten. Von den einen heißt es: sie nahmen, was sie fassen konnten und was sie zu behaupten hoffen durften; von einem andern wird gesagt: er habe Schlösser und Söldner in Menge gehabt und jeden angegriffen, der ihm über den Weg lief; von allen Seiten wurden ihm Gefangene und Beute gebracht und sein Vermögen wuchs wundersam. Kurz, alle Grenzen von Frankreich waren voller Schlösser und Festungen, deren Mannschaft von Raub und Beute lebte. Andere Adliche, erzählt Pierre de Fenin, zwangen Leute aus dem Volk und selbst Geistliche zu ihrem Dienste und ließen ihre Pferde, Hunde und Falken von ihnen besorgen. So war ein großer Teil des Adels beschaffen.

Welcher Druck auf Bürgern und Bauern lastete, läßt sich leicht denken. Die Hauptstadt selbst schmachtete im tiefsten Elend. Nach dem Abzug der Engländer, sagt Michelet in seiner klassischen Darstellung, blickte Carl VII. in den Greuel hinein, den man noch Paris nannte, er schauderte und hob sich wieder von dannen. Das schon erwähnte Tagebuch von Paris gibt die täglichen Ereignisse dieser Zeiten in grauenvoller, unmittelbarer Wahrheit wieder. Hunger, Pest, Gift und Dolch hatten seit achtzig Jahren die Bevölkerung dezimiert und sittlich verhärtet; es gab Jahre, in welchen zum Beispiel die Fastenpredigten nicht stattfanden. Die Engländer erhoben die härtesten Steuern und plagten die Pariser auf alle Weise. Die Entvölkerung der Umgegend trieb die Wölfe in großen Scharen in die Stadt hinein, und zwar oft bis in die Mitte derselben, bis zur Place des Innocents. Bloß im September 1438 sollen sie 14 Personen zwischen dem Montmartre und der Porte S. Antoine zerrissen haben. Eines von diesen Tieren, das man wegen einer Verstümmelung le Courtault nannte, wurde am meisten gefürchtet; als es endlich glücklich erlegt wurde, lief halb Paris herbei, ihn für Geld zu sehen. Es war nichts seltenes in Paris, daß ganze Häuser leer standen, weil die Bewohner alle gestorben waren; Beamte gingen in der Stadt herum und fragten bei den Nachbaren: »Warum sind hier alle Türen geschlossen?« – »Die hier wohnten sind gestorben.« – »Sind keine Erben mehr am Leben?« – Hieß es dann: »Nein« oder: »Sie wohnen anderswo« und dergleichen, so schlug die Verwaltung die Hand über das Haus. Einer der gräßlichsten Momente scheint die Hungersnot des Jahres 1420 gewesen zu sein, während welcher man zufolge des Tagebuches von Paris die Kinder zu dreißigen auf den Misthaufen liegen und sterben sah.

