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Dreizehntes Kapitel.

Während der nächsten Wochen sahen sich Kenelm und Lily nicht so oft, wie der Leser vielleicht vermuthen würde, aber doch recht häufig; mehrere Male bei Frau Braefield, noch einmal im Pfarrhause und zweimal bei Besuchen Kenelm's in Grasmere, und als er bei einem dieser Besuche aufgefordert wurde, zum Thee zu bleiben, blieb er den ganzen Abend. Kenelm wurde, je mehr er dieses außerordentliche Wesen sah, immer mehr von ihm bezaubert. Lily war für ihn nicht nur ein Gedicht, sondern ein räthselhaftes, aller Auslegung spottendes, geheimnißvolle Ausblicke in die Zukunft eröffnendes Gedicht. In Lily fand sich in der That eine bezaubernde, selten harmonische Verschmelzung der größten Gegensätze. Ihre Unwissenheit in vielen Dingen, 106 welche Mädchen, die halb so alt sind wie sie, in der Regel wissen, wurde mehr als aufgewogen durch ihre unschuldige Einfachheit, durch ihre reizenden Einfälle und ihren naiven Glauben und andererseits durch leuchtende Blitze eines Wissens, wie es junge Damen, die wir wohlerzogen nennen, selten besitzen, eines Wissens, das auf rascher Beobachtung der Natur, auf einer feinen Empfänglichkeit für ihre mannichfachen und zarten Schönheiten beruhte. Dieses Wissen hatte sie vielleicht aus einer Poesie, die sie nicht nur auswendig gelernt, sondern als von ihrem Gedankenleben untrennbar in sich aufgenommen hatte, zuerst geschöpft und dann genährt. Nicht aus der Poesie unserer Tage – von der wissen die meisten jungen Damen genug – sondern aus einer Auswahl alter Gedichte von Dichtern, welche die jungen Leute unserer Zeit wenig lesen, von Dichtern, welche Geistern wie Coleridge und Charles Lamb theuer waren. Keins dieser Gedichte aber war ihr so theuer wie die feierlichen Melodien Milton's. Viele dieser Gedichte hatte sie nie in Büchern gelesen, sie hatte sie als Kind von ihrem Vormund, dem Maler, gelernt. Und bei all dieser unvollkommenen, lückenhaften Bildung hatte sie in jedem Blick und jeder Bewegung so eine zierliche Feinheit, eine so tiefe echt weibliche Zärtlichkeit des Herzens!

107 Seit Kenelm ihr Numa Pompilius zum Studium empfohlen, hatte sie sich liebevoll in die Lectüre dieses alten Romans versenkt und liebte es, mit ihm über Egeria wie von einem Wesen zu sprechen, das wirklich gelebt habe.

Aber welchen Eindruck machte er, der erste im Alter zu ihr passende Mann, mit dem sie sich je vertraulich unterhalten hatte, welchen Eindruck machte Kenelm Chillingly auf Lily's Herz und Geist?

Das war die Frage, die ihm nicht ohne Grund am meisten zu schaffen machte. Die ungekünstelte Offenheit, mit welcher sie ihm ihre Neigung zu erkennen gab, war von den gewöhnlichen Aeußerungen der Mädchenliebe ganz verschieden; sie erschien mehr wie die Liebe eines Kindes zu seinem Lieblingsbruder. Und es war diese Ungewißheit, welche Kenelm vor sich selbst rechtfertigte, wenn er zögerte und glaubte, er müsse ihr innerstes Herz erst gewinnen oder wenigstens besser kennen lernen, bevor er es wagen könne, ihr sein eigenes Herz zu öffnen. Er schmeichelte sich nicht mit der angenehmen Besorgniß, daß er vielleicht ihr Glück gefährde; nur sein eigenes Glück war in Gefahr. Bei allen ihren Begegnungen, allen ihren vertraulichen Unterhaltungen war keins jener Worte vorgekommen, mit welchen wir unser Schicksal in die Hände eines 108 Andern legen. Wenn sich der Ausdruck der Liebe in Kenelm's Augen drängen wollte, trieb Lily's unschuldiger, offener Blick diese Liebe erkaltend wieder in sein innerstes Selbst zurück. So freudig sie ihm entgegenzueilen pflegte, so lag doch keine vielsagende Röthe auf ihren Wangen, erklang kein verrätherisches Zittern aus ihrer klaren, lieblichen Stimme. Nein, es hatte bis jetzt noch keinen Moment gegeben, wo er zu sich hätte sagen können: Sie liebt mich. Oft sagte er: Sie weiß noch nicht, was Liebe ist.

