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Fünfzehntes Kapitel.

Frau Cameron saß allein in ihrem hübschen Wohnzimmer mit einem offenen Buch, in welchem sie aber nicht las, auf dem Schooße. Sie blickte über die Seiten desselben hinweg anscheinend in den Garten hinaus, in Wahrheit aber in den leeren Raum.

Ein sehr scharfsichtiger und geübter Beobachter würde in ihrem Gesichtsausdruck etwas bemerkt haben, was dem gewöhnlichen Auge entging. Für das gewöhnliche Auge war dieser Ausdruck leer, der Ausdruck einer ruhigen, indolenten Frau, die vielleicht an eine Haushaltungskleinigkeit gedacht, diesen Gedanken zu schwer gefunden hatte und jetzt an gar nichts dachte.

Aber für das Auge eines scharfen Beobachters lagen in diesem Gesicht Spuren einer bewegten 133 Vergangenheit, deren nicht zur Ruhe zu bringende Geister sie noch heimsuchten, und ferner Spuren eines Charakters, mit dem eine gewaltsame Umwandlung vor sich gegangen war. Dieser Charakter war nicht immer der einer ruhigen, indolenten Frau gewesen. Die zarten Umrisse der Lippen zeugten von seiner Empfänglichkeit und in den herabgezogenen Mundwinkeln sprach sich eine permanente Traurigkeit aus. Der sanfte, ins Leere schauende Blick verkündete keinen leeren Geist, vielmehr einen durch das Gewicht eines geheimen Kummers gedrückten und niedergebeugten Geist. Auch lag in ihrem ganzen Wesen, grade in der Ruhe, welche der hervorstechendste Zug ihrer äußern Erscheinung war, etwas, das keinen Zweifel darüber ließ, daß sie in der feinsten Gesellschaft gelebt habe, in der Gesellschaft, in welcher sich zur Ruhe Würde und Grazie gesellen. Die Armen verstanden sich darauf besser als ihre reichen Bekannten in Moleswick, denn sie pflegten zu sagen, an Frau Cameron sei jeder Zoll eine Lady. Nach ihren Zügen zu urtheilen, mußte sie einmal hübsch gewesen sein, keine glänzende Schönheit, aber entschieden hübsch. Jetzt, wo diese Züge zusammengeschrumpft waren, war alle Schönheit in einer kalten grauen Gesichtsfarbe und einer Art gezähmter und schläfriger Schüchternheit des Ausdrucks 134 aufgegangen. Sie war nicht nur nicht demonstrativ, sondern hatte sich die Unterdrückung jeder demonstrativen Regung zur Pflicht gemacht. Wer konnte diese Lippen betrachten und nicht sehen, daß sie ein nervöses, rasch bewegliches Temperament verkündeten? Und doch würde bei abermaliger genauer Beobachtung diese gewaltsame Unterdrückung der angeborenen Tendenz zu rascher Kundgebung jeder Gemüthsbewegung die Neugier und das Interesse nur um so reger gemacht haben, als sie, wenn irgend etwas auf Physiognomik und Phrenologie zu geben war, wenig Charakterstärke besaß. In der für weibliche Nachgiebigkeit charakteristischen kurzen runden Oberlippe, der bittenden Schüchternheit des Blickes, der eleganten, aber unproportionirten Schlankheit des Kopfes zwischen Ohr und Nacken lagen die Zeichen eines Charakters, der dem Willen, vielleicht der Laune eines Andern, an den ihn Liebe oder Vertrauen fesselt, nicht zu widerstehen vermag.