Kaum besser erging es den Provinzialstädten. Die Engländer hatten schon überall genommen, was zu nehmen war und zum Beispiel das Silbergeschirr an vielen Orten ohne alle Vergütung konfisziert, wie Pierre de Fenin erzählt. Bei der allgemeinen Not und Entvölkerung mußte man im Jahr 1432 ausdrücklich verbieten, die leeren Häuser einzureißen und als Brennmaterial zu benützen; und selbst dieses Verbot kam für das offene Land zu spät; denn schon pflegte man zu sagen, daß von der Picardie bis an die deutsche Grenze kein Bauernhaus mehr aufrecht stehe. Das Land lag öde; die Haiden dehnten sich immer weiter aus. Wir wollen eine gleichzeitige Quelle nur darüber hören, wie das Land von den eignen Truppen des Königs behandelt wurde. Eine königliche Ordonnanz des Jahres 1439 gibt den Offizieren und Soldaten unter anderm folgende Vorschriften: »Es soll nicht mehr gestattet sein, zu plündern und zu bestehlen Geistliche, Adliche, Kaufleute, Bauern noch sonst irgend jemanden, weder in ihren Wohnungen noch auf der Landstraße. Auch soll niemand mehr mutwilliger Weise gefangen und zur Auslösung gezwungen werden. Man soll den Bauern ihre Kinder, Pferde und andere Haustiere nicht mehr wegtreiben, Kornfelder und Weinberge nicht mehr verheeren, kein Korn mehr ins Wasser schütten, kein junges Getreide zum Pferdefutter abmähen usw. Auch soll man nicht mehr den Bauern ihre Häuser, Scheunen, Heuschober und Weinkeltern anzünden, noch Hütten niederreißen, um sich an dem Holze zu wärmen.« Man begreift dabei nur nicht, wie sich feindliche Truppen noch schlimmer benehmen konnten, wenn es schon für die Einheimischen solcher Verbote bedurfte. Das Tagebuch von Paris schildert uns das Resultat dieser Greuel, die Stimmung der Bauern: »Als man wegen des Betragens der Truppen, sowohl der englischen als der französischen, das Feld nicht mehr bestellen konnte, beklagte man sich oft bei den Seigneurs; aber diese lachten und spotteten nur, und ihre Leute trieben es ärger als vorher, so daß die meisten Bauern den Ackerbau aufgaben und in Verzweiflung Weib und Kinder verließen. Sie sagten unter sich: »Was sollen wir tun? Wir wollen uns in die Hand des Teufels geben, was dann auch aus uns werden möge; besser wäre es für uns gewesen, den Saracenen als den Christen zu dienen; darum laßt es uns jetzt so arg treiben, als wir können; man kann uns ja doch nichts mehr weiter antun als Tod oder Gefangenschaft!« So wurden die Bauern zu Räubern; die Gesellschaft wankte in ihren Grundfesten. »Das dauert nun«, fährt der Bürger von Paris fort, »so fünfzehn Jahre her; von jenen Seigneurs aber ist schon jetzt der größte Teil umgekommen durch das Schwert oder durch das Gift oder durch Verrat, alle gewaltsam, alle ohne Beichte!«

Unter diesen Truppen des Königs werden als die grausamsten und fluchbeladensten die Armagnac's genannt, deren Geschichte wir in Kürze zu betrachten haben.

Es ist bekannt, daß gerade in dem langen Kampfe zwischen Frankreich und England sich das Söldnerwesen erst recht entwickelte, indem sich hier, bei oft langen und weiten Feldzügen, das alte Lehnsgefolge völlig unzulänglich erwies. Auch die italienischen Republiken und Dynasten bedurften geworbener Scharen, seit der alte persönliche Kriegsmut, der einst bei Legnano gesiegt, verschwunden war. Kühne Condottieri trieben sich jetzt mit ihren Söldnern in Italien und Frankreich herum, Freunden und Feinden zur Qual. Verarmte Ritter führten den Befehl; Gesindel von allen Enden her, auch wohl verdorbene Bürger und Bauern sammelten sich unter den Fahnen und so war die »Compaignie« beisammen. Schon damals benahmen sie sich so, daß in den Kirchen um ihretwillen, als wegen einer Landplage, gebetet wurde; zwei lateinische Hymnen dieses Inhalts sind uns noch erhalten. Im XIV. Jahrhundert machte sich besonders die Gesellschaft des sogenannten Erzpriesters, Arnold von Cervole, furchtbar. Hervorgegangen aus den Trümmern des französischen Heeres nach der Schlacht von Maupertuis hatte sie neun Jahre lang Frankreich in Schrecken gesetzt. König Carl V. ergriff den einzigen Ausweg, der sich ihm darbot; er schickte die Schar, 40,000 Pferde stark, im Jahr 1365 ins Ausland, und zwar nach dem Oberrhein. Der Erzpriester verheerte den Elsaß, zog sich aber bald wieder über die Vogesen zurück. Dies war der erste Ueberfall der Rheinlande durch französische Truppen; man nannte sie die Engländer, weil viele abgedankte englische Söldner zu ihnen gestoßen waren. Um sie ein für allemal los zu werden, gab ihnen Carl V. nach der Ermordung Arnolds den Bertrand du Guesclin zum Anführer und schickte sie über die Pyrenäen, wo Heinrich von Trastamara sich ihrer im Kriege gegen Don Pedro den Grausamen bediente. Daß solche Maßregeln, allem Völkerrechte zum Trotz, die ungeteilte Billigung der Franzosen genossen, versteht sich von selbst; »König Carl«, sagt Christine de Pisan, »war von großem Mitleid bewegt und hatte lange darüber nachgesonnen, wie sein Reich von solcher Rute und Geißel zu befreien wäre ohne Blutvergießen.« Die Nachbarländer mochten dann zusehen, wie sie mit den Banden zurechtkamen. In dem Heere des Enguerrand de Coucy, welches zehn Jahre später Elsaß und die nordwestliche Schweiz brandschatzte, waren noch einzelne Haufen von der Schar des Erzpriesters. Von da an ließen die Franzosen den Oberrhein, wie das Ausland überhaupt, in Ruhe, zum Teil weil im Innern ihres Reiches der Kampf bald darauf wilder als je entbrannte.

