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Schlußkapitel.

Es war ein Schlachtabend im Unterhause, eine vertagte Debatte, die von George Belvoir eröffnet wurde, der während der letzten beiden Jahre wenn auch sehr langsame Fortschritte in der Gunst oder vielmehr der Nachsicht des Hauses gemacht und Kenelm's Prophezeiung in Betreff seiner Laufbahn mehr als gerechtfertigt hatte. Als Erbe eines edlen Namens und großer Güter, als unverdrossener Arbeiter und sehr wohlunterrichteter Mann konnte er unmöglich anders als Fortschritte machen. An jenem Abend sprach er ganz verständig, unter häufiger Benutzung seiner Notizen, wurde höflich angehört und, als er fertig war, mit einem schwachen »Hört, hört!« der Befreiung begrüßt.

388 Allmälig leerte sich dann das Haus, bis es sich um neun Uhr wieder sehr rasch füllte. Ein Minister hatte sich feierlich erhoben und auf dem Tische vor sich eine gewaltige Reihe von gedruckten Papieren, darunter ein voluminöses Blaubuch ausgebreitet. Die Hand auf das rothe Pult gestützt, begann er mit folgendem ehrfurchtgebietenden Satz:

»Sir! Ich bin der ganz entgegengesetzten Ansicht des sehr ehrenwerthen Herrn mir gegenüber. Er behauptet, es handle sich hier nicht um eine Parteifrage, das leugne ich. Für Ihrer Majestät Regierung handelt es sich um eine Existenzfrage.«

Hier folgten Beifallsrufe, welche die Worte dieses Ministers so laut und in so ungewohnter Weise begrüßten, daß sie ihn aus dem Context brachten und daß er vieler Hm! und Ha! bedurfte, um den Faden seiner Rede wiederzufinden. Dann fuhr er in ununterbrochenem, aber trägem Redefluß fort, las lange Auszüge aus Actenstücken vor, strafte die Versammlung mit einer ganzen Seite aus dem Blaubuch, schloß mit einigen respectabeln Plattheiten, blickte auf die Uhr, sah, daß die Stunde, welche ein Minister, der keinen Anspruch auf glänzende Beredtsamkeit macht, nach der herrschenden Ansicht ausfüllen, aber nicht überschreiten. soll, abgelaufen war, und setzte sich wieder.

389 Sofort erhob sich eine Masse von redegierigen Gesichtern, aus welchen der Sprecher nach einer mit den Einpeitschern vorher getroffenen Verabredung eins auswählte – ein junges, kühnes, intelligentes, leidenschaftsloses Gesicht.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß es das Gesicht Chillingly-Gordon's war.

Seine Stellung an diesem Abend war der Art, daß sie großes Geschick und feinen Takt erforderte. Gewöhnlich unterstützte er die Regierung; bisher hatte er noch immer zu ihren Gunsten gesprochen. Bei dieser Gelegenheit aber war er anderer Ansicht als die Regierung. Diese Verschiedenheit der Ansichten war den Führern der Opposition bekannt und daher hatten die Einpeitscher es so arrangirt, daß er zum ersten Male nach zehn Uhr und zum ersten Mal in Erwiderung auf die Rede eines Ministers sprechen sollte. Das ist eine Stellung, in welcher ein junger Parteimann sich seine Zukunft sichert oder zerstört. Chillingly-Gordon sprach von der dritten Reihe hinter der Regierungsbank aus. Er war von Mivers zu rechter Zeit gewarnt worden, keine selbstbewußte Unabhängigkeit und keine Hinneigung zu der Leidenschaftlichkeit ultraliberaler Ansichten dadurch zur Schau zu tragen, daß er sich unter den Quergang setze. Wenn er so von einem 390 Platz inmitten der geschlossenen Reihe der Anhänger des Ministeriums aus rede, werde jede von den Mundstücken der Ministerbank abweichende Ansicht sicherlich einen größern Eindruck hervorbringen, als wenn sie von den Reihen der durch den Quergang von besser disciplinirten Streitkräften getrennten aufrührerischen Bashi-Bazanks aus gesprochen würde. Seine ersten kurzen Sätze gewannen ihm die gespannteste Aufmerksamkeit des Hauses, stimmten die ministerielle Seite versöhnlich und die oppositionelle erwartungsvoll. Die ganze Rede war in der That äußerst geschickt, besonders darin, daß sie, während sie dem Ministerium in seiner Gesammtheit opponirte, doch den Ansichten einiger bedeutenden Mitglieder des Cabinets Ausdruck gab, welche sich trotz ihrer Minorität als Anhänger einer neuen Idee des Fortschritts der Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach als eine gute Anlage für das Vertrauen erweisen würden, welches der ehrliche Gordon darauf setzte, daß sie ihre Collegen aus dem Felde schlagen würden.

