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Neuntes Kapitel.

»Und wie geht's Ihrem guten Manne, Frau Haley?« fragte der Pfarrer, an die alte Frau, welcher Lily's schönes Gesicht noch zugekehrt war, herantretend, während Kenelm ihm langsam folgte.

»Freundlichen Dank, Herr, es geht besser; er liegt nicht mehr zu Bett. Das Fräulein ist so gut gegen ihn gewesen –«

»Still«, unterbrach sie Lily erröthend, »gehen Sie jetzt rasch nach Hause; Sie dürfen ihn nicht auf sein Essen warten lassen.«

Die alte Frau machte wieder einen Knix und ging dann rasch fort.

»Wissen Sie, Herr Chillingly, daß Fräulein Mordannt unser bester Doctor hier ist?« sagte Herr Emlyn. Wenn sie aber fortfährt, so gute Kuren zu 71 machen, wird ihr die Menge ihrer Patienten am Ende doch lästig werden.«

»Sie haben mich erst neulich für die beste Kur, die ich noch gemacht habe, gescholten« sagte Lily.

»Ich? Ah, ich erinnere mich. Sie machten das alberne Kind Madge glauben, daß in dem Arrowroot, das Sie ihr schickten, ein Feenzauber stecke. Bekennen Sie, daß Sie dafür Tadel verdienten?«

»Nein, das bekenne ich nicht. Ich bereite das Arrowroot, und bin ich nicht eine Fee? Ich habe eben ein hübsches Billet von Clemmy bekommen, Herr Emlyn, worin sie mich bittet, heute Abend hinzukommen und ihre neue Zauberlaterne zu sehen. Wollen Sie ihr sagen, ich würde kommen. Aber wenn ich bitten darf, keine Schelte wieder.«

»Und lauter Zauberei?« sagte Herr Emlyn. »Nun meinetwegen.«

Lily und Kenelm hatten bis jetzt kein Wort mit einander gewechselt. Sie hatte seine schweigende Verbeugung mit einem feierlichen Kopfnicken erwidert. Aber jetzt wandte sie sich schüchtern an ihn und sagte: »Sie haben wohl den ganzen Morgen gefischt?«

»Nein, die Fische hier in der Nähe stehen unter dem Schutze einer Fee, deren Mißfallen ich mir nicht zuziehen darf.«

72 Lily's Gesicht verklärte sich und sie reichte ihm die Hände über den Gartenzaun hin. »Adieu! Ich höre die Stimme meiner Tante – die abscheulichen französischen Verbes

Sie verschwand im Gebüsch, aus welchem sie sie noch mit ihrer frischen, jungen Stimme vor sich hinträllern hörten.

»Das Kind hat ein goldenes Herz«, sagte Herr Emlyn zu Kenelm, als sie zusammen weiter gingen. »Ich habe nicht übertrieben, als ich vorhin sagte, sie sei hier unser bester Doctor. Ich glaube, die Armen glauben wirklich, sie sei eine Fee. Natürlich schicken wir vom Pfarrhause aus unsern kranken Gemeindemitgliedern, die dessen bedürfen, Essen und Wein; aber es scheint ihnen nie so gut zu bekommen wie die kleinen Gerichte, die Lily mit ihren kleinen Händen bereitet. Ich weiß nicht, ob Sie den kleinen Korb bemerkt haben, den die alte Frau mitnahm; Fräulein Lily hat allerliebste kleine Körbe nach ihrer Angabe von Will Somers verfertigen lassen und sie thut ihre Gelées oder andere wohlschmeckende Sachen in zierliche kleine Porzellankrüge, die genau in den von ihr mit Band eingefaßten Korb passen. Das hübsche Aussehen der Sachen reizt den Appetit der Patienten, und sicherlich kann man das Kind eine Fee 73 nennen. Aber ich wollte, Frau Cameron nähme es etwas strenger mit ihrer Erziehung. Sie kann doch nicht immer eine Fee bleiben.«

Kenelm seufzte, gab aber keine Antwort. Darauf brachte Herr Emlyn das Gespräch auf gelehrte Gegenstände, bis sie der Stadt ansichtig wurden und der Pfarrer stehen blieb und auf die Kirche hindeutete, deren Thurm sich ein wenig zur Linken erhob und neben welcher der von zwei alten Eibenbäumen halb beschattete Kirchhof lag, während im Hintergrunde das Pfarrhaus durch die davorliegenden Gartengebüsche hindurchschimmerte.

