Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Sie verließen den Kirchhof und gingen nach Grasmere. Kenelm ging an Lily's Seite, beide sprachen kein Wort, bis sie das Landhaus zu Gesicht bekamen. Da stand Lily plötzlich still und sagte, indem sie ihm ihr reizendes Gesicht zukehrte:

»Ich sagte Ihnen, ich wolle über das, was Sie mir gestern Abend gesagt haben, nachdenken; ich habe es gethan und fühle jetzt, daß ich Ihnen danken kann. Es war sehr gütig von Ihnen; es war mir bisher nie eingefallen, daß ich launisch sei, das hatte mir nie jemand gesagt. Aber ich sehe jetzt, was Sie meinen; bisweilen bin ich leicht gereizt und zeige es dann. Aber wie habe ich es Ihnen gezeigt, Herr Chillingly?«

»Haben Sie mir nicht den Rücken zugekehrt, als 81 ich mich im Garten bei Frau Braefield zu Ihnen setzte, und mir keine Antwort gegeben, als ich Sie fragte, ob ich Sie beleidigt habe.«

Lily stammelte mit hochgeröthetem Gesicht: »Ich war da nicht beleidigt, nicht launisch verstimmt, es war schlimmer als das.«

»Schlimmer? Was war es dann?«

»Ich fürchte, es war Neid.«

»Neid? Auf was? Auf wen?«

»Ich kann Ihnen das nicht erklären; aber ich fürchte, Tante hat am Ende Recht, wenn sie behauptet, daß einem die Feengeschichten sehr alberne und unartige Gedanken in den Kopf setzen. Als Aschenbrödel's Schwestern auf den Hofball gingen und Aschenbrödel allein zu Hause bleiben mußte, verlangte es sie da nicht auch hinzugehen? War sie nicht neidisch auf ihre Schwestern?«

»O ich verstehe jetzt. Sir Thomas sprach von dem Hofball.«

»Und da haben Sie sich mit schönen Damen unterhalten und ich war närrisch genug, mich darüber zu ärgern.«

»Also Sie, die Sie, als wir uns zuerst sahen, nicht begreifen konnten, wie Leute, die auf dem Lande leben könnten, es vorziehen, in der Stadt zu leben, 82 Sie gerathen bisweilen in Widerspruch mit sich selbst und sehnen sich nach der großen Welt, die jenseits dieses ruhigen Flußufers liegt. Sie sind sich bewußt, jung und schön zu sein, und möchten bewundert werden!«

»Es ist nicht grade das«, sagte Lily mit einem betroffenen Blick ihres feinen Gesichts, »und in meinen besseren Momenten, wenn mein besseres Selbst die Oberhand gewinnt, weiß ich, daß ich für die große Welt, von der Sie reden, nicht gemacht bin. Aber sehen Sie –« Hier hielt sie wieder inne und ließ sich, nachdem sie eben in den Garten getreten waren, ermattet auf eine Bank am Wege nieder. Kenelm setzte sich zu ihr und wartete ruhig ab, ob sie ihren unterbrochenen Satz vollenden werde.

»Sehen Sie«, fuhr sie fort und sah dabei verlegen zu Boden und beschrieb mit ihren feenhaften Füßchen unbestimmte Kreise im Sande. »Zu Hause haben Sie mich, solange ich denken kann, behandelt, als ob, nun, als ob ich – was soll ich sagen? – das Kind einer Ihrer großen Damen wäre. Selbst Löwe, der so nobel und so großherzig ist, schien, als ich noch ein ganz kleines Kind war, zu denken, ich sei eine kleine Königin; als ich einmal die Unwahrheit sagte, schalt er mich nicht, sagte aber mit einem so 83 traurigen und so bösen Gesicht, wie ich es nie wieder an ihm gesehen habe: ›Vergiß nie wieder, daß Du eine Lady bist.‹ Und – aber ich ermüde Sie –«

»Mich ermüden! Das wäre! Fahren Sie fort!«

»Nein, ich habe genug gesagt, um Ihnen zu erklären, warum ich zu Zeiten stolze und eitle Gedanken habe und warum ich zum Beispiel bei mir dachte: ›Vielleicht hätte ich ein Recht auf einen Platz unter jenen vornehmen Damen, welche er –‹ aber es ist jetzt Alles vorüber.«

Mit einem reizenden Lachen stand sie rasch auf und sprang auf Frau Cameron zu, welche mit einem Buch in der Hand langsam auf dem Rasen spazieren ging. 84


 << zurück weiter >>