Mit dem Bürgerkriege, den die Faktionen Burgund und Orleans am Hofe Carls VI. begannen, trat nämlich auch im Söldnerwesen eine neue Entwickelung ein; die Compaignies wurden teilweise den Hofparteien dienstbar. Als Johann der Furchtlose von Burgund im Jahre 1407 den Herzog von Orleans tückisch hatte ermorden lassen und dann mit heuchlerischer Trauer im Leichenzuge einherging, während das aus dem Sarge träufelnde Blut ihn offenbar anzuklagen schien, da schwuren ihm der Sohn und der Eidam des Ermordeten, Carl von Orleans und Bernhard von Armagnac blutige Rache, und die ganze Partei Orleans trat ihnen bei. Erst gegen 1410 gelang es ihnen, in und um Paris bedeutendere Truppenmassen zu versammeln und mit denselben die meist übermächtige Partei Burgund zu bekämpfen. Dies sind nun die berüchtigten Armagnacs, die mit der Grafschaft Armagnac in der Gascogne nicht viel mehr als den Namen gemein haben. »Um das Jahr 1410«, sagt Pierre de Fenin, »begann man aufmerksam auf sie zu werden, da sie ganz ungewohnter Maßen weiße Schärpen trugen. Und weil Leute des Grafen von Armagnac darunter waren, nannte man seitdem alle Truppen, die gegen Burgund stritten, Armagnacs, obwohl auf orleansscher Seite mehrere Herren standen, die ohne Vergleich mächtiger waren als der Graf von Armagnac. Der Name blieb ihnen, und sie konnten keinen andern bekommen, obgleich sie sehr darüber ergrimmt waren.«

Und was diese wilden Horden in ihrem Grimme zu tun fähig waren, davon geben schon die einheimischen Zeitgenossen grauenvolles Zeugnis. So das Tagebuch von Paris. »Sie trieben's«, heißt es, »schlimmer als die Saracenen; sie nahmen die Dörfer um Paris ein, hingen die Einwohner an den Daumen oder an den Füßen auf, brandschatzten sie, töteten sie, mißhandelten die Weiber und legten Feuer ein selbst in den Kirchen, bis endlich in diesen Dörfern niemand mehr übrig war als sie selbst. Wo nur eine Schandtat geschah, da hieß es gleich: das sind die Armagnaken ohne Zweifel.« Raub, Mord und Brand war ihre tägliche Losung geworden; wer sich nicht auslösen konnte, mußte gewärtig sein, lebendig verbrannt zu werden. Armagnac, obwohl excommuniciert, war und blieb Connétable von Frankreich und beherrschte den Dauphin und, da gerade die burgundische Partei die schwächere war, auch den verrückten König. Erst im Jahre 1418 erhielt ein Teil der Würger den verdienten Lohn; Johann von Burgund rückte gegen Paris; es brach zu seinen Gunsten ein Aufstand los, und Armagnac nebst 3000 seiner Anhänger und Soldaten wurden in einem gräßlichen Blutbade erwürgt. Sein fluchbelasteter Name blieb jedoch den überlebenden Scharen, obwohl sein Sohn, Graf Johann, sie nicht mehr anführte. Nun begann aber in Paris die nicht minder blutige Herrschaft der burgundischen Würger, der Ecorcheurs, Cabochiens und Retondeurs, wie sie Juvénal des Ursins mit so schwarzen Farben schildert. Von den Ecorcheurs haben unsere deutschen Quellen, zum Beispiel die Chroniken des Offenburg und des Erhard von Appenwiler, durch einen sehr erklärlichen Mißverstand einen deutschen Namen für die Armagnaken entlehnt: die Schinder. Jetzt versuchte die orleanssche Partei das Letzte; in Gegenwart und mit Zustimmung des kaum mündigen, übel berichteten Dauphins fiel Johann von Burgund auf der Brücke von Montereau durch Meuchelmord. Sein Sohn Philipp der Gute nahm, wie schon erwähnt, furchtbare Rache durch seinen Bund mit England und ließ den Dauphin zu Gunsten Heinrichs V. von der Erbfolge ausschließen. Aber die Armagnaken waren durch den Pariser Janitscharenmord noch viel mehr erbittert und zeigten sich grausamer als je bisher; war doch der Dauphin jetzt in völlige Komplizität mit ihnen verwickelt! »Jetzt«, sagt das Tagebuch von Paris, »erwiesen sie sich nicht mehr als Menschen, sondern als Teufel.« In diese Zeiten, kurz vor das Auftreten des Mädchens von Orleans, fallen jene Darstellungen des Zustandes der Bauern, von welchen ich oben ein Beispiel mitteilte. Freilich muß der nun folgende letzte große Krieg mit England vielen Armagnaken das Leben gekostet haben; allein noch waren ihrer viele Tausende übrig, als man sich entschloß, sie wiederum nach dem Oberrhein zu schicken.