»Sie werden jetzt Ihren Weg finden können«, sagte der Pfarrer, »entschuldigen Sie, wenn ich Sie verlasse; ich habe einige Besuche zu machen, unter anderen bei dem alten Haley, dem Manne der Frau, die Sie vorhin gesehen haben. Ich lese ihm täglich ein Kapitel aus der Bibel vor, aber ich glaube, er glaubt doch an Feenzauber.«

»Besser, zu viel als zu wenig glauben«, sagte Kenelm, und damit ging er seitab ins Dorf, brachte eine halbe Stunde bei Will zu und sah sich die hübschen Körbe an, die Lily ihn machen gelehrt hatte. Als er sich dann langsam nach Hause begab, trat er in den Kirchhof ein.

74 Die im dreizehnten Jahrhundert erbaute Kirche war nicht groß, aber sie mußte wohl für ihre Gemeinde genügen, da keine Spur eines modernen Ausbaues zu erkennen war; sie bedurfte weder einer Restauration noch einer Reparatur. Die Jahrhunderte hatten nur ihren soliden Mauern eine sanftere Färbung gegeben und diese Mauern hatten so wenig durch die riesigen Epheustämme, welche sich mit ihrem Laub bis zu der Spitze des stattlichen Thurmes hinaufgerankt hatten, wie durch die schlanken Rosenbüsche gelitten, welche die Strebepfeiler einige Fuß hoch bedeckten.

Der Kirchhof bot einen ungemein malerischen Anblick dar; im Norden durch eine bewaldete Anhöhe geschützt, senkte er sich nach Süden zu in sanfter Abdachung bis zu dem Pfarrweideland, durch welches der kleine Bach floß, dessen rieselndes Gemurmel man an ruhigen Tagen vernehmen konnte.

Kenelm setzte sich auf einen Grabstein, der offenbar in vergangenen Tagen das Grab einer Person von höherem Rang geziert hatte, an welchem aber die Bildhauerarbeit völlig zerstört war.

Die Ruhe und Einsamkeit des Ortes übten einen eigenen Reiz auf sein beschauliches Gemüth und er blieb lange dort, der Zeit vergessend und kaum auf die Glockenschläge hörend, die ihn an den Verlauf der 75 Stunden erinnerten, bis plötzlich der Schatten einer menschlichen Gestalt auf den Rasen fiel, auf welchem seine Blicke ruhten. Zusammenfahrend blickte er auf und sah Lily stumm und still vor sich stehen. Ihr Bild hatte ihm grade in diesem Augenblicke so lebendig vorgeschwebt, daß ihn ein Gefühl ehrfurchtsvoller Scheu überkam, wie wenn seine Gedanken ihre Erscheinung heraufbeschworen hätten.

Sie ergriff zuerst das Wort.

»Sie auch hier?« sagte sie sehr sanft, fast flüsternd.

»Auch!« wiederholte Kenelm aufstehend. »Auch! Es ist doch nicht zu verwundern, daß ich als Fremder an diesem Ort mich durch sein ehrwürdigstes Gebäude angezogen fühle. Selbst der achtloseste Reisende wendet sich, wenn er bei entfernten Wohnungen der Lebenden Halt macht, zur Seite, um sich die Ruhestätte der Todten anzusehen. Aber ich bin überrascht, daß Sie, Fräulein Mordannt, sich gleichfalls von dieser Stätte angezogen fühlen.«

»Es ist mein Lieblingsplatz«, sagte Lily »und ist es immer gewesen. Ich habe manche Stunde auf jenem Grabstein gesessen. Es ist sonderbar zu denken, daß niemand weiß, wer unter demselben ruht; der Moleswicker Führer gibt zwar die Geschichte der 76 Kirche von der Zeit ihrer Erbauung an, kann aber in Betreff dieses Grabes, des größten und ältesten auf dem Kirchhofe, nur die Vermuthung aussprechen, daß es ein Mitglied einer Familie mit Namen Montfichet beherberge, die einst sehr mächtig in der Grafschaft gewesen, seit der Regierungszeit König Heinrich's VI. aber ausgestorben sei. Aber«, fügte sie hinzu, »von dem Namen Montfichet ist auch kein Buchstabe mehr übrig. Ich habe mehr als alle Andern herausgefunden; ich habe eigens zu dem Zweck gothische Schrift gelernt; sehen Sie her!« Und sie deutete auf eine kleine Stelle, von welcher das Moos entfernt worden war. »Sehen Sie diese Zahl an; ist es nicht XVIII? Und nun sehen Sie wieder in der Zeile, die früher über den Zahlen stand, E. L. E.. Es muß eine Eleanor gewesen sein, die im Alter von achtzehn Jahren starb.«

