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Elftes Kapitel.

Als am nächsten Morgen Herr Emlyn auf seinem Wege vom Pfarrhause nach Moleswick über den Kirchhof ging, bemerkte er eine auf dem Boden des Kirchhofs ausgestreckt liegende menschliche Gestalt, die sich unablässig, aber sehr schwach, wie von einem leichten Fieberschauer geschüttelt, bewegte und sehr leise Töne ausstieß, wie jemand, der von Schmerzen geplagt sich Gewalt anthut, aber doch stöhnen muß.

Der Pfarrer eilte nach der Stelle hin. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten auf einem Grabhügel weder todt noch schlafend.

»Der arme Bursche ist, fürchte ich, betrunken«, dachte der milde Pfarrer, und da es seine Art war, 354 mit dem Irrthum noch mehr Mitleid zu empfinden als mit dem Kummer, so redete er den vermeintlichen Sünder mit sehr milden Worten an und versuchte es ihn aufzurichten.

Da erhob der Mann sein Gesicht von seinem harten Grabkissen, blickte träumerisch um sich in die leere graue Luft des trüben Morgens und stand langsam und ruhig auf.

Der Pfarrer entsetzte sich; er erkannte das Gesicht dessen, den er zuletzt strotzend von Kraft und Gesundheit gesehen hatte. Aber das Gesicht war verändert, völlig verändert! Die alte, zugleich ernste und liebliche Heiterkeit seines Ausdrucks war einer wilden Unruhe, die sich in den schweren Augenlidern und den zitternden Lippen am deutlichsten kund gab, gewichen.

»Herr Chillingly, sind Sie es? Ist es möglich?«

»Varus, Varus«, rief Kenelm leidenschaftlich aus, »gib mir meine Legionen wieder!«

Bei diesem Citat des bekannten Wortes, mit welchem Augustus seinen unglücklichen Feldherrn begrüßte, fuhr der gelehrte Pfarrer entsetzt zurück. War sein junger Freund irrsinnig geworden, vielleicht infolge zu vielen Studirens? Aber er fand sich bald beruhigt. Kenelm's Gesicht gewann bald wieder einen ruhigen, 355 wenn auch traurig ruhigen Ausdruck, wie er zu dem trübseligen Wintertag zu stimmen schien.

»Verzeihen Sie mir, Herr Emlyn. Ich hatte mich noch nicht ganz aus den Klauen eines souderbaren Traumes losgemacht. In meinem Traume stand es schlimmer mit mir als mit Augustus; er hatte, als die Legionen, die er einem Andern anvertraut hatte, ins Grab sanken, nicht die Welt verloren!«

Bei diesen Worten ergriff Kenelm den Arm des Pfarrers, stützte sich etwas schwer auf denselben und zog ihn mit sich von dem Kirchhof bis an die Stelle, wo die beiden Wege sich zu einem vereinigten.

»Aber seit wann sind Sie wieder in Moleswick?« fragte Herr Emlyn. »Und wie kommen Sie dazu, sich ein so feuchtes Bett für Ihren Morgenschlummer auszusuchen?«

»Die Winterkälte drang mir in die Adern, als ich auf dem Kirchhof stand, und ich war sehr müde. Ich habe heute Nacht nicht geschlafen. Ich will nach Grasmere gehen. Aus einer Grabschrift ersehe ich, daß Herr Melville seine Frau schon seit länger als einem Jahre verloren hat.«

»Frau? Er war gar nicht verheirathet.«

»Wie!« rief Kenelm. »Wessen Grabstein ist es denn – L. M.?«

356 »Ach! Das ist der Grabstein unserer armen Lily.«

»Und sie ist unverheirathet gestorben?«

Bei dieser Frage blickte Kenelm auf und die Sonne brach aus dem trüben Morgennebel hervor. »Ich darf Dich also«, dachte er, »als die Meinige in Anspruch nehmen, wenn wir uns wiedersehen.«

»Unverheirathet? Ja«, nahm der Pfarrer wieder auf. »Sie war mit ihrem Vormund verlobt und die Hochzeit sollte im Herbst bei seiner Rückkehr vom Rhein stattfinden. Dahin war er gegangen, um an Ort und Stelle sein jetzt so berühmt gewordenes Bild: Roland der Einsiedler gewordene Ritter blickt nach dem Gitterfenster des Klosters, um der ›heiligen Nonne‹ ansichtig zu werden, zu malen. Aber Melville war kaum abgereist, als sich die Symptome der Krankheit, welche für die arme Lily verhängnißvoll werden sollte, einstellten; sie spotteten aller ärztlichen Geschicklichkeit – die Krankheit machte reißende Fortschritte. Sie war immer sehr zart gewesen, aber niemand hatte geahnt, daß sie den Keim der Schwindsucht in sich trage. Melville kehrte erst wenige Tage vor ihrem Tode zurück. Die liebe kindliche Lily! Wie tief betrauerten wir sie alle! Nicht am wenigsten die Armen, die an ihren Feenzauber glaubten.«

357 »Am wenigsten aber, wie es scheint, der Mann, den sie hatte heirathen sollen.«

»Er? Melville? Wie können Sie ihm so Unrecht thun! Sein Schmerz war furchtbar, überwältigend in der ersten Zeit.«

»In der ersten Zeit?« wiederholte Kenelm so leise, daß der Pfarrer es nicht hören konnte.

Sie gingen schweigend weiter. Emlyn nahm wieder auf:

»Sie werden die Bibelstelle auf Lily's Grabstein bemerkt haben: »Lasset die Kindlein zu mir kommen.« Sie hatte dieselbe selbst am Tage vor ihrem Tode angegeben. Ich war bei ihr wie auch in ihrem letzten Augenblick.«

»Sie waren bei ihr im letzten, letzten Augenblick. Leben Sie wohl, Herr Emlyn. Ich sehe schon den Gartenzaun. Entschuldigen Sie mich, ich möchte Herrn Melville allein sprechen.«

»Nun, so leben Sie wohl; aber wenn Sie sich hier in der Gegend irgend länger aufhalten sollten, wollen Sie nicht unser Gast sein? Wir haben ein Zimmer, das ganz zu Ihrer Verfügung steht.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber ich muß in wenigen Stunden nach London zurück. Noch ein Wort. 358 Sie waren bei ihr in ihrem letzten Augenblick? Starb sie ergeben?«

»Ergeben! Das ist kaum das rechte Wort. Das Lächeln, das ihre Lippen umschwebte, war nicht das menschlicher Ergebenheit, es war das Lächeln einer himmlischen Freude.« 359


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