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Siebentes Kapitel.

Wenn ich es nicht wagen durfte, die genauen Worte eines beredten, nach dem erdgeborenen Ruhm Trachtenden aufs Papier zu bringen, so darf ich es noch weniger wagen, alles das, was in dem stummen Herzen eines nach der Liebe, die vom Himmel kommt, Trachtenden vorging, niederzuschreiben.

Von dem Augenblick an, wo Kenelm Chillingly sich von Walter Melville getrennt hatte, bis zum nächsten Vormittage lächelte die Sommerfreude jener äußern Natur, welche dann und wann, wenn auch meistens in trügerischer Weise, an die Seele des Menschen ihre seelenlosen Fragen und Antworten richtet, seine trüben Ahnungen hinweg.

Ohne Zweifel war dieser Walter Melville der geliebte Vormund Lily's; ohne Zweifel war es Lily, die 300 er als ihm vom Schicksal vorbehalten und erzogen, seine Frau zu werden, bezeichnete. Aber in dieser Frage hatte Lily selbst die entscheidende Stimme. Es mußte sich noch herausstellen, ob Kenelm sich in dem Glauben getäuscht hatte, der ihm seit der Stunde ihres letzten Abschieds die Welt so schön hatte erscheinen lassen. Auf alle Fälle war er es ihr, war er es seinem Nebenbuhler schuldig, seinen Anspruch auf ihre Hand geltend zu machen. Und je mehr er sich Alles, was Lily je offen und rückhaltslos über ihren Vormund, über ihre Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit für ihn gesagt hatte, wieder ins Gedächtniß rief, desto überzeugender drängte sein Raisonnement seine Besorgnisse zurück, indem es ihm zuflüsterte: »So könnte ein Kind von seinem Vater reden, nicht so spricht die Jungfrau von dem Manne, den sie liebt und den sie sich kaum zu loben getraut.«

Kurz, nicht in niedergeschlagener Stimmung und nicht mit traurigen Blicken überschritt Kenelm kurz vor Mittag die Brücke und betrat wieder das Zauberland Grasmere. Auf seine Frage antwortete die Magd, die ihm die Thür öffnete, daß weder Herr Melville noch Fräulein Mordannt zu Hause seien; sie seien eben spazieren gegangen. Er wollte wieder umkehren, als Frau Cameron in die Vorhalle trat und ihn mehr durch 301 eine Handbewegung als mit Worten aufforderte, hereinzutreten. Kenelm folgte ihr in das Wohnzimmer und setzte sich neben sie. Er wollte eben reden, als sie ihn in einem Ton unterbrach, der so verschieden von der gewöhnlichen Mattigkeit ihrer Stimme, so scharf und lebhaft war, daß er wie ein Schrei der Verzweiflung klang.

»Ich wollte eben zu Ihnen gehen. Glücklicherweise aber finden Sie mich allein, und was auch zwischen uns vorgehen mag, es wird bald vorüber sein. Aber zuerst sagen Sie mir, Sie haben Ihre Eltern gesehen? Sie haben ihre Erlaubniß erbeten, meine Nichte zu heirathen? Sagen Sie mir, o, sagen Sie mir, daß Ihre Eltern ihre Zustimmung verweigert haben!«

»Im Gegentheil, ich bin mit voller Zustimmung meiner Eltern hier, um die Hand Ihrer Nichte zu bitten.«

Frau Cameron sank in ihren Stuhl zurück und wiegte sich wie Jemand, der von Schmerzen geplagt ist, hin und her.

»Das habe ich gefürchtet. Walter sagte mir, daß er Sie gestern Abend getroffen habe, und daß Sie wie er mit dem Gedanken sich zu verheirathen umgingen. Sie müssen natürlich, sobald sie seinen Namen erfuhren, gewußt haben, an wen er bei seinem Heirathsplan denke. 302 Glücklicherweise konnte er nicht errathen, welche Wahl Ihre jugendliche Phantasie Sie so blindlings hatte treffen lassen.«

»Meine liebe Frau Cameron«, sagte Kenelm sehr mild, aber sehr fest, »Sie kannten den Zweck, um dessentwillen ich Moleswick vor einigen Tagen verließ, und es scheint mir, daß Sie wohl meiner Absicht hätten zuvor kommen können, der Absicht, die mich zu so früher Stunde in Ihr Haus führt. Ich komme, um zu Fräulein Mordannt's Vormund zu sagen: Ich bitte Sie um die Hand Ihres Mündels. Wenn Sie auch um sie werben, so habe ich einen sehr edlen Rivalen, für uns beide kann keine Rücksicht auf unser eigenes Glück gegen die Pflicht, ihr Glück zu Rathe zu ziehen, in Betracht kommen. Lassen wir sie zwischen uns beiden wählen.«

»Unmöglich!«rief Frau Cameron. »Unmöglich! Sie wissen nicht, was Sie sagen, wissen nicht, ahnen nicht, wie geheiligt die Ansprüche Walter Melville's auf Alles sind, was die Waise, die er von ihrer Geburt an beschützt hat, ihm gewähren kann. Sie hat kein Recht, einem Andern den Vorzug zu geben; ihr Herz ist zu dankbar, als daß ein Anderer darin Raum fände. Wenn ihr die Wahl zwischen ihm und Ihnen frei gestellt würde, so würde sie ihn wählen. Das versichere ich Ihnen 303 feierlich. Setzen Sie sie daher nicht der Pein einer solchen Wahl aus. Nehmen Sie an, wenn Sie wollen, Sie hätten einen Eindruck auf sie gemacht, und Sie erklärten ihr Ihre Liebe und bewürben sich um ihre Hand, so würde sie, müßte sie doch nichtsdestoweniger Ihre Hand zurückweisen, aber Sie könnten ihr Glück bei der Annahme der Hand Melville's trüben. Seien Sie großmüthig! Bezwingen Sie Ihre Neigung; sie kann nur vorübergehender Natur sein. Reden Sie weder mit ihr noch mit Herrn Melville von einem Wunsche, der nie erfüllt werden kann. Gehen Sie schweigend und sofort von hier.«