Aber erst als Gordon geschlossen hatte, machten die Beifallsrufe seiner Zuhörer – spontane und herzliche Beifallsrufe, wie es die Beifallsrufe im Parlament sind, wenn der Redner unzweideutige Proben von scharfem Verstande gegeben hat – der Gallerie und den Reportern die ganze Wirkung seiner Rede 391 klar. Der Führer der Opposition flüsterte seinem nächsten Nachbar zu: »Ich wollte, wir könnten den Mann für uns gewinnen!« Der Minister, welchem Gordon geantwortet hatte und bei welchem das Gefallen an einem ihm persönlich gemachten Compliment größer war als das Mißfallen über einen Angriff auf eine Maßregel, welche er nur durch sein Amt gezwungen vertheidigte, flüsterte seinem Chef zu: »Das ist ein Mann, den wir nicht verlieren dürfen.«

Zwei Herren, welche vom Beginn der Debatte an in der Loge des Sprechers gesessen hatten, verließen jetzt ihre Plätze. Als sie in den Vorsaal traten, geriethen sie hier in ein dichtes Gedränge von Parlamentsmitgliedern, welche gleichfalls nach Gordon's Rede ihre Plätze verlassen hatten und jetzt am Buffet bei Apfelsinen und Sodawasser über die Bedeutung dieser Rede discutirten. Unter ihnen befand sich George Belvoir, welcher, als er den jüngern der beiden Herrn aus der Sprecherloge kommen sah, auf ihn zutrat und ihn freundlich begrüßte.

»Sieh da, Chillingly, wie geht es Ihnen? Ich wußte gar nicht, daß Sie in London seien. Sind Sie den ganzen Abend hier gewesen? Nicht wahr, es war eine famose Debatte? Wie hat Ihnen Gordon's Rede gefallen?«

392 »Lange nicht so gut wie die Ihrige.«

»Meine« rief George sehr geschmeichelt und sehr überrascht. »O meine war eine ganz langweilige Geschichte! Eine einfache Darlegung der Gründe meiner bevorstehenden Abstimmung. Gordon's Rede aber war etwas ganz Anderes. Haben Ihnen seine Ansichten nicht gefallen?«

»Ich weiß nicht, was seine Ansichten sind, aber seine Ideen haben mir nicht gefallen.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz. Was für Ideen?«

»Die neuen, durch welche gezeigt wird, mit wie reißender Geschwindigkeit ein großer Staat klein gemacht werden kann.«

In diesem Augenblick wurde Herr Belvoir von einem Collegen beiseite genommen, der ihn über eine wichtige, vor das Haus zu bringende Angelegenheit in Betreff von Lachsfischereien zu sprechen wünschte, und Kenelm ging mit seinem Begleiter, der niemand anders als Sir Peter war, seines Weges weiter durch die dichtgedrängte Vorhalle auf die Straße.

Als sie auf den weiten Platz mit seinem mächtigen Glockenthurm hinaustraten, blieb Sir Peter stehen und sagte, indem er auf die halb im Schatten liegende, halb vom ruhigen Mond beleuchtete Westminster-Abtei hindeutete.

393 »Es spricht sehr zu Gunsten der langen Dauer eines Volkes, wenn es den richtigen Instinkt für das Ringen seiner Männer nach unsterblichem Ruhm hat, wenn ihm ein ehrenvolles Grab als Lohn für die Arbeiten und Gefahren eines edeln Lebens gilt. Wie bedeutsam faßte Nelson den Inhalt der englischen Geschichte in die einfachen Worte zusammen: Sieg oder Westminster-Abtei.«

»Vortrefflich gesprochen, lieber Vater«, sagte Kenelm kurz.

