Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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6

Svend und seine Mutter hatten den Brief des Konferenzrates so verstanden, daß Svend sein Gast sein sollte. Er war deshalb sehr erstaunt, als der Alte fragte, wo er eingekehrt sei. Etwas verlegen beeilte er sich zu sagen, daß er seinen Koffer vorläufig am Bahnhof gelassen habe, bis er ein billiges Hotel gefunden hätte.

»Meine Frau ist leidend, wie du wohl weißt; ihre Nerven sind angegriffen!« sagte der Konferenzrat gleichsam entschuldigend, mit einem forschenden Seitenblick. »Sie verträgt keine Abweichung vom Täglichen. Sonst hätte ich dich ja gern – äh – für einige Tage als unseren Gast behalten. Aber kehre im Hotel ›Skandinavien‹ ein, dort ist es gut und billig und sage dem Wirt, daß er mir die Rechnung schicken soll. – Mach jetzt einen Spaziergang, Freundchen! sieh dir die Stadt an, und komm zu Mittag zu uns; wir essen präzise sechs Uhr.«


In dem großen, altmodisch möblierten Salon war alles steif, korrekt, langweilig – von den langen, dunklen Gardinen vor den Fenstern, durch die man über den Garten auf einen großen Zimmerplatz blickte, bis zu den alten holländischen Stilleben, die in düsteren Rahmen symmetrisch an der Wand hingen.

Die Konferenzrätin war viel jünger als ihr Mann, kaum fünfzig. Sie war gewiß einmal schön gewesen. Die Züge waren regelmäßig, die Haltung vornehm. Als der Konferenzrat Svend hereinführte und ihn ihr mit einer gewissen Vorsicht vorstellte:

»Sieh, das ist Jörgens Sohn, von dem ich dir erzählt habe!« – da erhob die Dame sich mit Beschwer aus dem Sofa und reichte ihm eine kühle Hand, während sie ihn scharf mit braunen, stechenden Augen musterte.

Svend machte eine Verbeugung und wußte nicht, was er sagen sollte. Er fühlte, wie er unter ihrem Blick errötete.

Es war, als verbreite sie Kälte um sich her.

Onkel Kasper trippelte sichtbar nervös durchs Zimmer, während er unablässig seine kleinen Hände rieb. Wiederholt klopfte er Svend auf die Schulter. Es war, als empfinde er selbst die Kälte im Zimmer, und wolle Svend dafür schadlos halten.

Niemand sagte etwas. Der einzige Laut, der zu hören war, kam von zwei Filierstöcken, die mit regelmäßigen Zwischenräumen gegeneinander klapperten. Eine ältliche, soldatengerade Gesellschaftsdame saß mit einer großen Brille auf ihrer spitzen Nase am Fenster und filierte mit erstaunlicher, beleidigter Hast.

Onkel Kasper hatte gerade ihren Namen genannt – Fräulein so und so. Svend hatte ihn in seiner Verlegenheit nicht verstanden. Er sah nur, daß die lange Gestalt am Fenster wie auf Kommando in die Höhe schoß, als die Konferenzrätin sich im Sofa erhob.

»Hu,« dachte Svend und ihm schauderte – »der Alte hat es nicht sonderlich gemütlich!« Da meldete ein blitzsauberes Stubenmädchen, das ebenso vornehm aussah wie die anderen, daß angerichtet sei.

Etwas so Steifes und Furchteinflößendes wie dieses Mittagessen hatte Svend noch nie mitgemacht.

Es war fast wie im Examen, nur daß Svend sich damals im Gefühl seines Wissens freimütiger gefühlt hatte. Selbst Onkel Kasper verzichtete auf jegliche Konversation und wurde ganz still und fremd an dem großen, vornehmen, eiskalten Tisch mit der Konferenzrätin und dem Gesellschaftssoldaten.

Jedesmal wenn er von seinem Teller aufzublicken wagte, begegnete er dem prüfenden Blick aus den braunen, stechenden Augen der Konferenzrätin; weder ein Engel noch ein Teufel hätte ihn dazu vermocht, sie Tante zu nennen.

Noch lange, lange nachher erinnerte er sich dieses Mittags und dieses Blickes; und wenn er sich zu erklären versuchte, was dieser Blick eigentlich enthielt, so schien es ihm, als hätte er bei ihm nach Berechnung und Hintergedanken gesucht; und als er später begriff, welche Demütigung er enthalten hatte, da geriet er jedesmal bei dem Gedanken daran in Wut.

Das arme Familienmitglied, das es auf das Geld des reichen Onkels abgesehen hatte! – Jawohl, das hatte in ihrem Blick gelegen.

Noch zweimal besuchte Svend den Konferenzrat, der mit jedem Mal milder und freundlicher gegen ihn wurde, und schließlich rang Svend sich zu einem Entschluß durch, nachdem er auch von seiner Mutter, die Unrat witterte, einen langen, eindringlichen Brief bekommen hatte, mehr an die Zukunft als an den Augenblick zu denken, mehr auf das Urteil des Alters und der Erfahrung als auf sein eigenes zu bauen. Als er zum letztenmal in Onkel Kaspers Kontor stand und ihm mitteilte, daß er Jura studieren wolle, um nach beendigtem Examen sich ganz seinen Studien zu widmen – da rieb der Alte, der selbst ein hervorragender Jurist gewesen war, bevor er sich als Agrarier und Patriot für die Politik seines Landes opferte, vergnügt die kleinen Hände und sagte:

»Das ist eine gute Wahl, Freundchen!« Und er fügte mit einem warmen Glanz in den Augen jene Worte hinzu, die in Svends späterem Leben noch eine große Bedeutung bekommen sollten:

»Du sollst es nicht bereuen – wenn du Wort hältst und ein gutes Examen machst!«

Er wandte sich ab, und Svend schien es, daß er dadurch seine plötzliche Rührung verbergen wolle.