Die Worte und die Haltung der blassen, flehenden Frau erfüllten das Herz Kenelm's mit einem unbestimmten Gefühl ehrfurchtsvoller Scheu. Aber er antwortete darum nicht weniger entschlossen: »Ich kann Ihnen nicht gehorchen. Es scheint mir, daß meine Ehre mir gebietet, Ihrer Nichte zu beweisen, daß, wenn ich mich in der Auffassung ihrer Gefühle für mich getäuscht habe, ich sie doch weder durch Wort noch Blick zu dem Glauben verleitet habe, daß meine Gefühle für sie weniger ernster Natur seien, als sie es in der That sind; und es scheint mir kaum weniger eine Ehrenpflicht gegen meinen würdigen Nebenbuhler, ihm die Gefährdung seines künftigen Glückes zu ersparen, die eintreten würde, wenn er später entdecken sollte, daß seine Frau mit einem 304 Andern glücklicher gewesen sein würde als mit ihm. Warum hegen Sie so geheimnißvolle Besorgnisse? Wenn, wie Sie es anscheinend so fest überzeugt aussprechen, Ihre Nichte wirklich einem Andern den Vorzug gibt, so reise ich auf ein Wort aus ihrem Munde ab und Sie sehen mich nie wieder. Aber dieses Wort muß sie selbst aussprechen, und wenn Sie mir nicht erlauben, mir dasselbe in Ihrem Hause zu erbitten, so will ich versuchen, sie jetzt auf ihrem Spaziergange mit Herrn Melville zu treffen, und sollte er mir das Recht verweigern, mit ihr allein zu reden, so kann ich das, was ich zu sagen habe, auch in seiner Gegenwart sagen. O, gnädige Frau, haben Sie kein Erbarmen mit dem Herzen, das Sie so unnütz martern? Wenn ich das Schlimmste tragen muß, lassen Sie mich es gleich erfahren.«

»Erfahren Sie es denn aus meinem Munde«, sagte Frau Cameron mit unheimlicher Ruhe und während ihr Gesicht einen starren, strengen Ausdruck annahm. »Und ich stelle das Geheimniß, das Sie mir abringen, unter den Schutz der Ehre, welche Sie so ruhmredig als Ihre Entschuldigung dafür anführen, daß Sie den Frieden des Hauses gefährden, welches zu betreten ich Ihnen nie hätte gestatten sollen. Ein rechtschaffenes Ehepaar von geringem Stande und beschränkten Mitteln hatte einen einzigen Sohn, der in früher Jugend so 305 bemerkenswerthe Talente zeigte, daß sie die Aufmerksamkeit des Brodherrn des Vaters, eines reichen, sehr wohlwollenden und gebildeten Mannes, auf sich zogen. Er schickte den Knaben auf seine Kosten in eine vorzügliche Handelsschule, in der Absicht, ihn später in seinem Geschäfte zu verwenden. Der reiche Mann war der Theilhaber eines bedeutenden Bankhauses; aber seine sehr schwache Gesundheit und seine dem Geschäft sehr fern liegenden Liebhabereien hatten ihn veranlaßt, sich von jeder thätigen Theilnahme am Geschäft zurückzuziehen und die Leitung desselben einem Sohn zu überlassen, den er vergötterte. Aber die Talente seines Schützlings, den er in die Schule geschickt hatte, nahmen hier eine so entschieden künstlerische und dem Geschäft fernliegende Richtung und seine Zeichnungen wurden von Kennern für so vielversprechend erklärt, daß der Protector seine Intentionen änderte, ihn in das Atelier eines ausgezeichneten französischen Malers gab und ihn später anwies, seinen Geschmack durch das Studium italienischer und niederländischer Meisterwerke zu vervollkommnen.

Er war noch auf Reisen, als –« bei diesen Worten hielt Frau Cameron, sichtlich mit sich kämpfend, inne, unterdrückte ein Schluchzen und fuhr durch die zusammengepreßten Zähne flüsternd fort: »als ein furchtbarer 306 Schlag das Haus des Patrons traf, der sein Vermögen zertrümmerte und seinen Namen beschimpfte. Der Sohn hatte sich ohne Wissen seines Vaters zu Speculationen verleiten lassen, welche sich als unglücklich erwiesen; der Verlust hätte sich im ersten Augenblick leicht wieder einholen lassen, aber unglücklicherweise ergriff er das falsche Mittel, ihn wieder einzuholen, und ließ sich in neue gewagte Speculationen ein. Ich will mich kurz fassen. Eines Tages wurde die Welt durch die Nachricht erschreckt, daß eine wegen ihres vermeintlichen Reichthums und ihrer Solidität berühmte Firma bankrott sei. Unredlichkeit wurde behauptet, wurde bewiesen – nicht gegen den Vater. Dieser wurde nicht wegen Betrugs verurtheilt, sondern mit einem Tadel für seine Nachlässigkeit frei gesprochen, war aber blutarm. Aber der Sohn, der vergötterte Sohn wurde überführt, zum Zuchthaus verurtheilt und entging dieser Strafe durch – durch – Sie errathen – Sie errathen. Wie anders konnte er dieser Strafe entgehen als durch den Tod? Durch den Tod von eigener, schuldiger Hand.«

Fast ebenso sehr von Aufregung überwältigt wie sie selbst, bedeckte Kenelm sein gesenktes Antlitz mit der einen Hand und streckte die andere, ohne hinzusehen, aus, um die ihrige damit zu ergreifen, aber sie nahm sie nicht. Ein trauriges Vorzeichen. Wieder stieg vor 307 seinen Blicken der alte graue Thurm auf, wieder klang ihm die tragische Erzählung von den Fletwodes in den Ohren. Sprachlos, wie von einem Zauber gebannt, harrte Kenelm dessen, was noch zu sagen übrig blieb. Frau Cameron nahm wieder auf:

»Ich sagte schon, der Vater sei blutarm geworden; er starb, nachdem er lange ans Bett gefesselt gewesen war. Aber ein treuer Freund war nicht von diesem Bett gewichen, der Jüngling, dessen Genius sein Reichthum die Mittel zu seiner Ausbildung geboten hatte. Er war aus dem Auslande mit einigen bescheidenen Ersparnissen von dem Erlös in Florenz verkaufter Copien oder Skizzen zurückgekehrt. Mit diesen Ersparnissen gewährte er dem alten Mann und den beiden hülflosen, unglücklichen, gleich ihm blutarmen Frauen, seiner Tochter und der Wittwe seines Sohnes, ein schützendes Obdach. Als diese Ersparnisse erschöpft waren, entsagte der junge Mann seinem eigentlichen Beruf, ergriff jede Gelegenheit zu einträglicher Beschäftigung, wenn dieselbe seinem Geschmack auch noch so wenig entsprach, und ließ es den dreien, welche er mit seiner Arbeit unterstützte, nie an Obdach und Nahrung fehlen. Nur wenige Wochen nach dem schrecklichen Tode ihres Gatten – sie waren noch kein Jahr verheirathet gewesen – gebar die junge Wittwe ein Kind, eine Tochter. Sie 308 überlebte ihr Wochenbett nicht lange. Die Erschütterung über ihren Tod zerschnitt den schwachen Lebensfaden des armen Vaters. Beide wurden an demselben Tage zu Grabe getragen. Vor ihrem Tode richteten beide dieselbe Bitte an die beiden einzigen Menschen, welche um sie trauerten, die Schwester des Verbrechers und den jungen Wohlthäter des alten Mannes. Die Bitte war, daß das neugeborne Kind, gleichviel wie bescheiden, in Unwissenheit über die Schuld und Schande ihres Vaters auferzogen werden möge. Sie sollte nicht zu einer Bittstellerin bei reichen und vornehmen Verwandten werden, die nicht einmal ein Wort des Mitleids für den schuldlosen Vater und das schuldlose Weib des Verbrechers gehabt hatten. Dieses Versprechen ist bis heute gehalten worden. Ich bin jene Tochter. Der Name, den ich trage, und der Name, den ich meiner Nichte gegeben habe, sind nicht unsere, außer insofern wir durch Jahrhunderte zurückreichende Familienverbindung einen Anspruch auf dieselben haben. Ich bin nie verheirathet gewesen. Ich war verlobt und sollte dem Repräsentanten eines nicht unedlen Hauses eine fürstliche Mitgift mitbringen; der Tag der Hochzeit war schon bestimmt, als die Katastrophe hereinbrach. Ich habe meinen Verlobten nie wiedergesehen. Er reiste ins Ausland und starb dort. Ich glaube, er liebte mich; er wußte, daß ich ihn liebte. Wer kann ihn tadeln, daß er mich verließ? Wer hätte die Schwester des Verbrechers heirathen können? Wer möchte das Kind des Verbrechers heirathen? Wer, außer einem, dem Mann, der ihr Geheimniß kennt und es bewahren wird, dem Manne, welcher, wenig bekümmert um ihre sonstige Erziehung, mit hat geholfen, ihrem unschuldigen Kinderherzen eine so starke Liebe zur Wahrheit und ein so feines Ehrgefühl einzuflößen, daß sie, wenn sie wüßte, daß eine solche Schmach an ihrer Geburt hafte, sich zu Tode grämen würde.«

»Gibt es nur einen Mann auf dieser Erde«, rief Kenelm, indem er plötzlich sein bis jetzt gesenktes und mit den Händen bedecktes Gesicht mit einem Ausdruck gewaltigen Stolzes erhob, der von der gewohnten Milde desselben merkwürdig abstach, »gibt es nur einen einzigen Mann, der die Jungfrau, zu deren Füßen er niederknieen und sagen möchte: Geneige, die Königin meines Herzens zu werden, nicht für viel zu edel halten würde, als daß sie durch die noch vor ihrer Geburt begangenen Sünden Anderer herabgewürdigt werden könnte? Gibt es nur einen einzigen Mann, der nicht überzeugt wäre, daß die Liebe zur Wahrheit und stolzes Ehrgefühl höchst königliche Attribute für Frauen und Männer sind, gleichviel ob die Väter dieser Frauen 310 und Männer gesetzlose Piraten, wie die Väter normannischer Könige, oder so gewissenlose Lügner waren wie die gekrönten Repräsentanten so berühmter Herrscherfamilien wie der Cäsaren, der Bourbonen, der Tudors und der Stuarts? Der echte Adel ist wie der Genius angeboren. Nur ein einziger Mann sollte ihr Geheimniß bewahren, ein Geheimniß bewahren, das, wenn es bekannt würde, ein Herz, das vor der Schande zurückschreckt, beunruhigen könnte? O gnädige Frau, wir Chillinglys sind ein sehr obscures, unberühmtes Geschlecht, aber seit länger als einem Jahrtausend sind wir englische Gentlemen gewesen. Lieber ein Geheimniß bewahren, als die Gefahr einer Entdeckung laufen, die ihr Kummer bereiten könnte? Ich könnte mein ganzes Leben an ihrer Seite in Kamtschatka zubringen, und selbst dort soll nie die leiseste Andeutung des Geheimnisses über meine Lippen kommen, so dicht verdeckt und umhüllt sollte es sein von den Falten der Ehrfurcht und der Anbetung.«