»Ich halte es für wahrscheinlicher, daß die Zahlen sich auf das Todesjahr beziehen, vielleicht 1318; und soweit ich die gothische Schrift entziffern kann, was mehr in das Fach meines Vaters schlägt als in meines, halte ich es für A. L., nicht E. L., und mir scheint, daß zwischen dem L. und dem zweiten E. noch ein Buchstabe gestanden hat, der jetzt verwischt ist. Das Grab selbst hat schwerlich einer mächtigen, damals 77 hier am Orte ansässigen Familie gehört. Die Grabdenkmäler einer solchen Familie würden dem herrschenden Gebrauche gemäß innerhalb der Kirche, wahrscheinlich in ihrer eigenen Grabkapelle gestanden haben.«

»Versuchen Sie es nicht, mir meine Vorstellung zu zerstören«, sagte Lily kopfschüttelnd; »es wird Ihnen nicht gelingen; ich kenne ihre Geschichte zu gut. Sie war jung und es hatte sie jemand geliebt und ließ ihr das schönste Grab erbauen, das er bestreiten konnte; und sehen Sie, wie lang die Grabschrift gewesen ist! Wie viel muß sie zu ihrem Lobe und von seinem Kummer geredet haben! Und dann ging er von dannen und das Grabmal wurde vernachlässigt und sie vergessen.«

»Mein liebes Fräulein Mordannt, da haben Sie in der That aus einem sehr dünnen Faden eine wunderbar romantische Geschichte herausgesponnen. Aber selbst wenn sie wahr wäre, so ist doch kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß ein Leben vergessen sei, weil ein Grab vernachlässigt ist.«

»Vielleicht nicht«, sagte Lily nachdenklich. »Aber ich glaube, wenn ich einmal todt bin, wird es mir, wenn ich dann hinabblicken kann, angenehm sein, zu sehen, daß mein Grab von denen, die mich geliebt haben, nicht vernachlässigt wird.«

78 Mit diesen Worten ging sie nach einem kleinen, wie es schien, noch nicht lange errichteten Hügel; auf demselben stand ein von einem schmalen Blumenrand umgebenes einfaches Kreuz. Lily kniete bei den Blumen nieder und riß etwas Unkraut aus. Dann erhob sie sich und sagte zu Kenelm, der jetzt neben ihr stand:

»Sie war die kleine Enkelin der armen alten Frau Haley. Ich konnte sie nicht heilen, so viele Mühe ich mir auch gab; sie liebte mich so innig und starb in meinen Armen. Nein, lassen Sie mich nicht sagen starb, es gibt ja in Wahrheit gar kein Sterben, nur Wechsel ist's des Lebens:

Klein wie der Raum, der Well' von Welle trennt,
Die Kluft, die zwischen Leben liegt und Tod.«

»Von wem sind diese Verse?« fragte Kenelm.

»Ich weiß es nicht, ich habe sie von Löwe gelernt. Halten Sie sie nicht für wahr?«

»Ja; aber diese Wahrheit macht den Gedanken, daß wir dieses Leben verlassen müssen, für die meisten von uns nicht angenehmer. Sehen Sie doch, wie sanft und lieblich und freundlich all das Leben athmende Sommerland jenseits dieser Stätte da liegt; lassen Sie uns jenem lebendigen Boden, nicht dem 79 Kirchhof, auf welchem wir stehen, unsern Gesprächsstoff entnehmen.«

»Gibt es aber nicht ein schöneres Sommerland als das, welches wir hier vor uns sehen? Und sehen wir nicht dieses schönere Land wie in einem Traume am besten, wenn wir unser Gespräch an den Kirchhof knüpfen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Lily fort: »Ich habe diese Blumen gepflanzt; Herr Emlyn war darüber böse; er sagte, das sei papistisch. Aber er hat nicht das Herz, sie fortnehmen zu lassen; ich komme oft her, um mir die Blumen anzusehen. Halten Sie das für unrecht? Die arme kleine Nell! Sie hatte die Blumen so gern. Und Eleanor, die in dem großen Grabe liegt, kannte vielleicht auch einen, der sie Nell nannte. Aber auf ihr Grab sind keine Blumen gepflanzt. Die arme Eleanor!«

Sie nahm das Sträußchen, welches, sie vor der Brust trug, und legte es, als sie wieder an dem Grabe vorüberkam, auf den verwitterten Stein. 80


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