Das auf ihrem Schooße offen daliegende Buch war sehr ernsten Inhaltes; es war das Werk eines populären Geistlichen der sogenannten Law-Church über die Gnade. Sie las selten etwas Anderes als ernste Bücher, außer wenn die Sorge für Lily's Erziehung sie nöthigte, Abrisse der Geschichte und 135 Geographie oder die französischen, in Erziehungsanstalten für junge Damen gebräuchlichen Elementarbücher zu lesen. Und doch würde jeder, der Frau Cameron zu einer vertraulichen Unterhaltung gebracht hätte, gefunden haben, daß sie in früheren Jahren die Erziehung einer jungen Dame von Stande müsse genossen haben. Sie sprach und schrieb französisch und italienisch wie eine Eingeborene. Sie hatte die classischen Autoren beider Sprachen, welche der wohlanständige Geschmack orthodoxer Gouvernanten jungen Zöglingen in die Hand gibt, gelesen und nicht vergessen. Sie wußte etwas von Botanik, wie sie vor zwanzig Jahren gelehrt wurde. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht, wenn man ihr Gedächtniß gehörig gerüttelt hätte, auch noch Proben theologischer und nationalökonomischer Kenntnisse, wie dieselben in den populären Handbüchern von Mrs. Marcet gelehrt werden, abgelegt hätte. Kurz, man würde in ihr eine gründlich gebildete englische Dame, die ihre Erziehung eine Generation früher als Lily erhalten hatte und die in ihrer Bildung dem gewöhnlichen Durchschnitt in unsern Tagen unterrichteter englischer Damen unendlich überlegen war, gefunden haben. So war sie auch in der Uebung der am Ende doch untergeordneten, jetzt freilich sehr überschätzten Fertigkeiten, wie zum Beispiel der Musik, so 136 tüchtig, daß ein Kenner ihrem Klavierspiele sofort angehört haben würde, daß sie ihrer Zeit die besten Lehrer gehabt habe. Sie konnte freilich nur Stücke spielen, die ihrer Zeit angehörten. Seitdem hatte sie nichts mehr gelernt. Kurz, ihre ganze geistige Bildung war schon seit langen Jahren, vielleicht noch ehe Lily geboren war, stehen geblieben.

In diesem Augenblicke wurde, während sie so ins Leere schaute, Frau Braefield gemeldet. Frau Cameron ließ sich dadurch nicht aus ihrer Träumerei aufscheuchen. Sie rückte nicht von der Stelle, machte aber eine matte gelangweilte Bewegung, setzte sich wieder in Positur und legte das ernste Buch auf den Sophatisch. Elsie trat ein, jung, strahlend, nach der neuesten Mode, das heißt so ungraziös, wie eine Dame in den Augen eines Künstlers nur erscheinen kann, gekleidet; aber reiche Kaufleute, welche stolz auf ihre Frauen sind, bestehen darauf, daß sie solche Toiletten machen, und die Frauen sind in dieser Beziehung von dem fügsamsten Gehorsam.

Die Damen wechselten die gewöhnlichen Begrüßungen, begannen ihre Unterhaltung mit den gewohnten Einleitungsphrasen und erst nach einer Pause fragte Elsie dringend:

»Aber soll ich Lily nicht sehen? Wo ist sie?«

137 »Ich fürchte, sie ist in die Stadt gegangen. Einem armen kleinen Jungen, der für uns Wege ging, ist ein Unfall begegnet, er ist von einem Kirschbaum gefallen.«

»Den er plünderte?«

»Wahrscheinlich.«

»Und Lily ist gegangen, ihn zu schelten?«

»Das weiß ich nicht; aber er hat sich sehr verletzt, und Lily ist hingegangen, um zu sehen, wie es mit ihm steht.«

Darauf sagte Frau Braefield in ihrer offenen, rückhaltslosen Weise:

»Ich mache mir im Allgemeinen nichts aus Mädchen in Lily's Alter, obgleich ich Kinder leidenschaftlich liebe. Sie wissen, wie gern ich Lily habe; vielleicht weil sie so sehr wie ein Kind ist. Aber sie muß Ihnen viel Last und Sorge machen.«

Frau Cameron erwiderte in einem nichts weniger als zuversichtlichen Ton: »Nein. Sie ist noch ein Kind und ein sehr gutes Kind, warum sollte ich um sie besorgt sein?«

»Nun«, entgegnete Frau Braefield, ohne sich zu besinnen, »Ihr Kind muß jetzt achtzehn Jahre alt sein.«

»Achtzehn?« wiederholte Frau Cameron. »Ist 138 es möglich! Wie die Zeit fliegt! Freilich in einem so einförmigen Leben wie dem meinigen fliegt die Zeit nicht, sie schleicht dahin wie träge fließendes Wasser. Warten Sie einmal, achtzehn? Nein, sie ist erst siebzehn, vorigen Mai siebzehn geworden.«