Dieser leidenschaftliche Ausbruch erschien Frau Cameron als die sinnlose Declamation eines unerfahrenen, heißblütigen jungen Menschen, und indem sie darüber hinwegging, etwa wie ein großer Advocat die blühende Rhetorik eines jüngern Collegen, der er einst selbst gehuldigt, als Salbaderei belächelt, oder wie eine 311 Frau, für welche die Zeit der Romantik vorüber ist, einen romantischen Gefühlsausdruck, der ihre junge Tochter bethört, als müßiges Wortgepränge von der Hand weist, erwiderte sie einfach: »Das Alles ist leeres Gerede, Herr Chillingly, lassen Sie uns zur Hauptsache kommen. Beharren Sie nach Allem, was ich Ihnen gesagt habe, noch darauf, sich um meine Nichte zu bewerben?«

»Allerdings.«

»Wie!« rief sie, dieses Mal entrüstet und mit edler Entrüstung, »wie! Selbst wenn es möglich wäre, daß Sie die Zustimmung Ihrer Eltern dazu erlangen könnten, das Kind eines zum Zuchthaus verurtheilten Mannes zu heirathen, oder daß Sie, der Pflicht eines Sohnes gegen seine Eltern gemäß, ihnen diese Thatsache verbergen könnten, glauben Sie, daß bei Ihrer Lebensstellung, wo alle Welt neugierig fragen würde: Wer ist und wie heißt die künftige Lady Chillingly? die wahre Antwort auf diese Fragen nicht herausgebracht werden würde? Haben Sie, ein Fremder, der uns noch vor wenigen Wochen völlig unbekannt war, ein Recht, zu Walter Melville zu sagen. Verzichten Sie zu meinen Gunsten auf das, was Ihr einziger Lohn für die erhabenen Opfer, für die loyale Hingebung, für Ihre jahrelang ausdauernde zärtliche Sorgfalt ist?«

312 »Damals, gnädige Frau«, rief Kenelm, der sich durch diesen Appell mehr erschreckt und mehr im Innersten erschüttert fühlte als durch die vorangehenden Enthüllungen, »damals, als ich mich von Ihnen verabschiedete, als Sie sich mit meinem Vorschlag, nach Hause zu reisen und die Einwilligung meines Vaters zu meiner Bewerbung einzuholen, einverstanden erklärten, damals wäre der Moment gewesen, zu sagen: Nein, ein Bewerber mit nicht zurückzuweisenden Ansprüchen ist Ihnen zuvorgekommen.«

»Ich wußte damals nicht, deß ist der Himmel mein Zeuge, ja ich ahnte nicht, daß Walter Melville je daran gedacht habe, in dem Kinde, das unter seinen Augen aufgewachsen war, sein künftiges Weib zu erblicken. Sie können nicht leugnen, daß ich Alles aufbot, Sie von Ihrer Bewerbung abzubringen; ich konnte nicht weiter gehen, ohne das Geheimniß ihrer Geburt zu verrathen, welches ich doch nur im äußersten Nothfall offenbaren durfte. Aber ich war überzeugt, daß Ihr Vater seine Zustimmung zu Ihrer Verbindung mit einem seinen berechtigten Ansprüchen so wenig entsprechenden Mädchen nicht ertheilen und daß die Weigerung dieser Zustimmung allem ferneren Verkehr zwischen Ihnen und Lily ein Ende machen würde, ohne daß es einer Enthüllung ihres Geheimnisses bedürfe. Erst 313 nachdem Sie abgereist waren, erst vor zwei Tagen erhielt ich von Walter Melville einen Brief, der mir mittheilte, was ich bis dahin nie vermuthet hatte. Hier ist der Brief; lesen Sie ihn und sagen Sie dann, ob Sie noch das Herz haben, sich als Nebenbuhler aufzudrängen gegenüber – gegenüber –« Sie brach mit vor Anstrengung erstickter Stimme ab, drückte ihm den Brief in die Hand und beobachtete sein Gesicht mit gierig starren, erwartungsvollen Blicken, während er las.

Der Brief lautete, wie folgt:

»Street Kloomsbury.

Theure Freundin!

Freude und Triumph! Mein Bild ist fertig, das Bild, an welchem ich seit vielen Monaten Tag und Nacht in dieser Höhle von einem Atelier ohne den kleinsten Blick auf grüne Felder gearbeitet habe, dessen Adresse ich vor jedermann, selbst vor Ihnen geheim gehalten hatte, damit ich nicht in Versuchung geriethe, meine Arbeit zu unterbrechen. Das Bild ist fertig – es ist verkauft; rathen Sie, zu welchem Preise. Für fünfzehnhundert Guineen an einen Bilderhändler! Denken Sie nur! Es soll im Lande umhergeschickt und überall allein ausgestellt werden. Sie erinnern sich jener kleinen Landschaften, die ich vor zwei Jahren mit Vergnügen für zehn Pfund verkauft haben würde, wenn 314 nicht Sie und Lily dagegen gewesen wären. Mein guter Freund und frühester Protector, der deutsche Kaufmann in Luscombe, der mich gestern besuchte, bot mir so viel Guineen dafür, wie erforderlich sein würden, die Leinwand dreifach damit zu bedecken. Sie können sich vorstellen, wie glücklich es mich machte, als ich ihn zwang, die Bilder als Geschenk von mir anzunehmen. Welch einen Riesenschritt in dem Leben eines Menschen bedeutet es, wenn er sagen kann: Ich verschenke! Jetzt bin ich also endlich endlich in einer Lage, die mich berechtigt, der Hoffnung Ausdruck zu geben, welche mich seit achtzehn Jahren getröstet und aufrecht erhalten hat, welche der Sonnenstrahl gewesen ist, der mir auch in dem trübsten Dunkel meiner schlimmsten Lage leuchtete, die mich wie mit Lerchengesang emporhob, wenn ich in den Stimmen der Menschen nur höhnisches Lachen vernahm. Erinnern Sie sich jener Nacht, in welcher Lily's Mutter uns bat, ihr Kind in Unwissenheit über ihre Familie zu erziehen, und nicht einmal unfreundlich gesinnten und hochmüthigen Verwandten mitzutheilen, daß ein solches Kind geboren sei? Erinnern Sie sich, wie jammervoll und doch wie stolz sie, die Vornehmgeborene, sie, die stolzeste der Frauen, die ich je gekannt habe, sie, deren Lächeln ich in seltenen Momenten in Lily wiederfinde, als ich zu 315 remonstriren und zu sagen wagte, daß ihre Familie ihr Kind nicht für die Schuld seines Vaters büßen lassen könne, meine Hände krampfhaft ergreifend und sich im Bette aufrichtend stöhnte:

»Ich sterbe, die letzten Worte des Sterbenden sind Gebote. Ich gebiete Euch, dafür zu sorgen, daß das Loos meines Kindes nicht das einer zu vornehmen Leuten gebrachten Verbrecherstochter sei. Wenn sie glücklich sein soll, muß ihr Loos bescheiden sein, kein Dach ist zu bescheiden, um die Verbrecherstochter zu schützen, kein Mann zu niedrig geboren, um sie zu heirathen.«

Von jenem Augenblick an beschloß ich mir Hand und Herz frei zu erhalten, damit ich, wenn die Enkelin meines fürstlichen Wohlthäters herangewachsen sei, zu ihr sagen könne: Ich bin niedrig geboren, aber Deine Mutter würde Dich mir gegeben haben. Das unserer Obhut anvertraute Kind ist jetzt zur Jungfrau herangewachsen und meine Verhältnisse haben sich so gestaltet, daß ich, wenn ich sie um ihre Hand bitte, sie nicht mehr aufzufordern brauche, Armuth und Kampf mit mir zu theilen. Ich weiß, daß, wäre ihr Schicksal nicht ein so besonderes, diese meine Hoffnung eine eitle Anmaßung sein würde, ich weiß, daß ich nur das Geschöpf der Güte ihres Großvaters bin und daß ich 316 dieser Güte Alles verdanke, was ich bin, ich bin mir der Ungleichheit an Jahren, bin mir manches vergangenen Irrthums und manches gegenwärtigen Fehlers bewußt. Aber da das Schicksal es so gebietet, sind solche Erwägungen müßig; ich habe einen berechtigten Anspruch auf ihre Hand. Welche andere Wahl könnte diesen gebieterischen Rücksichten gegenüber in Betracht kommen, welche für Ihr Ehrgefühl, theure und verehrte Freundin, noch unendlich viel schwerer wiegen wie für das meinige, und doch ist das meinige nicht stumpf. Wenn ich es so als ausgemacht betrachten darf, daß Sie, ihre nächste und verantwortlichste Verwandte, mich nicht der Anmaßung zeihen, so scheint mir alles Uebrige klar. Lily's kindliche Zuneigung zu mir ist zu tief und zu zärtlich, als daß sie sich nicht leicht in die Liebe eines Weibes verwandeln sollte. Glücklicherweise ist sie auch nicht in dem hohlen Schlendrian eines stereotypen Pensionsunterrichts und einer vulgären Gentilität, sondern wie ich durch das freie Wirken der Natur erzogen, welches sie nach keinen andern Hallen und Palästen Verlangen tragen läßt, als denen, die wir uns aufhorchend in Feenländern erbauen, erzogen, die Phantasiegebilde zu begreifen und zu theilen, welche für den Verehrer der Kunst und des Gesanges mehr sind als alle Buchgelehrsamkeit.

