Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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9

Während des Ferienbesuches hatte Svends Mutter ihn gebeten, der Konferenzrätin einen Besuch zu machen.

Zuerst hatte er es rundweg abgeschlagen. Er fühlte sich durch ihren Brief aufs tiefste gekränkt. An ihr war es, ihm zu erkennen zu geben, daß es nicht so bös gemeint war.

Sie hatte während mehrerer Wintermonate in der Stadt gewohnt. Hätte sie nur das geringste Interesse für ihn, ihren Verwandten, der den Namen Byge trug, gehabt, wäre es doch selbstverständlich gewesen, daß sie ihm eine Einladung geschickt hätte. Aber nichts dergleichen war geschehen.

Erst als seine Mutter, Gerdas wegen, in ihn drang und ihm vorstellte, welche Vorteile es für die Zukunft seiner Schwester haben könne, wenn die Konferenzrätin sie kennen lernte – erst da ließ er sich überreden, mit Gerda einen Besuch dort zu machen, wenn die Schwester, wie bestimmt, in den Weihnachtsferien zu Tante Amalie in Kopenhagen zu Besuch käme.

Die Konferenzrätin wohnte in einer alten Villa in der Vorstadt, die sie nach dem Tode ihres Mannes gekauft hatte.

Der Gesellschaftssoldat, den Svend von seinem ersten Besuch her kannte, machte ihnen die Tür auf.

Zuerst schien sie ihn nicht wiederzuerkennen; erst nachdem er seine Karte abgegeben hatte, ging es wie ein Erkennen über ihre steifen Züge. Sie öffnete ihre strengen Augen weit, und musterte ihn und seine Schwester. Als sie nach einer geraumen Wartezeit im Entree schließlich hereingelassen wurden, erinnerte Svend sich so lebhaft seines ersten Besuches, daß sein Herz heftig zu klopfen anfing.

Die beiden Geschwister standen auf dem Teppich und sahen zu der Chaiselongue hinüber, auf der die Konferenzrätin ausgestreckt lag, mit einer Decke über den Füßen. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich erheben, unterließ es aber und streckte die Hand aus.

»Bitte treten Sie näher,« sagte sie.

Sie näherten sich auf dem Teppich. Svend warf den Kopf in den Nacken; das Blut stieg ihm in die Wangen, er fühlte von neuem ihre mißtrauische Kälte, erinnerte sich ihres demütigenden Briefes und bereute heftig, daß er sich zu diesem Besuch hatte überreden lassen.

Die braunen, stechenden Augen waren forschend auf sein Gesicht gerichtet, als erwarte sie eine Erklärung.

Er mußte ja etwas sagen, und schließlich faßte er sich soweit, daß er einen Satz hervorbrachte:

»Mutter hat mich gebeten, Ihnen einen Gruß zu überbringen, Frau Konferenzrat, und – und –«

Wie war diese Situation demütigend! – Hier stand er und zeigte seine Schwester vor, damit Ihre Gnaden auch für diesen unwürdigen Sprößling Interesse fassen sollte.

Dazu waren sie beide wirklich zu gut!

Da lag sie und betrachtete sie und wartete darauf, wie sie ihre Zudringlichkeit entschuldigen würden. Die braunen Augen waren klug genug, sie hatten die Absicht seiner Mutter sofort durchschaut.

Da machte er kurzen Prozeß.

Gut! Keine unnötigen Kunststücke mit Heuchelei und lügenhaftem Lächeln und falschen Worten.

»Und ich sollte Ihnen meine Schwester Gerda vorstellen,« fügte er kurz hinzu.

Eine leichte Röte stieg in die Wangen der Konferenzrätin. Svend sah es gleich. Sie hatte ihn also verstanden.

Es schimmerte etwas wie ein Lächeln in den Augen der Konferenzrätin, indem sie Gerda, die verlegen da stand, die Hand reichte.

Sie sagte nicht: »Ich freue mich, dich kennen zu lernen!« oder dergleichen. Sie sagte nur:

»Wie alt sind Sie denn?«

Gerda sagte ihr Alter.

Es entstand eine lange Pause, und die Konferenzrätin sah von einem zum andern, als erwarte sie mehr. Auch ihr schien die Situation peinlich zu sein.

»Sind Sie bei Ihrem Bruder zu Besuch?« fragte sie, als keines der Geschwister Miene machte, etwas zu sagen.

»Nein, ich bin bei Tante Amalie zu Besuch,« sagte Gerda und schlug ihre klaren Augen auf.

»Sie sehen sich wohl tüchtig in Kopenhagen um – Museen und Theater und dergleichen. Ihr Bruder kann Sie ja führen.«

»Sie kennen die Stadt wohl schon in- und auswendig?« fügte sie zu Svend gewendet, kalt hinzu.

Sollte das eine Spitzfindigkeit sein? – Meinte sie vielleicht, daß er nicht genug arbeitete? – Svend hatte nicht das beste Gewissen und war deshalb empfindlich in diesem Punkt.

