Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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5

Einige Tage danach waren Svend und Ellen im Odeontheater, um ein Stück von Molière zu sehen. Es war eine Art Schülervorstellung und Ellen langweilte sich furchtbar über das klassische Französisch.

Im zweiten Zwischenakt bekam sie eine glänzende Idee.

Sie hatte in zahlreichen Romanen vom Quartier latin und dem nächtlichen Studentenleben gelesen. Sie wußte, daß der Boulevard Saint Michel, die Hauptader des lustigen Viertels, ganz in der Nähe des Theaters sei; sie schlug Svend vor, Molière Molière sein zu lassen – sie hatten genug vom Stück gesehen, um dem Departementschef davon berichten zu können – und statt dessen in ein Café auf dem Boulevard zu gehen, um »Volksleben zu studieren«, wie Ellen sich mit einem schelmischen Lächeln ausdrückte.

Svend hatte einige Bedenken. Er wollte ungern das Vertrauen des Departementschefs täuschen, der ihn voller Zuversicht seine Tochter begleiten ließ.

Als er mit der Antwort zögerte, durchschaute sie ihn und sagte schnell:

»Ach so, du betrachtest mich als anvertrautes Gut!« Sie sah spöttisch von der Seite zu ihm auf. »Das laß nur meine Sache sein. Ich bin alt genug, um die Verantwortung für meine Handlungen selbst zu übernehmen.«

Sie warf den Kopf in den Nacken, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie gekränkt oder verlegen war, und zog ihren Arm aus dem seinen.

Jetzt war es an Svend, sie wieder zu versöhnen. Er beugte sich ganz vor ihrer Selbstbestimmung und verleugnete jede Rücksichtnahme auf den Departementschef, wenn sie nur wieder gut sein wollte.

Eine halbe Stunde später wanderten sie vertraulich Arm in Arm über den breiten, schlecht beleuchteten Boulevard.

Ellen gebrauchte ihre neugierigen Augen, wie sie nur konnte.

Wenn eine muntere Schar schwarzbärtiger und langhaariger junger Leute, den flachen Hut im Nacken, dicht an ihnen vorbeistrich, mit ihren luftig gekleideten Damen am Arm, die nichts weiter als ein Korsett unter dem Kleid zu tragen schienen, dann schmiegte sie sich dicht an Svend und stellte sich vor, daß sie eine der »étudiantes« und Svend ihr »amant« sei.

Sie setzten sich an einen der kleinen Tische vor einem großen Eckcafé, wo ein Damenorchester musizierte, dessen unbedingte Anständigkeit drollig von dem weiblichen Publikum, dem es vorspielte, abstach.

Ein Brandungslärm von jungen, lebenslustigen Menschen, die ihren Bock, ihren Absinth oder Kaffee mit Kognak tranken.

Ellen machte sie alle schlankweg zu Studenten; die Damen aber, die zwischen den kleinen Tischen hin und her gingen, sich hier niederließen, dort etwas tranken, diesem mit einem unverständlichen Ausruf zunickten, jenem im Vorbeigehen liebevoll übers Haar strichen, die konnte sie sich beim besten Willen nicht mit jener Vorstellung von verführten, noch im Unschuldszustand schwebenden Nähmädchen, wie sie sie aus »La Bohême« kannte, zusammenreimen.

Zuerst war sie etwas verlegen im Namen ihres Geschlechts, wurde abwechselnd rot und blaß über den dreisten Appell an die Herren und über die noch unverblümteren Erwiderungen, von denen sie doch nur die Hälfte verstand.

Das Neue und Ungewöhnliche aber ließ ihr keine Ruhe. Sie saß stumm mit großen Augen dicht neben Svends beschützendem Arm und vergaß ganz ihre Grenadine zu trinken.

Die Musik hatte Pause. Es war jetzt so spät, daß sie eiligst ins Hotel zurückkehren mußten, wenn sie nicht verraten wollten, daß sie anderwärts als im Theater gewesen waren.

Ellen erhob sich mit einem Seufzer. Sie hätte hier gern noch einige Stunden gesessen. Niemals in ihrem Leben war sie dem Milieu, dem sie durch Geburt und Erziehung angehörte, so fern gewesen. Sie fand, daß sie in dieser Stunde mehr von ihrem eigenen Geschlecht erfahren hatte als durch alle Bücher, die sie gelesen hatte.

Sie war etwas angewidert davon und erstaunt, aber vor allen Dingen äußerst interessiert.

Aber leicht beweglich wie sie war, vergaß sie den Ernst, als sie kurz darauf neben Svend in der Droschke saß, und machte ihren Eindrücken in einem Strom von Worten Luft.

Nachdem Ellen sich ausgekleidet hatte und im Frisiermantel vorm Spiegel saß, um ihr blondes Haar für die Nacht zu lösen, hörte sie, wie ihr Vater den Schlüssel zum Nebenzimmer umdrehte.

Obgleich sie Svend so großspurig abgefertigt hatte, war sie doch jetzt, während sie sich entkleidete, etwas bedenklich geworden.

Es ging doch wohl nicht an. Und gesetzt, sie begegneten eines Tages einem Bekannten aus Dänemark!