317 In einigen Tagen, vielleicht den Tag, nachdem Sie diese Zeilen empfangen haben werden, werde ich im Stande sein, aus London zu entfliehen, und höchst wahrscheinlich wie gewöhnlich zu Fuß zu Ihnen kommen. Wie ich mich danach sehne, das Geißblatt auf den Hecken, die grünen Halme der Kornfelder, den sonnenbestrahlten Wasserfall und noch mehr die kleinen Fälle unseres schwatzenden Bachs wiederzusehen! Inzwischen flehe ich Sie an, theuerste, gütigste und verehrteste unter den wenigen Freunden, welche ich mir in meinem Leben bis jetzt erworben habe, den Hauptinhalt dieses Briefes wohl zu erwägen. Wenn Sie, die Sie so viel höher geboren sind als ich, eine nicht zu rechtfertigende Insolenz darin erblicken sollten, daß ich die Hand der Enkelin meines Protectors begehre, so sagen Sie es grade heraus und ich werde darum nicht weniger dankbar für Ihre Freundschaft bleiben, als ich es für Ihre Güte war, da ich zum ersten Mal in dem Palast Ihres Vaters zu Mittag aß. Jung, schüchtern und empfindlich, wie ich war, fühlte ich, daß seine vornehmen Gäste sich darüber wunderten, daß ich eingeladen sei, an demselben Tische mit ihnen zu essen. Sie, die Umworbene und Bewunderte, hatten Theilnahme und Mitleid für den linkischen, ängstlich verdrossenen Jungen, machten, daß die, welche mir damals als die 318 Götter und Göttinnen eines heidnischen Pantheons erschienen, sich zu dem Schützling Ihres Vaters setzten und ihm ermunternde Worte zuflüsterten, von denen getragen ein niedrig geborener ehrgeiziger Bursche beim Nachhausegehen leichten Herzens zu sich sagt: Früher oder später! Und was es für einen ehrgeizigen Burschen heißt, sich von den Göttern und Göttinnen eines Pantheons emporgehoben glauben, leichten Herzens nach Hause gehen und vor sich hinmurmeln zu dürfen: Früher oder später! davon machen selbst Sie sich schwerlich eine Vorstellung. Sollten Sie aber für den anmaßenden Mann noch ebenso freundlich gesinnt sein, wie Sie es für den scheuen Knaben waren, und sollten Sie sagen: Verwirklicht sei der Traum, erreicht sei der Zweck Ihres Lebens, nehmen Sie aus meiner, ihrer letzten Verwandten Hand die letzte Nachkommin Ihres Wohlthäters, dann wage ich es, folgende Bitte an Sie zu richten. Sie vertreten Mutterstelle bei dem Kinde Ihres Bruders. Handeln Sie jetzt, wie es einer mütterlichen Beschützerin zusteht, um ihr Herz und ihren Geist auf die bevorstehende Veränderung in den Beziehungen zwischen ihr und mir vorzubereiten. Als ich sie vor sechs Monaten zuletzt sah, war sie noch so ganz spielendes Kind, daß es mir halb vorkommt, als würde ich mich gegen die einem Kinde schuldige 319 Ehrfurcht versündigen, wollte ich zu plötzlich zu ihr sagen; Du bist jetzt erwachsen und ich liebe Dich nicht als Kind, sondern als Weib. Und doch habe ich keine Zeit zu einem langen, vorsichtigen, allmäligen Hinübergleiten aus dem Verhältniß eines Freundes in das eines Liebhabers. Ich verstehe jetzt, was der große Meister in meiner Kunst einst zu mir sagte: Unsere Laufbahn ist unser Schicksal. Einer jener Handelsfürsten, welche jetzt in Manchester, wie sie es einst in Venedig und Genua thaten, gleichzeitig die beiden Civilisatoren der Welt, welche nur blöden Augen als unvereinbare Gegensätze erscheinen, die Kunst und den Handel beherrschen, hat mir eine so großartig liberale Bestellung auf ein Bild gemacht, dessen Gegenstand er sich ausgedacht hat, daß meine Kunst dem Handel dienstbar werden muß, und die Natur des Gegenstandes nöthigt mich, sobald wie möglich die Ufer des Rheins aufzusuchen. Ich bedarf des Anblicks aller Tinten des Laubes in der mittäglichen Pracht des Sommers und kann daher nur einige Tage in Grasmere bleiben; aber bevor ich fortgehe, muß ich wissen, ob ich für Lily arbeiten werde oder nicht. Von der Antwort auf diese Frage hängt Alles für mich ab. Wenn ich nicht für sie arbeiten soll, so würde der Sommer keine Pracht, die Kunst keine Triumphe mehr 320 für mich haben, ich würde die Bestellung ablehnen. Wenn sie antwortet: Ja, Du sollst für mich arbeiten, dann wird sie mein Schicksal, sichert sie meine Laufbahn. Hier rede ich als Künstler. Niemand, der nicht Künstler ist, hat eine Ahnung, von wie entscheidender Wirkung für seine moralische Existenz in einem gewissen kritischen Moment seiner Laufbahn als Künstler oder seines Lebens als Mann der Erfolg oder das Mißlingen eines einzigen Werkes ist. Aber ich will auch als Mann reden. Meine Liebe für Lily ist in den letzten sechs Monaten so groß geworden, daß, obgleich ich, wenn sie meine Hand zurückweisen sollte, auch ferner der Kunst dienen und auch ferner nach Ruhm trachten würde, ich doch Beides wie ein alter Mann thun würde. Mein Leben würde zwecklos geworden sein. Als Mann sage ich alle meine Gedanken, alle meine Glücksträume fassen sich, abgesehen von Kunst und Ruhm, in die eine Frage zusammen: Wird Lily mein Weib werden oder nicht?

Ihr treuergebener
        W. M.«

Kenelm gab den Brief, ohne ein Wort zu sagen, zurück. Durch sein Schweigen aufgebracht, rief Frau Cameron: »Nun, Herr Chillingly, was sagen Sie dazu? Sie kennen Lily seit kaum fünf Wochen. Was 321 bedeutet die Laune einer fünfwöchentlichen fieberischen Erregung gegen die lebenslängliche Hingebung eines solchen Mannes! Wagen Sie noch zu sagen: Ich beharre?«

Kenelm machte eine sehr ruhige, abwehrende Handbewegung, als wolle er jeden Gedanken von Hohn und Insulte von sich weisen, und sagte, indem er seine sanften, melancholischen Augen auf die aufgeregten Züge der Tante Lily's heftete: »Dieser Mann ist ihrer würdiger als ich. Er bittet Sie in seinem Brief, Ihre Nichte auf das veränderte Verhältniß vorzubereiten, mit welchem sie selber zu rasch bekannt zu machen er sich fürchtet. Haben Sie das gethan?«

»Allerdings. Noch an dem Abend, an welchem ich den Brief erhielt.«

»Und – Sie zögern, reden Sie offen, ich bitte Sie inständig. Und – sie –«

»Sie«, antwortete Frau Cameron, die sich unwillkürlich gezwungen fühlte, der Stimme dieser Bitte zu gehorchen, »sie schien anfänglich wie betäubt und murmelte: ›Das ist ein Traum, das kann nicht, kann nicht wahr sein! Ich Löwe's Frau, ich! ich! ich! Sein Schicksal! Sein Glück von mir abhängig!‹ Und dann lachte sie mit ihrem lieblichen Kinderlachen, schlang ihre Arme um meinen Hals und sagte: ›Du scherzest, 322 Tante, das kann er nicht geschrieben haben!‹ Da gab ich ihr die betreffende Stelle des Briefes zu lesen, und als sie sich von der Wahrheit meiner Worte überzeugt hatte, wurde ihr Gesicht sehr ernst, frauenhafter, als ich es noch je gesehen hatte, und nach einer Weile rief sie leidenschaftlich aus: ›Kannst Du, kann ich mich selbst für so schlecht, so undankbar halten, daß ich zweifelhaft sein könnte, was ich zu antworten habe, wenn Löwe mich fragte, ob ich mit Bewußtsein etwas sagen oder thun möchte, was ihn unglücklich machen würde? Wenn ein solcher Zweifel in meinem Herzen wohnte, so würde ich ihn mit der Wurzel und mit dem ganzen Herzen ausreißen!‹ O Herr Chillingly! Es gibt kein Glück für sie mit einem Andern, da sie sich sagen müßte, sie habe das Leben dessen verwüstet, dem sie so viel schuldig ist, wenn sie auch nie erfahren wird, wie viel mehr sie ihm noch verdankt.«

