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Zehntes Kapitel.

Ein Winterabend in Moleswick! Wie verschieden von einem winterlichen Sonnenuntergang in Neapel! Bei klarem, scharfem Frost hatte ein leichter Schneefall die Straßen mit einer dünnen weißen Decke überzogen.

Kenelm Chillingly kam zu Fuß ohne Ränzel auf dem Rücken in die Stadt. Als er die Hauptstraße passirte, stand er einen Augenblick vor Will Somers' Thür still. Der Laden war geschlossen. Nein, er wollte nicht eintreten, um sich auf Umwegen nach Neuigkeiten zu erkundigen. Er wollte nämlich gradeswegs nach Grasmere gehen. Er wollte die Bewohner dort überraschen. Je früher er Tom's Erfahrung auch an sich selbst erleben konnte, desto besser. Er hatte sein Herz dazu geschult, sich auf diese Erfahrung zu 343 verlassen, und das gab ihm die alte Elasticität seines Schrittes wieder. In seiner stolzen Haltung und seinem selbstbewußten Ausdruck malte sich wieder der alte Hochmuth des Indifferentismus, der weit erhaben ist über die leidenschaftliche Unruhe und die Frivolität derer, die seine Philosophie bemitleidet und verspottet.

»Hahaha«, lachte er, der wie Swift nie laut und oft unhörbar lachte. »Hahaha! Ich werde den Geist meines Kummers austreiben. Mich soll nie wieder ein Gesicht verfolgen. Wenn der wilde Bursche, den der Liebeswahnsinn fast zum Verbrecher gemacht hätte, auf einmal durch einen einzigen Besuch in dem Hause seiner ehemaligen Geliebten geheilt werden konnte, weil ihr Gesicht, dessen Lächeln und Thränen jetzt einem andern Manne gehörten, ihm verändert erschien, wie viel mehr darf ich darauf rechnen, ohne eine Schmarre davonzukommen, ich, ein Chillingly, ich, der Verwandte eines Mivers, ich, der Schüler eines Welby, ich, ich, Kenelm Chillingly!«

Mitten in diesem ruhmredigen Selbstgespräch sah und hörte er plötzlich den ihm so wohlbekannten Bach, der bei dem Licht des winterlichen Mondes glänzte und rauschte. Kenelm blieb stehen, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in einen Strom von Thränen aus.

344 Allmälig kam er wieder zu sich und ging weiter auf dem Fußpfade, auf jedem Schritt von Lily's Gestalt begleitet.

An der Gartenpforte von Grasmere angelangt, öffnete er dieselbe und trat ein. In demselben Augenblick eilte ein Mann, den Hut berührend, an ihm vorüber, es war der Dorfbriefträger. Kenelm trat zurück, um dem Manne den Vortritt ins Haus zu lassen, und als er so zurücktrat, fiel sein Blick seitwärts auf erleuchtete, auf den Rasen gehende Fenster, die Fenster des hübschen Wohnzimmers, in welchem er Lily zuerst von ihrem Vormunde sprechen gehört hatte.

Der Briefträger gab seine Briefe ab und ging wieder zum Garten hinaus, während Kenelm noch immer dastand und gedankenvoll nach den erleuchteten Fenstern blickte. Inzwischen war er längs des Rasens näher an das Licht herangetreten und sagte zu sich: »Nur einen Blick auf sie und ihr Glück, dann will ich kühn an die Thür klopfen und sagen: Guten Abend, Frau Melville.«

So schlich er sich über den Rasen, stellte sich an die Mauerecke und blickte ins Fenster.

Melville saß in Schlafrock und Pantoffeln allein am Kamin. Sein Hund lag auf dem Kaminteppich 345 träge ausgestreckt. Allmälig belebte sich das stille Zimmer, der Schauplatz seines verschwundenen Glückes für Kenelm, die zartgefärbten Wände, das kleine Büchergestell mit seinen weiblichen Zierrathen auf dem oberen Bort, das noch an derselben Stelle stehende Klavier! Nur Lily's niedriger kleiner Stuhl stand nicht mehr an seinem alten Platze, sondern war in eine entfernte Ecke geschoben, als würde er nicht mehr benutzt. Melville las einen Brief, ohne Zweifel einen der eben von dem Briefträger abgegebenen. Der Inhalt mußte wohl sehr angenehm sein, denn sein schönes Gesicht, auf dem sich jede innere Regung immer sofort deutlich abspiegelte, leuchtete beim Lesen wunderbar auf. Dann stand er rasch auf und zog hastig an der Glocke.