»Ich stimme Deiner vorhin gemachten Bemerkung über Gordon's Rede ganz bei«, nahm Sir Peter wieder auf. »Sie war äußerst geschickt, aber doch würde es mir leid gethan haben, wenn Du sie gehalten hättest. Solche Gesinnungen waren es nicht, welche die Nelsons groß gemacht haben. Wenn solche Gesinnungen je in der Nation allgemein werden sollten, so würde der Ruf nicht mehr lauten: Sieg oder Westminster-Abtei, sondern: Niederlage und die Dreiprozentigen!«

Angenehm angeregt durch seine eigene ungewohnte Lebhaftigkeit und das sympathische Lächeln auf den schweigsamen Lippen seines Sohnes, ging Sir Peter nun sofort unmittelbar zu den Gegenständen über, die ihm am meisten am Herzen lagen. Gordon's Erfolg 394 im Parlament und Gordon's, wie Sir Peter erfahren hatte, von Travers begünstigte, von Cecilia aber bis jetzt noch zurückgewiesene Bewerbung um ihre Hand waren in Sir Peter's Geist und Worten gewissermaßen untrennbar verknüpft, als er es versuchte, den Ehrgeiz seines Sohnes anzufeuern. Er verweilte zunächst bei den Verpflichtungen, welche ein Land seinen Bürgern, namentlich der jungen und kräftigen Generation auferlege, welcher die Geschicke der kommenden Geschlechter anvertraut seien, und mit diesen ernsten Verpflichtungen brachte er alle die heiteren und zärtlichen Vorstellungen in Verbindung, welche ein englischer Staatsmann an eine englische Häuslichkeit knüpft, das Weib, das mit ihrem Lächeln die Sorgen wegscheucht und mit ihrem Geist die Bestrebungen eines Lebens theilt, das in schwerer Arbeit verbracht werden muß, um Ruhm zu erwerben. So verknüpfte er in Allem, was er sagte, als wären es untrennbare Dinge, die Ziele des Ehrgeizes und Cecilia.

Kenelm unterbrach ihn mit keinem Wort, hatte aber, was Sir Peter in seinem Eifer gar nicht bemerkte, diesen von dem graden Wege ab auf die Westminsterbrücke geführt, blieb jetzt hier stehen und blickte über das massive Geländer gelehnt in die Wellen des sternenbeleuchteten Flusses. Zur Rechten dehnte sich 395 seiner ganzen stattlichen Länge nach der erst kürzlich, aber in allen seinen Theilen sorgfältig nach altem Stile erbaute Palast der Gesetzgebung des Volkes bis zu den niedrigen elenden Dächern der Armuth und des Verbrechens hin aus. Wohl mögen diese Wohnungen den Palasthallen der Gesetzgeber eines Volkes so nahe sein – dem Herzen jedes Gesetzgebers muß das gewaltige Problem nahe sein, wie der Glanz und die Tugend eines Volkes zu vermehren und wie seine Armuth und seine Verbrechen zu vermindern seien.

»Wie sonderbar«, sagte Kenelm, noch immer über das Geländer gebeugt, »daß ich mich auf all meinen Streifereien immer zu dem Anblick und dem Klang fließender Gewässer, und wäre es auch nur eines kleinen Bachs, hingezogen gefühlt habe! Von welchen Gedanken, Träumen und Erinnerungen meiner Vergangenheit könnten die Wellen des bescheidensten Baches erzählen, wenn nicht die Wellen selbst so vollendete Philosophen wären, aufgeregt auf der Oberfläche, gereizt über jedes Hemmniß ihres Laufes, aber völlig gleichgültig gegen Alles, was den Sterblichen, welche an ihren Ufern denken, träumen und fühlen, Trübsal oder Tod bringt.«

»Du lieber Himmel«, dachte Sir Peter bei sich, »der Junge ist wieder auf seine alten melancholischen 396 Grillen verfallen. Er hat kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe. Travers hat Recht. Er wird nie in seinem Leben etwas thun. Warum habe ich ihn auf den Namen Kenelm taufen lassen? Er hätte ebenso gut Peter heißen können.« Verstimmt darüber, daß er seine Beredtsamkeit verschwendet hatte und daß der Wunsch seines Herzens unerfüllt bleiben solle, sagte Sir Peter laut: »Du hast nicht auf das gehört, was ich gesagt habe, Kenelm; Du betrübst mich.«