Da Kenelm hierauf nichts antwortete, nahm Frau Cameron wieder auf: »Ich will vollkommen offen gegen Sie sein, Herr Chillingly. Ich war am nächsten Morgen, das heißt gestern, nicht ganz mit Lily's Aussehen und Wesen zufrieden. Ich fürchtete, sie habe einen innern Kampf zu bestehen, an welchem der Gedanke an Sie Theil haben könne. Und als Walter nach seinem Eintreffen hier am Abend von Ihnen als jemand 323 sprach, dem er bereits früher auf seinen ländlichen Ausflügen begegnet sei, dessen Namen er aber erst beim Abschied an der Brücke bei Cromwell-Lodge erfahren habe, wurde Lily blaß und ging bald darauf auf ihr Zimmer. In der Besorgniß, daß eine Zusammenkunft mit Ihnen, wenn auch nicht ihren Entschluß wankend, doch sie bei der einzigen Wahl, die sie treffen kann und darf, weniger glücklich machen könnte, beschloß ich diesen Morgen zu Ihnen zu gehen und an Ihre Vernunft und an Ihr Herz zu appelliren, wie ich es jetzt gethan habe – ich bin überzeugt, nicht vergebens. Still! Ich höre seine Stimme!«

Melville trat mit Lily, die sich auf seinen Arm stützte, ins Zimmer. Das schöne Gesicht des Künstlers strahlte von unaussprechlicher Freude. Er ging auf Kenelm wie mit einem Sprung zu, schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte: »Ich höre, daß Sie bereits ein willkommener Gast in diesem Hause sind, mögen Sie es noch lange bleiben, so sage ich und so sagt, dafür stehe ich, meine schöne Braut, der ich Sie nicht vorzustellen brauche.«

Lily ging auf Kenelm zu und streckte ihm sehr schüchtern ihre Hand entgegen. Kenelm berührte dieselbe mehr, als daß er sie ergriff. Seine eigene starke Hand zitterte wie Espenlaub. Er wagte nur einen 324 raschen Blick auf ihr Antlitz. Alle Frische war daraus verschwunden, aber der Ausdruck schien ihm wunderbar, grausam ruhig.

»Ihre Braut – Ihre künftige Frau!« sagte er zu dem Künstler mit einer Beherrschung seiner Gemüthsbewegung, die ihm durch den einzigen Blick auf das ruhige Gesicht weniger schwer gemacht war. »Ich gratulire Ihnen, meinen herzlichsten Glückwunsch, Fräulein Mordannt; Sie haben eine vortreffliche Wahl getroffen.«

Er sah sich nach seinem Hut um, der grade vor ihm auf der Erde lag, den er aber nicht sah; denn seine Augen wanderten mit unstätem Blick in die Weite wie die eines Schlafwandelnden.

Frau Cameron hob den Hut auf und gab ihn ihm.

»Ich danke Ihnen«, sagte er kleinmüthig und fügte dann mit einem halb milden, halb bittern Lächeln hinzu: »Ich habe Ihnen für so Vieles zu danken, Frau Cameron.«

»Aber Sie wollen doch noch nicht gehen, grade wo ich komme? Halt! Frau Cameron sagt mir, daß Sie bei meinem alten Freund Jones wohnen. Kommen Sie doch her und bleiben einige Tage bei uns, wir können Ihnen ein Zimmer einrichten, das Zimmer über Deinem Schmetterlingskäfig, wie, Fee?«

325 »Ich danke Ihnen allen, aber ich kann nicht, ich muß mit dem nächsten Zuge nach London.«

Bei diesen Worten war er an die Thür getreten, verneigte sich mit der ruhigen Grazie, die alle seine Bewegungen charakterisirte, und ging fort.

»Verzeihe seinem so plötzlichen Aufbruch, Lily, auch er liebt; auch er ist ungeduldig, eine Verlobte aufzusuchen«, sagte der Künstler munter. »Aber jetzt, wo er mein theuerstes Geheimniß kennt, habe ich, denke ich, ein Recht, auch das seinige zu kennen, und ich will versuchen, es zu erfahren.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als auch er das Zimmer verließ und Kenelm noch grade an der Schwelle einholte.

»Wenn Sie nach Cromwell-Lodge zurückgehen, vermuthlich um Ihre Sachen einzupacken, so lassen Sie mich bis zur Brücke mit Ihnen gehen.«

Kenelm machte eine zustimmende Kopfbewegung, während sie durch die Gartenpforte gingen, und schlug den Rückweg längs des Gartenzaunes ein. Als sie an der Stelle angelangt waren, an welcher er an dem Tage nach ihrem ersten und einzigen Wortwechsel Lily's Gesicht durch das Immergrün hindurch leuchten gesehen hatte, an jenem Tage, wo die alte Frau im Fortgehen zu ihr sagte. »Gott segne Sie!« und an welchem der 326 Pfarrer Kenelm von ihren Reizen sprach, sah er an derselben Stelle Lily's Gesicht wieder, dieses Mal nicht durch das Immergrün leuchtend, es wäre denn, daß man von dem bleichsten Glanz des bleichsten Mondes sagen könnte, er leuchte. Auch Kenelm sah, fuhr zusammen und blieb stehen. Sein Gefährte, der eben in dem Strom einer lustigen Rede war, von welcher Kenelm kein Wort gehört hatte, sah nichts und blieb nicht stehen, sondern ging mechanisch lustig schwatzend weiter.