Mit diesem jammervollen Zustande Frankreichs geht auf ganz eigentümliche Weise parallel die höchste Blüte der burgundischen Monarchie. Denn so können wir wohl dieses merkwürdige Doppelvasallentum nennen, welches von seinen beiden Lehnherrn, dem Kaiser und dem französischen König, völlig unabhängig geworden war und sich schon nach staatsrechtlicher Anerkennung dieser faktischen Souveränität umsah. Wie einst Lothar I., besaß Herzog Philipp der Gute germanische und romanische Lande in reicher, wenn auch mehrfach unterbrochener Reihe, von dem gewerbtätigen, kunstreichen Flandern bis zu dem gesegneten Herzogtum Burgund. Er wußte seine deutschen wie seine französischen Lande vor dem allgemeinen Unheil so ziemlich zu schützen, da schon ihre im ganzen östliche Lage sie zum Schauplatz des Krieges nicht tauglich machte. Und als nach dem Frieden von Arras gleichwohl Scharen von Armagnaken und Ecorcheurs in das Herzogtum Burgund einfielen, ließ er seinen dortigen Gouverneur, den Grafen von Freiburg, wie Olivier de la Marche sich ausdrückt, den Weg Rechtens gegen sie einschlagen, das heißt, es wurden ihrer binnen dreier Jahre so viele gefangen und ersäuft, daß Saône und Doubs oft voller Leichen schwammen und daß die Fischer in ihren Netzen statt eines schwerwiegenden Fanges oft zwei oder drei aneinandergebundene Körper heraufzogen. So verfuhr Herzog Philipp im Interesse seines Volkes gegen diejenigen, welche zum Teil von seinem Vater Johann dem Furchtlosen geworben und benützt worden waren. Ihm gelang alles und so auch dies; wie er denn überhaupt eher der Glückliche als der Gute heißen könnte. Gerade in diesen Jahren waren die letzten großen Abtretungen an ihn erfolgt; 1430 war ihm Brabant, 1433 das Erbe der Jaqueline von Hennegau, 1435 durch den Frieden von Arras die Städte an der Somme, 1441 Luxemburg zugefallen. Er galt als der reichste und lebensgewandteste Fürst seiner Zeit; an seinen Hof hatte sich die aus Frankreich vertriebene Bildung und höfische Ritterlichkeit geflüchtet. Ein echtes Rittertum war es freilich nicht mehr, sondern eher nur ein Uebergang zu dem spätem Cavalierwesen, aber noch voll Pomp und Lebensfreude. Auch Kunst und Literatur des damaligen Burgund zeugen von hoher, meist friedlicher Blüte dieser Lande. Während Frankreich zum Teil eben Herzog Philipps wegen namenlosem Jammer unterliegt und geistig verarmt, wird Flandern die wichtigste Kunstschule des Nordens; während die französische Geschichtsschreibung über all den Greueln vertrocknet und teilweise erstarrt, besitzt der burgundische Historiker Olivier de la Marche den fröhlichen, malerischen Reichtum eines Jehan Froissart in vollem Maße. Sein Buch ist ein langes Drama von Turnieren, Aufzügen und Ceremonien, in welches die Kriege um Luxemburg und Gent nur als Episoden hineinspielen.