»Siebzehn?« fragte Frau Braefield. »Ein sehr ängstliches Alter für ein Mädchen, ein Alter, in welchem die Puppen aufhören und die Liebhaber anfangen.«

Nicht ganz so matt wie bisher, aber immer doch ruhig erwiderte Frau Cameron:

»Lily hat sich nie viel aus Puppen gemacht, hat nie leblose Lieblinge gehabt und an Liebhaber denkt sie auch nicht im Traum.«

»Nach dem sechzehnten Jahr«, entgegnete Frau Braefield lebhaft, »denken Mädchen immer an Liebhaber. Und hier entsteht noch eine andere Frage. Wenn ein so reizendes Mädchen wie Lily an ihrem nächsten Geburtstage achtzehn Jahre alt wird, kann da nicht ein Liebhaber im Traum an sie denken?«

Mit jener eisigen Kälte, die dem Fragesteller zu verstehen gibt, daß man ihm das Recht, eine solche Frage zu thun, nicht zuerkenne, erwiderte Frau Cameron:

»Da sich bis jetzt noch kein Liebhaber 139 eingestellt hat, kann ich mich auch nicht mit seinen Träumen befassen.«

Elsie dachte bei sich: Das ist die dümmste Frau, die mir je vorgekommen ist. Zu Frau Cameron aber sagte sie:

»Finden Sie nicht, daß Ihr Nachbar, Herr Chillingly, ein sehr stattlicher junger Mann ist?«

»Ich kann mir denken, daß das allgemein gefunden wird; er ist sehr groß.«

»Hat er nicht ein schönes Gesicht?«

»Ist es schön? Ich glaube wohl.«

»Was sagt denn Lily?«

»Wovon?«

»Von Herrn Chillingly. Findet sie ihn nicht schön?«

»Danach habe ich sie nie gefragt.«

»Liebe Frau Cameron, wäre das nicht eine charmante Partie für Lily? Ich glaube, die Chillinglys gehören zu den ältesten Familien in Burke's Verzeichniß von Landedelleuten, und sein Vater, Sir Peter, soll ein beträchtliches Vermögen besitzen.«

Zum ersten Mal während dieser ganzen Unterhaltung äußerte sich bei Frau Cameron eine Spur von innerer Bewegung. Eine plötzliche Röthe überflog ihr Gesicht, das aber alsbald nur noch blasser wurde als zuvor. Nach einer Weile hatte sie ihre 140 gewohnte Fassung wiedererlangt und antwortete wenig höflich:

»Kein wahrer Freund könnte Lily solche Ideen in den Kopf setzen, und es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß Herr Chillingly an so etwas denkt.«

»Würde es Ihnen leid thun, wenn es doch der Fall wäre? Sie würden doch Ihre Nichte gewiß gern gut verheirathet sehen, und in Moleswick bietet sich dazu wenig Gelegenheit.«

»Verzeihen Sie, Frau Braefield, aber Lily's Verheirathung ist eine Frage, die ich selbst mit ihrem Vormunde noch nie erörtert habe. Auch kann ich, wenn ich mehr ihre kindischen Neigungen und Gewohnheiten als ihre Jahre in Betracht ziehe, nicht anders als glauben, daß die Zeit für eine solche Erörterung überhaupt noch nicht gekommen ist.«

Als sich Elsie so zurückgewiesen sah, brachte sie das Gespräch auf einen augenblicklich von den Zeitungen verhandelten Gegenstand, der das Publikum lebhaft interessirte, und stand sehr bald auf, um fortzugehen. Frau Cameron hielt die ihr dargereichte Hand Elsie's fest und sagte in einem leisen, etwas verlegenen, aber sehr dringenden Tone: »Liebe Frau Braefield, lassen Sie mich zu Ihrem gesunden Urtheil und der 141 freundlichen Zuneigung, mit welcher Sie meine Nichte beehrt haben, das Vertrauen hegen, daß Sie es nicht darauf ankommen lassen werden, ihr Gemüth durch eine Andeutung der ehrgeizigen Pläne für ihre Zukunft, über welche Sie mit mir gesprochen haben, zu beunruhigen. Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß ein junger Mann von Herrn Chillingly's Aussichten ernsthaft daran denken sollte, sich außerhalb seiner Lebenssphäre zu verheirathen und –«