Lily streckte durch das Immergrün hindurch ihre Hand aus. Kenelm ergriff dieselbe ehrfurchtsvoll. Dieses Mal zitterte nicht seine Hand.

»Leben Sie wohl«, flüsterte sie, »leben Sie wohl für immer in dieser Welt. Sie verstehen, Sie verstehen mich. Sagen Sie, daß Sie es thun.«

»Ich verstehe. Edles Kind, Gott segne Sie. Gott tröste mich!« murmelte Kenelm. Ihre Augen begegneten sich. O welche Trauer und ach, welche Liebe sprach aus beider Augen!

Kenelm ging weiter.

Alles war in einem Augenblick gesagt. Wie oft ist Alles in einem Augenblick gesagt!

Melville endigte, als Kenelm wieder zu ihm trat, einen feurigen Erguß, den er angefangen 327 hatte, als Kenelm stehen geblieben war, mit den Worten:

»Worte können es nicht ausdrücken, wie schön mir von heute an das Leben, wie leicht mir der Ruhm zu erreichen scheint.« Und jetzt stand auch er still, blickte umher in die sonnenbeleuchtete Landschaft und athmete tief auf, wie um die ganze Freude und Schönheit der Erde, soweit er sie mit dem Blick bis an die äußersten Grenzen des Horizonts umfassen konnte, einzuschlürfen.

»Selbst die, welche sie am besten kannten«, nahm der Künstler weitergehend wieder auf, »selbst ihre Tante ahnte nicht, eine wie ernste und innige Natur unter all ihrem kindlich anmuthigen Phantasiespiel wohne. Es war auf einem Gang am Ufer des Flusses, wo ich ihr zu sagen begann, wie einsam die Welt für mich sein würde, wenn ich sie nicht zu meinem Weibe gewinnen könnte; während ich sprach, hatte sie einen Seitenweg eingeschlagen, und erst als wir im Schatten der Kirche standen, in welcher unsere Trauung vollzogen werden wird, sprach sie die Worte, welche jede Wolke meines Geschickes silbern säumte, und gab mir durch den Ort, an welchem sie diese Worte sprach, zu verstehen, wie feierlich in ihrem Gemüth der Gedanke an Liebe mit der Heiligkeit der Religion verknüpft sei.«

328 Kenelm schauderte – die Kirche – der Kirchhof – das alte gothische Grab – die Blumen auf dem Kindergrab!

»Aber ich spreche viel zu viel von mir«, nahm der Künstler wieder auf. »Liebende sind die vollendetsten Egoisten und die geschwätzigsten Plaudertaschen. Sie haben mir zu meiner bevorstehenden Heirath Glück gewünscht, wann werde ich Ihnen zu der Ihrigen gratuliren können? Da wir einmal angefangen haben, uns gegenseitig Confidencen zu machen, so sind Sie mir eine schuldig.«

Sie hatten eben die Brücke erreicht. Kenelm wandte sich plötzlich um und sagte: »Leben Sie wohl, lassen Sie uns voneinander Abschied nehmen. Ich habe Ihnen nichts anzuvertrauen, was Ihren Ohren nicht wie ein Hohn klingen möchte, wenn ich Ihnen Glück wünsche.« Bei diesen unwillkürlich in der Angst seines Herzens ausgestoßenen Worten drückte Kenelm seinem Gefährten die Hand mit der Heftigkeit eines unbezwinglichen Schmerzausbruchs und eilte über die Brücke, noch bevor Melville sich von seiner Ueberraschung erholen konnte.

Der Künstler würde nur wenig Anspruch auf ein wesentlichstes Element des Genius, nämlich die intuitive Sympathie der Leidenschaft mit der 329 Leidenschaft haben, wenn das Geheimniß Kenelm's, dessen Mittheilung Melville so leichthin als ein Recht begehrt hatte, ihm jetzt nicht wie mit einem elektrischen Schlage offenbar geworden wäre. »Der arme Kerl«, dachte er mitleidig bei sich, »wie natürlich, daß er sich in Fee verliebt hat! Aber glücklicherweise ist er so jung und ein solcher Philosoph, daß es für ihn nur eine jener Prüfungen sein wird, wie ich sie wenigstens zehnmal jährlich durchgemacht habe und deren Wunden keine Narben zurücklassen.«

So mit sich selbst redend, kehrte der warmblütige Verehrer der Natur nach Hause zurück, zu glücklich in dem Triumph seiner eigenen Liebe, um mehr als ein freundliches Mitleid für das verwundete Herz zu empfinden, überzeugt wie er von der heilenden Wirkung der Zeit auf einen wankelmüthigen jungen Menschen und von der Trostkraft der Philosophie war. Keinen Augenblick argwöhnte der glücklichere Nebenbuhler, daß Kenelm's Liebe erwidert werde, daß eine Fiber in dem Herzen des Mädchens, welches versprochen hatte, sein Weib zu werden, von einer andern Liebe als der seinigen berührt werden könne.

Indessen sprach er, mehr aus zarter Rücksicht für den Nebenbuhler, der sich ihm selbst so plötzlich verrathen hatte, als aus einem von der Vorsicht 330 eingegebenen Motiv, selbst mit Frau Cameron nicht über Kenelm's geheimen Kummer, und weder sie noch Lily waren geneigt, ihm irgend welche Frage in Betreff Kenelm's zu thun.

Der Name Kenelm Chillingly wurde kaum ein einziges Mal in diesem Hause während der wenigen Tage genannt, welche Walter Melville noch in Grasmere zubrachte, bevor er nach den Ufern des Rheins abreiste, um erst im Herbst zu seiner Hochzeit zurückzukehren.

Während dieser Tage war Lily ruhig und anscheinend heiter, ihr Benehmen gegen ihren Verlobten war nur ergebener, nicht weniger zärtlich als sonst. Frau Cameron gratulirte sich dazu, Kenelm Chillingly so glücklich los geworden zu sein. 331


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