In den Stunden, die Kenelm nicht in Lily's Gesellschaft zubrachte, begleitete er Herrn Emlyn auf langen Streifereien oder verplauderte die Zeit bei Frau Braefield in ihrem Salon. Für jenen faßte er eine herzlichere Freundschaft, als er für irgend einen Mann seines Alters hegte, eine Freundschaft, welche die edlen Gefühle der Bewunderung und der Hochachtung nicht ausschloß.

Charles Emlyn war einer jener Charaktere, deren Färbung sehr schwach erscheint, wenn sie nicht sehr hell beleuchtet werden, dann aber scheint jede Tinte sich in eine wärmere und sattere zu verwandeln. Das Wesen, das man anfänglich nur sanft nennen würde, wird dann ein herzliches, Sympathie erweckendes, offen-heiteres; dem Geiste, den man anfänglich träge, wenn 109 auch wohlunterrichtet nennen möchte, muß man dann strenge Schulung und eine Fülle von Kraft zuerkennen. Emlyn hatte indessen auch seine kleinen liebenswürdigen Schwächen und vielleicht waren grade sie es, die ihn liebenswürdig machten. Er hatte einen sehr festen Glauben an die menschliche Güte und ließ sich durch einen »schlauen Appell« an seine wohlbekannte Güte leicht gewinnen. Er war geneigt, die Vortrefflichkeit alles dessen, was er einmal ins Herz geschlossen hatte, zu überschätzen. Er war überzeugt, er habe die beste Frau in der Welt, die besten Kinder, die besten Dienstboten, den besten Bienenkorb, das beste Pony und den besten Haushund. Seine Gemeinde war die tugendhafteste, seine Kirche die malerischste, sein Pfarrhaus das hübscheste in der ganzen Grafschaft, vielleicht im ganzen Königreich. Wahrscheinlich war es diese optimistische Philosophie, welche dazu beitrug, ihn in die heiteren Regionen ästhetischer Lebensfreude zu erheben.

Er hatte seine Antipathien so gut wie seine Sympathien. Obgleich als Geistlicher liberal gesinnt gegen alle protestantischen Dissenters, hegte er doch das odium theologicum gegen alles, was nach Papismus schmeckte. Vielleicht hatte er dazu noch eine andere als rein theologische Veranlassung. Vor langen Jahren war eine jüngere Schwester von ihm, um uns 110 seines Ausdrucks zu bedienen, zum Uebertritt in die katholische Kirche heimlich verlockt worden und war seitdem in ein Kloster gegangen. Sein liebendes Herz ward durch diesen Verlust schwer verwundet.

Herr Emlyn hatte auch seine kleinen Schwächen, mehr der Selbstachtung als der Eitelkeit. Obgleich er außer seinem Kirchspiel wenig von der Welt gesehen hatte, that er sich etwas auf seine Kenntniß der menschlichen Natur im Allgemeinen und des praktischen Lebens insbesondere zu gute. Gewiß gab es niemand, der mehr, namentlich in den Werken der alten Classiker, darüber gelesen hatte als er. Vielleicht kam es daher, daß er so wenig Verständniß für Lily hatte, zu deren Charakter sich in den alten Classikern weder ein Gegenstück noch ein Schlüssel fand, und vielleicht kam es auch daher, daß Lily ihn so »entsetzlich erwachsen« fand. So kam sie trotz seines sanften, gutmüthigen Wesens nicht sehr gut mit ihm aus.

Die Gesellschaft dieses liebenswürdigen Gelehrten gefiel Kenelm um so mehr, je weniger der Gelehrte auch nur die entfernteste Ahnung davon hatte, daß Kenelm's Aufenthalt in Cromwell-Lodge durch die Nähe Grasmere's beeinflußt sei. Herr Emlyn war viel zu sehr von seiner Kenntniß der menschlichen Natur und des praktischen Lebens im Allgemeinen 111 durchdrungen, als daß er es für möglich hätte halten sollen, daß der Erbe eines reichen Baronets auch nur daran denken könne, ein Mädchen ohne Vermögen oder Rang, das verwaiste Mündel eines niedrig geborenen Künstlers, der erst eben anfing sich einen Ruf zu erwerben, zur Frau zu nehmen, oder daß ein Erringer des Cambridgepreises, der sich offenbar viel mit dem Studium ernster und trockener Gegenstände beschäftigt und sich augenscheinlich viel in der feinen Welt bewegt hatte, an einem sehr mangelhaft erzogenen Mädchen, das Schmetterlinge zähmte und so wenig von der fashionablen Welt wußte, einen andern Reiz finden könne, als den Herr Emlyn selbst an der Gegenwart eines hübschen, launenhaften, unschuldigen Kindes, der Genossin und Freundin seiner Clemmy, fand.