Aber unter dieser glänzenden Oberfläche lag eine schwere Existenzfrage verborgen; Deutschland und Frankreich sind von jeher zwei so starke Pole gewesen, daß ein großes Mittelreich zwischen ihnen aus den Nationalitäten beider gemischt nie lange bestehen konnte. So ging das Reich Lothar's I. in germanische und romanische Teile auseinander, ähnlich später dasjenige Carls des Kühnen. Mit den Ueberresten derselben, wenigstens mit Belgien, sollen wir nach französischer Ansicht auch noch nicht an aller Tage Abend angelangt sein. Es war eine Naturnotwendigkeit, daß Frankreich, der Engländer entledigt, sich recht bald auf Burgund warf; und Carl der Kühne hat als französischer Vasall wahrlich Anlaß genug zum Kampfe gegeben.

Schon tritt nun in Frankreich auch derjenige auf, durch dessen List zu fallen ihm bestimmt war. Der Dauphin Ludwig verleugnete von Anfang an den Charakter nicht, der ihm eine so eigentümliche Stelle in der Geschichte zuweist. Hier finden wir ihn nun als siebzehnjährigen Jüngling schon tief in Hofintriguen verwickelt, welche mit dem Bandenwesen offenbar zusammenhängen.

Wir sahen, daß Carl VII. im Jahre 1439 die Banden einschränken, reorganisieren wollte. Ein Teil derselben, 800 Lanzen und 2000 Bogenschützen, zogen es jedoch vor, ins Ausland zu gehen; sie unternahmen unter Anführung des Antoine de Chabannes, Grafen von Dammartin, den kurzen ersten Armagnakenzug nach dem Oberrhein, in der religiös gemeinten Absicht, das Concil von Basel zu sprengen oder wenigstens zu brandschatzen. Das taten sie, wie uns ein Hofbeamter Carls VII., Bouvier, versichert, ohne alle königliche Erlaubnis. Carl VII. neigte zwar seit dem Reichstage von Bourges entschieden auf die Seite der Concilsfeinde; aber er erkannte, wenn nicht Felix V., doch das Concil noch immer an und vergaß nicht, daß er demselben die pragmatische Sanktion verdankte. Die Armagnaken zogen sich wieder zurück und lasteten nach wie vor auf Frankreich. Jetzt wollte Carl VII. um jeden Preis Ordnung schaffen. Mehrere Große aber, welche die Ordnung mehr als alles fürchteten, gewannen den Dauphin gegen seinen Vater und bewogen ihn im Jahre 1440 zu einem Aufstande, der wegen seiner vorgeblichen Aehnlichkeit mit den damaligen Ereignissen in Böhmen die Praguerie genannt wird. Es waren die Herzoge von Bourbon und Alençon, die Grafen von Vendôme, Dunois, Dammartin und andere, meist Führer von Kriegsbanden, welche letztern ihnen jetzt gegen den König dienen sollten. Es schien ihnen ganz unleidlich, sich vor den klugen Parvenüs am Hofe Carls und vor der beabsichtigten strengen Justiz zu beugen, und deshalb sollte nun das Mögliche geschehen zur Aufrechthaltung des bisherigen Unwesens. Allein Carl VII. ließ sich nicht absetzen; durch energische Maßregeln, mit Hilfe der treuen Städte bezwang er in kurzer Frist den Aufstand und gab dann, um einen neuen Bürgerkrieg zu verhüten, allgemeine Amnestie, während die Banden von Neuem gegen die Engländer ins Feld geschickt wurden. Ueberhaupt zeigte sich Carl jetzt immer entschlossener und tüchtiger, und sein Ansehen wuchs von Jahr zu Jahr. Treffliche Räte und Feldherrn, die er zu wählen und mit Vertrauen zu behandeln wußte, unterstützten ihn so eifrig, daß ihm der Name Charles le bien servi geblieben ist. Zudem stand ihm seit 1431 die schöne Agnes Sorel mit klugem Rate bei und ermutigte ihn, wann er zaghaft wurde. Olivier de la Marche, der sonst kein Freund der Franzosen ist, sagt von ihr, sie habe dem Königreich sehr viel genützt.