Ein sauberes Mädchen trat ein, ein Kenelm unbekanntes Gesicht. Melville gab ihr einen kurzen Auftrag. »Er muß frohe Nachrichten bekommen haben«, dachte Kenelm. »Er schickt nach seiner Frau, damit sie seine Freude mit ihm theile.«

Alsbald öffnete sich die Thür und nicht Lily, sondern Frau Cameron trat ein.

Ihr Aussehen war verändert. Ihre gewohnte Ruhe in Ausdruck und Bewegung war zwar noch dieselbe, aber es war Alles matter, ihr Haar war grau 346 geworden. Sie trat auf Melville, der am Tische stand, zu. Er gab ihr den Brief mit einem frohen stolzen Lächeln in die Hand, sah ihr über die Schultern, während sie ihn las, und deutete mit dem Finger auf eine Stelle, auf die er sie besonders aufmerksam machen zu wollen schien.

Als sie zu Ende gelesen hatte, lächelte auch sie. Sie schüttelten sich herzlich die Hände, wie um sich zu beglückwünschen. »Ah«, dachte Kenelm, »der Brief ist von Lily, sie ist verreist, vielleicht meldet sie die Geburt ihres ersten Kindes.«

Grade in diesem Augenblick kroch Blanche, die bisher nicht zu sehen gewesen war, unter dem Tische hervor und sprang, als Melville sich wieder ans Kamin setzte, auf seinen Schooß und rieb sich an seiner Brust. Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich; ein leiser Ausruf entrang sich seiner Brust. Frau Cameron nahm ihm das Thier vom Schooß, streichelte es ruhig, trug es durchs Zimmer und setzte es zur Thür hinaus. Dann setzte sie sich neben den Künstler, legte ihre Hand in die seinige und sie unterhielten sich leise, bis Melville's Gesicht sich wieder aufhellte und er den Brief wieder zur Hand nahm.

Einige Minuten später brachte das Mädchen das Theegeschirr hinein und trat, nachdem sie dasselbe auf 347 den Tisch gestellt hatte, ans Fenster. Kenelm zog sich in den Schatten zurück, das Mädchen schloß die Laden und ließ die Vorhänge herab – das Bild einer ruhig behaglichen Häuslichkeit wurde den Augen des Zuschauers entzogen.

Kenelm war betroffen. Was war aus Lily geworden? War sie in der That vom Hause abwesend? Hatte er richtig vermuthet, daß der Brief, der Melville offenbar so froh gestimmt hatte, von ihr war, oder war es möglich – hier durchfuhr sein Herz ein freudiges Gefühl, das ihm den Athem versetzte – war es möglich, daß sie am Ende doch ihren Vormund nicht geheirathet, daß sie anderswo ein Daheim gefunden hatte, daß sie frei war? Er ging weiter zurück nach dem Wasser zu, um jenen Theil des unregelmäßigen Baus besser vor Augen zu haben, in welchem Lily ehemals ihr Schlafzimmer und ihr eigenes Zimmer hatte. Alles war dort dunkel, die Laden erbarmungslos geschlossen. Der Raum, an welchen sich die kindlichsten Vorstellungen des kindlichen Mädchens knüpften, in welchem sie die Schmetterlinge, die bestimmt waren, Feen zu werden, zähmte und pflegte, der gebrechliche Käfig war nicht geschlossen, nicht gegen Wind und Wetter geschützt; seine Thür stand trübselig offen, das zarte Drahtwerk war durchlöchert; 348 von den zierlichen Draperien waren nur noch einige zerrissene Fetzen übrig und auf dem entvölkerten Boden spielten die Mondstrahlen kalt und geisterhaft. Kein Wasserstrahl entströmte mehr der kleinen Fontaine; das Bassin war zerbrochen und verwittert, das wenige darin befindliche Wasser gefroren. Von all den hübschen geflügelten Thierchen, die Lily zähmen zu können wähnte, war kein einziges mehr vorhanden. O doch! Da war einer, der aber vermuthlich nicht zu der alten vertrauten Schaar gehörte, sondern ein fremder, der vielleicht hineingeflogen war, um Schutz gegen die ersten winterlichen Stürme zu suchen, und nun mit anliegenden Flügeln sich in eine Ecke der Mauer gedrängt hatte, schlafend, nicht todt. Kenelm sah ihn nicht; er bemerkte nur die traurige Vernachlässigung und Verödung des Raumes.