Frau Braefield war scharfsichtiger; aber sie war taktvoll und vermied es, Kenelm merken zu lassen, wie scharfsichtig sie sei, und ihn dadurch aus ihrem Hause zu verscheuchen. Sie sprach nicht einmal davon mit ihrem Mann, der an den meisten Vormittagen abwesend und von den Sorgen seines eigen Geschäftes viel zu sehr in Anspruch genommen war, um sich für die Angelegenheiten Anderer sehr zu interessiren. Aber Elsie hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß Lily Mordannt, wenn auch nicht die Märchenprinzessin, deren Rang 112 eine Weile verheimlicht wird, doch eine der hochgeborenen Töchter des alten Geschlechts, dessen Namen sie trug, und daher keine unebenbürtige Partie für Kenelm Chillingly sei. Für diese Ansicht hatte sie keine besseren Anhaltspunkte als die Erscheinung und das feine Wesen der Tante und die auserlesene Delicatesse der Formen und Züge der Nichte mit ihrem unsagbar distinguirten Wesen, das sich selbst in den Momenten, wo sie sich am achtlosesten ihren spaßhaften Einfällen hingab, nie verleugnete. Aber Frau Braefield hatte auch Scharfsinn genug, um zu entdecken, daß unter den kindischen Launen und Manieren dieses fast ganz sich selbst überlassenen Mädchens die bis jetzt noch unentwickelten Elemente einer schönen Weiblichkeit lagen; sodaß Elsie in Betracht alles dessen von dem ersten Tage an, wo sie Kenelm wieder begegnet war, gedacht hatte, Lily würde die rechte Frau für ihn sein. Nachdem sie einmal diese Idee ergriffen hatte, rief ihre natürliche Willenskraft den Entschluß in ihr wach, die Verwirklichung dieser Idee auf jede Weise geräuschlos und ohne Zudringlichkeit zu fördern.

»Es freut mich«, sagte sie eines Tages zu Kenelm, als dieser sich ihr auf einem Spaziergange durch die anmuthigen Gebüschwege ihres Gartens zugesellte, »daß Sie sich so mit Herrn Emlyn befreundet haben. 113 Obgleich alle hier in der Gegend ihn seiner Herzensgüte wegen lieben, gibt es doch nur wenige, welche seine Gelehrsamkeit zu würdigen wissen. Für Sie muß es ebenso überraschend wie angenehm sein, an diesem ruhigen, verschlafenen Orte einen so gescheidten und wohlunterrichteten Gefährten zu finden; das ist eine Entschädigung für Ihre Enttäuschung bei der Entdeckung, daß es mit dem Fischfang in unserm Flüßchen so schlecht bestellt ist.«

»Schelten Sie mir nicht das Flüßchen; es hat die lieblichsten Ufer, an denen es sich mittags so schön unter alten Eichen ausruhen und morgens und abends so angenehm hinschlendern läßt. Wo diese Reize fehlen, könnte einem selbst ein Lachs kein Vergnügen machen. Ja, es ist mir sehr lieb, mich mit Herrn Emlyn befreundet zu haben. Ich habe sehr viel von ihm gelernt und frage mich oft, ob ich jemals das, was ich von ihm gelernt habe, praktisch anwenden und dadurch zum Frieden mit meinem eigenen Herzen gelangen werde.«

»Darf ich fragen, welchem speciellen Zweige des Wissens das, was Sie gelernt haben, angehört?«