»Halt, Frau Cameron. Ich muß Sie unterbrechen. Lily's persönliche Reize und ihr anmuthiges Wesen würden jedem noch so hochstehenden Mann zur Zierde gereichen; und habe ich Sie nicht recht dahin verstanden, daß wenn auch ihr Vormund Herr Melville von bescheidener Herkunft ist, Ihre Nichte Fräulein Mordannt, wie Sie selbst, von Adel ist?«

»Ja, allerdings von Adel«, sagte Frau Cameron, indem sie sich mit einer plötzlichen Anwandlung von Stolz aufrichtete. »Aber«, fügte sie in einem ebenso plötzlichen Wechsel mit dem Ausdruck frostiger Demuth hinzu, »was kommt darauf an? Ein Mädchen ohne Vermögen, ohne Verbindungen, das in diesem Landhäuschen aufgewachsen ist, das Mündel eines 142 Künstlers von Profession, der der Sohn eines Schreibers war und dem sie selbst ihre Heimstätte verdankt, gehört nicht derselben Lebenssphäre an wie Herr Chillingly und seine Eltern könnten eine solche Verbindung für ihn nicht billigen. Es würde höchst grausam gegen sie sein, wenn Sie das unschuldige Vergnügen, welches das Mädchen vielleicht an der Unterhaltung eines gescheidten und wohlerzogenen Fremden findet, in das aufgeregte Interesse verwandeln wollten, welches, da Sie mich doch einmal an ihr Alter erinnern, ein so kindisches und schönes Mädchen wie Lily an jemand nehmen möchte, den man ihr als ihren künftigen Ehegatten darstellen würde. Begehen Sie diese Grausamkeit nicht, thun Sie es nicht, ich flehe Sie darum an!«

»Verlassen Sie sich auf mich«, rief die warmherzige Elsie mit Thränen in den Augen. »Was Sie da so verständig und so edel aussprechen, ist mir bis jetzt noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ich weiß wenig von der Welt, wußte gar nichts von ihr, ehe ich mich verheirathete, und in meiner zärtlichen Liebe für Lily und meiner großen Achtung für Herrn Chillingly glaubte ich beiden nicht besser dienen zu können als – als – aber ich sehe jetzt wohl, er ist sehr jung, sehr eigenthümlich, seine Eltern möchten, nicht 143 gegen Lily selbst, aber gegen die Verhältnisse etwas einzuwenden haben. Und Sie würden sie natürlich nicht gern in eine Familie eintreten sehen, in der sie nicht so herzlich willkommen geheißen würde, wie sie es verdient. Es freut mich, daß ich diese Unterhaltung mit Ihnen gehabt habe. Glücklicherweise habe ich bis jetzt noch nichts Schlimmes angestiftet und will es auch ferner nicht thun. Ich war gekommen, Ihnen eine Excursion nach den Ruinen der römischen Villa zu proponiren und Sie und Herrn Chillingly dazu einzuladen. Aber ich will nicht mehr daran denken, ihn und Lily zusammen zu bringen.«

»Ich danke Ihnen. Aber Sie mißverstehen mich noch immer. Ich glaube nicht, daß sich Lily halb so viel aus Herrn Chillingly macht wie aus einem neuen Schmetterling. Bei der Art, wie sie ihn bis jetzt ansieht und wie er, soweit ich es habe beobachten können, sie ansieht, fürchte ich mich durchaus nicht davor, daß sie, wie Sie es nennen, zusammengebracht werden. Meine einzige Besorgniß ist, daß sie durch eine Andeutung veranlaßt werden könnte, ihn anders und in einer Weise, die zu nichts führen könnte, anzusehen.«

144 Elsie ging fort. Die Art, wie Frau Cameron sich über das, was mit zwei jungen Leuten, die man »zusammenbringt«, vorgehen kann, ausgesprochen, hatte sie sehr außer Fassung gebracht und erfüllte sie mit tiefer Verachtung. 145


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