»Sehr natürlich«, dachte er; »sie ist allen solchen lieblichen Albernheiten entwachsen. Eine Frau kann kein Kind bleiben. Aber doch! Wenn sie mein geworden wäre –« Dieser Gedanke überwältigte ihn so, daß er ihn nicht einmal innerlich auszusprechen wagte. Er wandte sich ab, blieb einen Augenblick unter den entlaubten, noch immer in den Bach getauchten Zweigen der großen Weide stehen und ging dann mit raschen, ungeduldigen Schritten an die Gartenpforte zurück.

349 »Nein, nein, nein. Ich kann jetzt nicht dieses Haus betreten und nach Frau Melville fragen. Es ist genug für einen Abend, auf dem alten Boden zu stehen. Ich will in die Stadt zurückkehren. Ich will bei Jessie vorsprechen und dort kann ich erfahren, ob sie wirklich glücklich ist.«

So ging er wieder seines Weges längs des Baches; die Nacht wurde immer kälter und klarer, während der stille Mond immer höher stieg. Tief in Gedanken versunken schlug er, als er an die Stelle kam, wo sich der Fußpfad in zwei Wege theilte, nicht den, der directer in die Stadt führte, ein. Er lenkte seine Schritte nur zu natürlich längs des Weges, der sich mit seinen Gedanken verknüpfte.

Bald stand er wieder auf dem Kirchhof, dem alten zerstörten Grabe mit der verloschenen Inschrift gegenüber.

»O Kind, Kind!« murmelte er fast hörbar, »welche Tiefen weiblicher Zärtlichkeit liegen in Dir verborgen! In welcher innigen Sympathie mit der Vergangenheit, wie sie nur die zärtlichsten Frauen und die größten Dichter empfinden, legtest Du Deine Blumen auf das Grab, dem Du eine poetische, von einem Frauenherzen dictirte Geschichte gabst, ohne zu ahnen, daß unter 350 dem Grabstein ein Held Deines eigenen gefallenen Geschlechtes ruhe.«

Er trat unter den Schatten der Eiben, deren Blätter kein Wintersturm verstreuen kann, und blieb an dem zerstörten Grabe stehen. Keine Blumen lagen jetzt auf dem Grabstein, nur einige Schneeflocken am Fuß desselben, wie am Fuß aller übrigen Grabhügel. Regungslos starrte der spitze Kirchthurm in der kalten Winternacht und höher und höher stieg am Himmelszelt der Mond, rings von Sternen umgeben, deren Zahl keine Wissenschaft angeben kann. Aber nicht weniger schwer zu zählen sind die Gedanken, Wünsche, Bestrebungen, welche im Verlaufe einer Zeit, die kürzer ist als eine Winternacht, durch die unendlichen Tiefen einer menschlichen Seele ziehen können.

Von seinem Platze an dem gothischen Grabe schaute Kenelm über den Kirchhof nach dem Grabe des Kindes aus, welches Lily's fromme Sorgfalt mit geweihten Blumen umkränzt hatte. Ja, von dort her leuchtete noch ein Schimmer von Farbe; konnte es in dieser bittern Winterkälte die Farbe von Blumen sein? Das Mondlicht täuscht so, es verleiht dem Immergrün die Silberfarbe weißer Blüten.

Er ging nach dem weißen Grabhügel. Sein Auge hatte ihn genarrt, da waren keine blassen Blumen, kein Immergrün auf dem vernachlässigten Grabrand, nur braune Erde, verwelkte Blumen und Schneeflocken.

»Und doch«, sagte er traurig zu sich, »hat sie mir versichert, daß sie nie eine Zusage gebrochen habe, und sie hatte dem sterbenden Kinde ein Versprechen gegeben. O, sie ist jetzt zu glücklich, um an die Todten zu denken«

So vor sich hin murmelnd, war er im Begriff, wieder in die Stadt zurückzukehren, als er dicht bei dem Grabe des Kindes ein anderes Grab erblickte. Rund um dieses andere Grab lagen Immergrün und kleine Blüten von Laurestinus, an den vier Ecken verwelkte Knospen der Weihnachtsrose; am Kopf des Grabes stand ein weißer Grabstein, dessen scharfe Ecken in die sternenklare Luft hinausstarrten, und auf dem Grabstein standen in frischen Lettern folgende Worte.

Dem Andenken von
L. M.
Sie starb siebzehn Jahre alt
am 29. October 18 . .

Dieser Stein auf dem Grabe, in welchem ihre sterblichen Ueberreste liegen, neben dem Grabe eines 352 Kindes, das nicht unschuldiger war als sie, ist von denen errichtet, die sie am tiefsten betrauern und am schmerzlichsten vermissen.

Isabel Cameron.
Walter Melville.
Lasset die Kindlein zu mir kommen.


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