Dann beredeten sie, wie Svend sich am besten für den ziemlich beschränkten Betrag, den er sich monatlich bei Onkel Kaspers Bankier abholen sollte, einzurichten habe. Der Alte ermahnte ihn zur Sparsamkeit, und als spräche er von einer Familienerfahrung, die er einst auf eigene oder anderer Kosten teuer zu bezahlen gehabt hatte, fügte er hinzu:

»Vergleiche dich nie mit denen, die mehr haben als du. Glaube nicht, daß sie darum glücklicher sind als du; das kann man niemandem vom Gesicht ablesen, und jeder hat seine Sorgen. Versuche nicht mit denen zu wetteifern, sondern halte dich an das Deine. Du weißt wohl, Freundchen, solange man nicht schwimmen kann, soll man sich nicht ins tiefe Wasser wagen. Und eines will ich dir vor allen Dingen ans Herz legen: Mache nie Schulden und stürze dich nicht in eine Ausgabe, die du später vom Notwendigen abziehen mußt.«

Noch eines wollte Onkel Kasper ihm sagen. Es schien ihm schwer zu fallen; – er räusperte sich mehrere Male, aber erst als Svend bereits im Vorzimmer stand, mit dem Drücker in der Hand, den Lars repariert hatte, brachte er es heraus.

Während er seine Brille abnahm, die er umständlich putzte, sagte er:

»Siehst du, Svend, ich bin ja ein alter Mann, und mit meiner Gesundheit ist es nicht weit her. Darum wollte ich dir nur zu deiner Beruhigung sagen – äh – daß ich meine Frau von dem zwischen uns Vereinbarten in Kenntnis setzen werde, damit du meinen Tod nicht zu fürchten brauchst. Der soll nichts an der – äh – Unterstützung ändern.«

Svend war gerührt. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Er meinte, daß es der Gedanke an den eigenen Tod sei, weshalb der Alte so vorsichtig, so gleichsam jedes Wort wägend, sprach.

Als er zum letztenmal des Onkels Hand drückte und sich zum Gehen wandte, wurde an der hinfälligen Glocke geläutet.

Svend beeilte sich zu öffnen; ein graubärtiger, munter aussehender Herr, mit einer sehr kräftigen Stimme, begrüßte den Konferenzrat aufs herzlichste, der sichtlich durch den Besuch belebt wurde.

Der Konferenzrat zog Svend wieder ins Zimmer herein und sagte mit einem Familienstolz, der Svend schmeichelte und ihn veranlaßte, sein artiges Wesen recht zu zeigen:

»Sehen Sie her, General – wissen Sie, wer dieser junge Mann ist?«

Der General musterte Svend mit wohlwollend zwinkernden Augen.

»Das ist ein Sohn von Jörgen – Jörgen Byge, dem Architekten, der auf so traurige Weise ums Leben kam. Sie haben ihn doch in früheren Jahren bei mir getroffen?«

»Ob ich Jörgen Byge gekannt habe!« Der General warf den Kopf zurück, sein Gesicht war ernst geworden. Er drückte Svend die Hand, indem er ihm fest ins Auge sah:

»Sie haben einen ausgezeichneten Vater gehabt, junger Mann. Werden Sie ihm ein würdiger Sohn.«

Svend bekam einen dunkelroten Kopf, und die aufsteigende Rührung übermannte ihn fast. Onkel Kasper klopfte ihm liebevoll die Schulter:

»Wir haben eben eine längere Unterredung wegen unserer Zukunft gehabt. Wir haben uns entschlossen, Jura zu studieren und nach fünf Jahren ein gutes Examen zu machen.«

Der General war jetzt wieder heiter. Er kniff das eine Auge zu und fragte schelmisch: »Und dann?«

»Das wird die Zukunft zeigen!« sagte Onkel Kasper kurz, gleichsam zurechtweisend.

Dann wandte er sich zu Svend, drückte noch einmal seine Hand und sagte:

»Also lebe wohl, lieber Svend! – Grüße deine Mutter – und Gott mit dir!«

Svend dankte noch einmal. Dann verabschiedete er sich vom General und ging hinaus.


Er sah Onkel Kasper nie wieder. Einen Monat nach Svends Besuch siedelte der Konferenzrat nach dem Familiengut in Jütland über. Seine Frau hatte das Stadtleben und die geselligen Verpflichtungen satt, und Onkel Kasper, der das Land liebte und sich nur notgedrungen in der Hauptstadt aufhielt, hoffte, daß die frische Herbstluft seinem geschwächten Stoffwechsel gut sein würde.

Als die Erntezeit vorbei war und die Luft anfing rauh zu werden, erkältete Onkel Kasper sich bei einem Ritt. Die Erkältung artete in eine heftige Nierenentzündung aus, und eine Woche später war er tot.


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