»Ich weiß kaum, wie ich es bezeichnen soll. Ich möchte es die Lehre von dem der Mühe Werthen nennen. Unter den neuen Ideen, welche nur als die 114 meine Generation beherrschenden zum Studium empfohlen worden waren, spielt die Idee des nicht der Mühe Werthen eine sehr große Rolle, und da ich von Haus aus ein ruhiges und gleichmüthiges Naturell habe, bildete diese neue Idee die Grundlage meines philosophischen Systems. Aber seitdem ich mit Charles Emlyn vertraut worden bin, glaube ich, daß sich sehr viel zu Gunsten der Lehre von dem der Mühe Werthen, wenn sie auch zu den alten Ideen gehört, sagen läßt. In ihm finde ich einen Mann, der bei sehr wenig ergiebigem Stoff für sein Interesse oder sein Vergnügen nicht müde wird, sich fortwährend zu interessiren und sich des Lebens im Allgemeinen zu freuen; ich frage mich, wie das zu erklären ist, und es scheint mir, daß der Grund in festen Ueberzeugungen zu suchen sei, welche seine Beziehungen zu Gott und Menschen ein für allemal so feststellen, daß er sich durch keine Speculation darin irre machen läßt. Mögen diese Ueberzeugungen von Anderen bestreitbar sein oder nicht, jedenfalls sind sie so beschaffen, daß sie der Gottheit nicht mißfallen und nicht verfehlen können, in ihrer freundlichen Gesinnung den sterblichen Mitmenschen nützlich zu sein. Und diese Ueberzeugungen pflanzt er auf den Boden eines glücklichen und freundlichen Heimwesens, welches dazu dient, ihn 115 in diesen Ueberzeugungen zu befestigen und zu bestärken und sie täglich praktisch zur Anwendung zu bringen. Und wenn er von seinem Hause selbst bis an die äußerste Grenze des dasselbe umgebenden Kreises geht, trägt er den freundlichen Einfluß seines Hauses mit sich. Möglicherweise wird sich meine Lebenslinie in einem weitern Kreise als dem seinigen bewegen; aber nur um so besser für mein Interesse und mein Vergnügen, wenn diese Lebenslinie sich von demselben Centrum, nämlich von festen Ueberzeugungen aus bewegen kann, welche sich in dem Sonnenschein einer sympathischen Häuslichkeit täglich zu einer lebensvollen Thätigkeit erwärmen.«

Frau Braefield hörte diesen Worten mit wohlgefälliger Aufmerksamkeit zu, und als Kenelm geendet hatte, schwebte ihr der Name Lily auf den Lippen; sie errieth, daß er, als er von der Häuslichkeit sprach, an Lily gedacht habe; aber sie drängte den Antrieb zurück und antwortete mit einem Gemeinplatz.

»Es ist gewiß das Wichtigste im Leben, sich eine glückliche und sympathische Häuslichkeit zu gründen. Es muß auch für den Besten schrecklich sein, ohne Liebe zu heirathen.«

»Gewiß schrecklich, wenn die Liebe des einen von dem andern nicht erwidert wird.«

116 »Das könnte Ihnen wohl kaum begegnen, Herr Chillingly, denn ich bin überzeugt, daß Sie nie ohne Liebe heirathen werden. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen schmeichle, wenn ich sage, daß ein viel weniger begabter Mann als Sie ziemlich sicher darauf rechnen kann, von dem Weibe, um das er wirbt und das er gewinnen will, geliebt zu werden.«

Kenelm, der in dieser Beziehung einer der bescheidensten Menschen war, schüttelte zweifelnd mit dem Kopf und war im Begriff, eine dieser Bescheidenheit entsprechende Antwort zu geben, als er aufblickend plötzlich wie festgewurzelt und sprachlos stehen blieb. Sie hatten eben die umgitterte Blumennische betreten, durch deren rankende Rosen hindurch er zuerst des Gesichtes ansichtig geworden war, das ihn seitdem unablässig verfolgte.

»Ach«, sagte er abrupt, »ich darf doch nicht länger hier verweilen und die Werkeltagsstunden in einem Feenkreise verträumen. Ich werde noch heute mit dem nächsten Zuge nach London fahren.«

»Sie kommen aber doch wieder?«

»Natürlich, noch heute Abend. Ich habe in meiner Wohnung in London keine Adresse zurückgelassen. Es muß sich da eine Masse von Briefen angehäuft haben, darunter gewiß einige von meinen Eltern. Ich 117 gehe nur dieser Briefe wegen. Leben Sie wohl! Wie gütig haben Sie mir zugehört!«

»Sollen wir einen Tag der nächsten Woche für die Besichtigung der Ruinen der alten römischen Villa festsetzen? Ich will Frau Cameron und ihre Nichte auffordern, mit von der Partie zu sein.«

»Mir ist jeder Tag, den Sie bestimmen, recht«, sagte Kenelm vergnügt. 118


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