Während nun ein Vasall nach dem andern gebändigt wurde, während die Engländer trotz Lord Talbot's Tapferkeit von Jahr zu Jahr größere Rückschritte machten und beinahe schon auf die Normandie beschränkt waren, gelangten an Carl VII. im Jahre 1443 zwei verschiedene Hilfsgesuche. Sein Schwager René von Anjou, Titularkönig von Neapel und Herzog von Lothringen, der sogenannte gute König René, Miniaturmaler und Dichter, verlangte Hilfe gegen Metz; Oesterreich bat für den Fall des Bedürfnisses um eine Armagnakenschar gegen die Schweizer. Das lateinische Originalschreiben Herzog Sigismund's vom 21. August 1443 (nicht vom 24., wie Tschudi angibt) befindet sich noch auf der königlichen Bibliothek in Paris. Solch eine Auskunft war es, deren man bedurfte; Grundbedingung des Heiles der Nation war die Entfernung und womöglich die Auflösung der Banden. Zugleich zeigte sich das englische Kabinet zum Frieden geneigt, da gerade der alte Kardinal Winchester über den Herzog von Glocester die Oberhand hatte. Recht eigentlich den hochfliegenden Plänen Glocester's zum Trotz betrieben damals Winchester und Suffolk die Vermählung des ewig unmündigen Heinrichs VI. und schlugen dazu die Tochter des René von Anjou, Marguerite vor, welche als Nichte Carls VII. ein Pfand des Friedens sein sollte. Daß nun der französische Hof so bereitwillig auf diesen Plan einging, hing ohne Zweifel mit der sichern Hoffnung zusammen, die müssigen Banden bald anderwärts beschäftigen zu können. Eine Instruktion Carls VII. sagt zwar: Man habe deshalb mit England Frieden gemacht, um dem Kaiser und dem Herzog Sigismund zu Hilfe eilen zu können; aber die übrigen Quellen lehren uns deutlich genug, welcher Kausalzusammenhang der richtige ist. Endlich, im April 1444 kam zu Tours an der Loire ein Waffenstillstand auf 18 (nach andern auf 22) Monate zu Stande und Heinrich VI. verlobte sich feierlich mit Marguerite von Anjou.

Das Volk aber faßte den Waffenstillstand mit Recht als einen Frieden auf, und Jubel und Freude ging durch ganz Frankreich. Also schreibt ein Zeitgenosse, Amelgard von Lüttich: »Ueberau zogen große Wallfahrten durch das nun sichere Land zu weit entfernten Heiligtümern, um die Gelübde der Notzeit zu erfüllen. Und das waren nicht bloß wehrlose Bürger, sondern auch Soldaten, englische wie französische. Der Friede war etwas ganz ungewohntes; auch die ältesten Leute waren im Krieg aufgewachsen und grau geworden. Man erfreute sich am Anblick der Wälder und Fluren, mochten sie gleich öde und verwüstet liegen; man sah wieder einmal grüne Wiesen und Quellen und Flüsse, was so viele, von Jugend auf in den Städten eingeschlossen, nur vom Hörensagen kannten. Alte Feinde lebten nun plötzlich vergnügt und sicher beisammen; mit unsäglicher Freude vereinte man sich zu Festen, Gelagen und Tänzen.« Matthieu de Coucy gibt noch einige anschauliche Züge mehr: »Rasch belebte sich«, sagt er, »der Handel wieder; die ausgehungerten Engländer kamen aus Rouen und andern Städten der Normandie hervor und kauften auf den französischen Märkten, ebenso die Franzosen auf den normannischen. Freilich gab es an den Straßen Frankreichs und der Normandie viele Räuber, welche verlarvt – mit faulx visages – den Reisenden nachstellten; aber man wurde ihrer allmählich Meister und hing sie an die Bäume längs der Straßen. Die Dörfer bevölkerten sich wieder; der Feldbau lebte von Neuem auf, ja die bessern unter den Soldaten griffen jetzt gerne wieder zur Hacke.«