»Dich betrüben, Dich! Sage das nicht, lieber Vater. Ich hätte Dir nicht zugehört? Jedes Wort, was Du gesprochen hast, ist mir in die tiefste Tiefe des Herzens gedrungen. Verzeihe mir mein kurzes zweckloses Selbstgeschwätz; es ist nur so meine Art, meine Art, lieber Vater!«

»Junge, Junge!« rief Sir Peter mit von Thränen erstickter Stimme, »wenn Du nur diese alte Art ablegen könntest, wie dankbar wollte ich sein! Aber wenn Du es nicht kannst, nichts, was Du thust, soll mich betrüben. Nur das laß mich sagen: fließende Wasser haben immer einen großen Reiz für Dich gehabt. Mit dem Gedanken an einen bescheidenen kleinen Bach verbindest Du Gedanken, Erinnerungen, Träume Deiner Vergangenheit. Aber jetzt stehst Du an einem mächtigen Strom – vor Dir der Senat eines Reiches, 397 das größer ist als das Alexander's; hinter Dir die Stätte eines Handels, gegen welchen der von Tyrus ein kümmerlicher Kleinhandel war. Blicke weiter hinunter nach jenen schmuzigen Hütten, wieviel ist da zu befreien oder zu verbessern! Und dort, nicht mehr sichtbar, aber nicht sehr fern, die Walhalla der Nation! Sieg oder Westminster-Abtei! Der bescheidene Bach ist Zeuge Deiner Vergangenheit gewesen. Wird der mächtige Strom keinen Einfluß auf Deine Zukunft haben? Der Bach bewahrt keine Erinnerungen an Deine Vergangenheit; willst Du Deine Zukunft nicht so gestalten, daß der Strom dereinst Erinnerungen an sie bewahrt? O Junge, Junge, ich sehe, Du träumst noch immer – es nützt nichts, mit Dir zu reden. Laß uns nach Hause gehen!«

»Ich habe nicht geträumt, ich habe mir gesagt, daß die Zeit gekommen sei, den alten Kenelm mit den neuen Ideen durch einen neuen Kenelm mit den alten Ideen zu ersetzen. Ach, vielleicht müssen wir, es koste, was es wolle, die Romantik des Lebens durchmachen, um klar zu erkennen, was seine Realität Großes enthält. Ich darf nicht länger klagen, daß ich den Zwecken und Interessen meines Geschlechts fremd gegenüberstehe. Ich habe gelernt, wie viel ich mit ihnen gemeinsam habe; ich habe die Liebe, ich habe den Kummer kennen gelernt.«

398 Kenelm hielt einen kurzen Augenblick inne, dann erhob er sein gesenktes Haupt und richtete sich hoch auf mit einem so veränderten Gesichtsausdruck, daß es seinen Vater betroffen machte. Seine Lippen, seine Augen, seine ganze Erscheinung bekundeten zu ernst, als daß es nur die vorübergehende Wirkung eines Augenblicks hätte sein können, einen begeisterten Entschluß.

»Ja!« rief er, »Sieg oder Westminster-Abtei. Die Welt ist ein Schlachtfeld, auf welchem die schwerst Verwundeten die Deserteure sind, welche auf der Flucht von der feindlichen Kugel getroffen ihr Stöhnen unterdrücken müssen, um ihr unrühmliches Versteck nicht zu verrathen. Der Schmerz der im Kampfgewühl erhaltenen Wunden wird in der Freude, einer ehrenvollen Sache zu dienen, kaum empfunden und durch die Ehrfurcht der Menschen vor rühmlichen Narben reichlich aufgewogen. Meine Wahl ist getroffen. Ich will kein Deserteur, ich will ein Soldat in den Reihen der Kämpfer sein.«

»Es wird nicht lange dauern, bis Du aus den Reihen hervortrittst, mein Junge, wenn Du an der alten Idee, deren Symbol der Ruf: Sieg oder Westminster-Abtei! ist, festhältst.«

Bei diesen Worten ergriff Sir Peter den Arm seines Sohnes und stützte sich stolz darauf. Und so 399 ging der Mann der jungen Generation von der modernen Brücke, welche den legendenreichen Strom überspannt, durch das Gewühl der Straßen hindurch Schicksalen entgegen, welche jenseits des Horizontes liegen, der den sehnsüchtigen Blick der Augen meiner Generation begrenzt.

 

Ende.

 


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