»O ja, ich kenne die Stadt recht gut!« sagte er.

Mag sie glauben, was sie will, dachte er und warf den Kopf in den Nacken.

Die Konferenzrätin beachtete seine Antwort nicht. Sie wandte sich wieder an Gerda und sagte freundlich:

»Ich bin leidend, wie Sie vielleicht wissen. Ich mache keine Gesellschaften mit und sehe keine Gäste bei mir. Einem jungen Mädchen kann ich leider nichts bieten.«

Gerda wußte nichts zu antworten und lächelte nur. Es setzte sie in Verlegenheit, daß man wie zu einer Erwachsenen mit ihr sprach. Und als die Konferenzrätin jetzt nickte und die Hand ausstreckte, beeilte sie sich adieu zu sagen.

Als Svend mit einer kurzen Verbeugung die kühle, weiße Hand nahm, die auch ihm gereicht wurde, sagte die Konferenzrätin – und ihr Ton war jetzt wieder kalt und formell:

»Grüßen Sie Ihre Mutter, wenn Sie schreiben.«

Als sie wieder vor der dichten Dornenhecke standen, die die Villa mit ihren toten Fenstern und der kalten Mauer von der Außenwelt abschloß – Svend erschien es wie ein Symbol –, atmeten sie beide erleichtert auf.

»Ich schwöre, daß ich keinen Fuß wieder in das Haus des alten Drachens setze!« sagte Svend und schüttelte dies von sich ab.

Wenn Svend sich durch die Konferenzrätin gedemütigt fühlte, so wurde er durch die besondere Achtung, die ihm von seinen Studiengenossen bewiesen wurde, entschädigt. Man betrachtete ihn allgemein als Neffen und Pflegesohn des alten Politikers, und seine Gesellschaft wurde von denen, die aus strebsamen Häusern stammten und von Kindheit auf daran gewöhnt waren, sich an einflußreiche Bekannte zu halten, gesucht.

Zu Anfang protestierte Svend ärgerlich gegen den »Pflegesohn« und lächelte gutmütig, wenn einer der Kameraden ihn in lustiger Stimmung den »Millionenerben« nannte und ihn daraufhin anpumpen wollte; da man seinen Protest aber für Bescheidenheit hielt oder für berechnende Diplomatie, um sich jedem Anpumpen zu entziehen, so ließ er sie glauben, was sie wollten.

Gegen die Geselligkeit konnte er sich nicht wehren. Er war von Natur heiter und lebenslustig, und hatte er zu der einen Balleinladung ja gesagt, konnte er zu der anderen nicht nein sagen. Wenn er dann nach reichlich genossenem Wein heimkehren wollte, führte sein Temperament ihn häufig in abgelegne, schlecht erleuchtete Seitenstraßen zu nächtlichen Abenteuern, die er am nächsten Tage mit einem üblen Nachgeschmack im Munde bitter bereute.

Nach und nach kam er in ein richtiges Vergnügungstreiben hinein, das seine Arbeitskraft hemmte und von reuevollen Morgenstunden unterbrochen wurde, wo sein freier Geist, mehr noch als das Pflichtgefühl gegen Onkel Kasper, ihm die heftigsten Vorwürfe machte. Da Svends Mittel keineswegs für die Anforderungen, die die Geselligkeit an ihn stellten, ausreichten, so sah er keinen anderen Ausweg, als seine Finanzen durch Stundengeben aufzubessern. Dank seiner guten Verbindungen bekam er bald so viel Nachhilfestunden, daß seine Einnahmen sich verdoppelten. Aber auch darunter hatten seine Studien zu leiden.

Unwillkürlich formten Svends Ansichten sich nach den herrschenden Meinungen in den Kreisen, in denen er verkehrte. Das machte sich ganz von selbst so.

Die alten einflußreichen Herren betrachteten den aufmerksam lauschenden jungen Byge mit den großen hellen Augen und dem stolzen Nacken voller Wohlgefallen, ja, sie hielten ihn ihren eigenen Kindern wohl gar als Beispiel vor.

Der angeborene Starrsinn, der in Svends Wesen lag – Onkel Kasper mit seiner genauen Kenntnis der schwachen und starken Eigenschaften des Geschlechts, hatte ihn gleich richtig erkannt – wurde jedesmal heftig gereizt, wenn er in den Zeitungen las, wie die radikalen Anschauungen gegen das ererbte politische System Sturm liefen.

In seinem Bewußtsein war die ererbte, siegreiche Politik der Vergangenheit mit der Vorstellung von Onkel Kaspers Tätigkeit verwebt. Ein Angriff auf diese Vergangenheit kränkte sein Pietätsgefühl und erschien ihm fast wie eine persönliche Beleidigung gegen seinen Onkel.

Kurz gesagt: Svend war, ohne es zu wissen und zu wollen, in das Protokoll der Reaktion eingeschrieben worden.


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