Die schlimmem aber, und deren war eine große Mehrzahl, wollte man sich jetzt, wenigstens für die Dauer des Waffenstillstandes, vom Halse schaffen und zwar die französischen so gut wie die englischen. Der Gedanke, sie nach dem Oberrhein zu senden, war nicht neu, wie wir sahen. Dort lagen reiche, fruchtbare, unter viele Herrn und Bürgerschaften geteilte Lande, wo die Compaignies sich gütlich tun konnten. Mit einem Kampfe östlich vom Jura, gegen die Waldstätte hin, ist es Carl VII. wohl nie rechter Ernst gewesen; er wollte nur Ruhe in seinem Lande haben. Man führte, sagen die gleichzeitigen Quellen, unter andern die bei Fugger mitgeteilten Briefe, die Banden nach den Deutschländern (aux Allemaignes), um daselbst zu leben, um daselbst Friede zu suchen. Nun soll aber Frankreich alte Ansprüche an den Oberrhein, oder gar, wie Aeneas Sylvius glaubt, an das ganze linke Rheinufer erhoben haben. Letzteres ist kaum denkbar, da außer vielen deutschen Fürsten, die mit Frankreich verbündet waren, noch die ganze burgundische Macht links vom Rheine sich ausbreitete. Allein das ist nicht unwahrscheinlich, daß der Dauphin Vollmacht erhielt, so viele Städte und Lande einzunehmen, als sich mit Erfolg würden behaupten lassen. Wenigstens ist im fünften Artikel des Zofinger Friedens von Schlössern, Städten und andern Orten die Rede, welche der Dauphin diesseits und jenseits des Rheines in Zukunft besitzen werde. Bekanntlich haben wenigstens Mümpelgard und Epinal bei diesem Zuge Carl VII. huldigen müssen.

Ein anderer, zweifelhafter Punkt ist die Einmischung Papst Eugen's IV., der den Dauphin bewogen haben soll, das Baseler Concil zu sprengen. Der älteste Zeitgenosse, der dies behauptet, ist meines Wissens Platina, am Ende seiner Lebensbeschreibung Eugen's IV. Dazu scheint nicht übel zu stimmen die Ernennung Ludwigs zum Gonfaloniere der heiligen Kirche, welche schon Lenfant damit in Verbindung bringt. Aber Ludwig führt diesen Titel in den Urkunden erst zwei Jahre später, als sein durch den Armagnakenzug bedeutend geweiteter politischer Blick ihn ohnedies zu einer Verbindung mit dem Papste bewogen hatte. Auch hat er ja das Concil wirklich nicht auseinander gejagt, sondern sich im Gegenteil dessen Vermittlung gefallen lassen, während Eugen einer Sprengung des Concils in der Tat nicht mehr bedurfte, da der Kaiser, Italien, Frankreich und Burgund sich schon völlig von demselben losgesagt hatten. Ein Gesandter Carls VII. in Rom, dessen Harangue noch vorhanden ist, zählt die Verdienste Frankreichs um Eugen IV. auf, ohne dabei des Armagnakenzuges irgend zu erwähnen. Diese Einmischung Eugen's scheint demnach ein bloßes Gerücht zu sein, das seine Entstehung dem ersten Armagnakenzug des Jahres 1439 verdanken mag. Damals rechtfertigten sich wenigstens die Banden mit dem Interesse der Kirche gegen das Concil.