Sie überlegte einen Augenblick hin und her. Dann faßte sie Mut, legte den Kamm beiseite und ging entschlossen auf die Tür zu.

»Was, bist du noch auf, mein Kind?« ertönte die Stimme des Departementschefs, die noch einen kleinen festlichen Beiklang von dem Herrendiner beim Generalkonsul hatte.

»Komm nur herein!«

Ellen öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Der Departementschef stand im Frack vorm Kamin und spiegelte seine Orden.

Als er sich umwandte und den Arm hob, um sie wie gewöhnlich um den blonden Kopf zu fassen und auf die Stirn zu küssen, faßte sie seine Hand, sah ihn an und sagte:

»Papa, ich hab mich heute abend verlobt.«

Der Departementschef zog mit beiden Händen seine Weste herunter und sagte nach kurzer Überlegung:

»Sieh mal einer an. Und mit wem, wenn man fragen darf?«

Er setzte sich in den Schreibtischstuhl und begann mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln, während seine scharfen, blauen Augen, die denen seiner Tochter so ähnlich waren, sie unverwandt betrachteten.

Ellen wurde verlegen und nestelte an ihrem Haar.

»Das weißt du ja sehr gut.«

»Nun, ja!« sagte der Departementschef, »er ist ja ein netter und hübscher junger Mensch. Aber ich würde es doch passender gefunden haben, wenn du etwas gewartet und ihn näher kennen gelernt hättest, bevor du ihm Gelegenheit gabst – äh – sich zu erklären.«

Ellen mußte innerlich zugeben, daß es etwas schnell gegangen war – fast unpassend schnell. Jetzt, wo sie es mit den Augen des Vaters sah, wurde sie zaghaft; gleichzeitig aber mußte sie lachen.

Er sollte nur wissen, wo sie heute abend gewesen waren.

»Du hast gestern ja selbst gesagt, daß Svend Byge ein vorzüglicher junger Mann sei,« verteidigte sie sich.

»Wirklich? Aber darin liegt doch keine Aufforderung für meine Tochter, sich mit ihm zu verloben.«

Ellen lachte wieder.

»Was hast du denn gegen ihn?«

»Gott bewahre, ich habe gar nichts gegen ihn. Nur kennen weder du noch ich ihn näher.«

Der Departementschef erhob sich und begann mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab zu gehen. Da wußte Ellen, daß die Einräumungen nicht fern seien.

»Er hat sein Referendarexamen und hat ein nettes, wohlerzogenes Benehmen. Das gebe ich gern zu, aber –«

»Du meinst, er ist nichts und hat nichts.«

Der Departementschef blieb stehen und wandte sich ihr würdig zu:

»Möchtest du nicht lieber zuhören, anstatt zu erraten, was ich sagen will, Fräulein Naseweis. Das wollte ich nämlich gar nicht sagen. Im Gegenteil.«

Der Departementschef begann wieder hin und her zu gehen.

»Man sagt, daß Svend Byge den Konferenzrat –« er besann sich und hielt inne. »Was ich sagen wollte, Byge ist ja der Neffe und das Mündel des alten Konferenzrats Kasper Byge, also aus sehr guter Familie.«

Ellen war schläfrig und mußte ein unzeitgemäßes Gähnen unterdrücken. Um ihren Vater davon abzuhalten, sich auszubreiten, wie es seine Gewohnheit war, wenn die Rede auf Familienverhältnisse kam, beeilte sie sich zu sagen:

»Aber Papa, es ist doch wahr, daß er nichts hat.«

Der Departementschef blieb wieder stehen und sagte mit Würde: »Ein Referendar aus guter Familie, das ist gar nicht so wenig. Die ganze Welt steht ihm in Dänemark offen.«

Ellen trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, und jetzt gähnte sie ganz ungeniert.

»Ja, ja – wir können morgen weiter über die Sache sprechen!« sagte der Departementschef. »Hoffentlich wird sich etwas für euch finden. Ihr habt ja Zeit zum Warten. Die Hauptsache, mein Kind, ist –« er faßte sie unters Kinn und hob ihren Kopf in die Höhe, während er ihr forschend in die Augen blickte – »die Hauptsache ist, daß auf beiden Seiten eine – äh – eine ernste und wohlüberlegte Zuneigung besteht, die –«

»Ich bin so müde, Papa –«

»Ja, ja! – Gute Nacht, mein liebes Kind.«

Der Departementschef faßte sie um den Kopf und küßte sie auf die Stirn.

Ellen sah zu ihm auf. Es war etwas in seinem Auge, etwas Gemütvolles, was sie nur selten sah. Sie legte den Arm um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund.

Er war etwas erschrocken und klopfte ihr wie abwehrend aufs Haar.

»Gute Nacht, Ellen,« sagte er und begleitete sie zur Tür.

Dort wandte sie sich um und sagte mit lächelnden Augen:

»Ich glaube, du kannst ihn in den nächsten Tagen erwarten.«

Der Departementschef überlegte rasch. Dann sagte er:

»Laß ihn nicht wissen, daß du bereits mit mir gesprochen hast.«


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