So setzte sich denn im Sommer 1444 der doppelte Zug, unter dem König gegen Metz und unter dem Dauphin gegen den Oberrhein, in Bewegung. Bei der letztern Abteilung waren die hauptsächlichsten englischen und französischen Bandenführer, die zum Teil schon am ersten Armagnakenzuge und an der Praguerie Teil genommen hatten; so Dammartin und Pierre de Brezé. Ueber den Verlauf des Krieges und der Schlacht bei St. Jakob ließen sich, wie ich oben andeutete, manche sehr wesentliche Controversen erheben, über welche ich hier hinweggehe. Ob das französische Heer 22,000 Mann oder 60,000 betrug, ob es ganz oder nur teilweise an der Schlacht beteiligt war, ob der Dauphin es anführte oder inzwischen in Altkirch saß, ob Hunderte von Schweizern gefangen wurden oder gar keiner? Das alles sind Fragen von nur relativer Wichtigkeit neben dem Zeugnis des Franzosen Matthieu de Coucy. »Alte Kriegsleute«, sagt er, »welche die Kriege gegen England und auswärts mitgemacht, haben mich versichert, daß sie in ihrem Leben noch kein Heer angetroffen, das sich so mächtig verteidigt und dabei das Leben mit so leichtem Uebermut aufs Spiel gesetzt habe als die Schweizer.«

Der Dauphin schloß, allen seinen Verpflichtungen gegen den Kaiser zuwider, seinen Separatfrieden mit den Schweizern, verwüstete dann viele Monate lang den Elsaß und zog sich nach herben Verlusten durch den elsässischen Landsturm über Dijon nach Frankreich zurück. Olivier de la Marche behauptet zwar, die zurückkehrenden Banden hätten das burgundische Gebiet nicht berührt; aber noch existiert der ganze Briefwechsel der burgundischen Beamten über diesen verheerenden Durchzug. Dann folgten endlose Verhandlungen mit den Reichsfürsten und mit dem Kaiser, von welchem Carl VII. noch einen großen Schadenersatz verlangte, da er in der Schlacht gegen die Schweizer gar großen Verlust an Adlichen und Gemeinen erlitten habe.

Inzwischen war Metz gebrandschatzt worden und es fragte sich, was mit dem Rest der Banden zu beginnen sei? Carl schuf sie durch eine bewundernswerte Organisation, deren Darstellung hier zu weit führen würde, zu einer regelmäßigen, disziplinierten Landmiliz um und legte so zur Wohlfahrt seines Reiches einen festen Grund. Durch ein merkwürdiges Geschick geht mit diesen Jahren 1444 und 45 alles Unheil, Bürgerkrieg und materielles Elend, von dem versöhnten Frankreich nach England über. Marguerite von Anjou, welche jetzt mit so vielem Prunk nach London abgeholt wurde, brachte mit sich das düstere, blutige Geschick ihres Hauses und in Kurzem entbrannte der Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose.

Für den Dauphin Ludwig aber scheint sich mit dem Armagnakenzug und den darauf folgenden Unterhandlungen eine neue Welt eröffnet zu haben. Jetzt beginnen seine Intriguen an allen italienischen und deutschen Höfen, seine Korrespondenzen mit allen ausländischen Fürsten, wovon das noch vorhandene Verzeichnis seines Archives in Tours einen so umfassenden Begriff gibt. Jetzt wußte er aber auch, welchen Feind er dem Herzog von Burgund im Rücken erwecken könne, und fortan blieb die Freundschaft mit der Schweiz ein Hauptziel seiner Politik. In einem französischen Bundesvertrage mit Filippo Maria Visconti heißen die Schweizer schon im Jahr 1446 amis und bien veuillans du Roy, deren Hilfe dem Herzog in Aussicht gestellt wird. Im Jahre 1453 wird ein enges Bündnis zwischen Carl VII. und der Schweiz geschlossen und zwölf Jahre später finden wir die ersten Schweizer in französischem Solde.

So erscheint der Armagnakenzug als derjenige Wendepunkt der europäischen Geschichte, in welchem sich die Verpflanzung des Bürgerkrieges aus Frankreich nach England mit den ersten Vorzeichen der Burgunderkriege berührt. Für die Geschichte der Schweiz aber eröffnet er die bei aller Unreinheit der Motive dennoch glorreiche Periode der auswärtigen Soldkriege, durch welche das Schicksal Frankreichs und Italiens in wichtigen Momenten entschieden wird.


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