Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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16

An einem Dienstag Morgen kam Svend in Kopenhagen an, nachdem er die ganze Nacht durchgefahren war. Er ließ sein Gepäck am Bahnhof und eilte in die Stadt, um sich so schnell wie möglich ein Zimmer zu suchen.

Es war ihm eine Enttäuschung, daß Agnete nicht am Bahnhof gewesen war, aber er kannte ja ihre Gewohnheit, lange im Bett zu liegen, vielleicht hatte sie die Zeit verschlafen.

Da geschah es, während er in den Morgenstunden nach Zeitungsannoncen von Haus zu Haus suchte, daß ihm alles, was er sah, so fremd, so feindlich und ungemütlich vorkam, daß er seiner Sehnsucht nach dem Altbekannten nicht widerstehen konnte.

Mit klopfendem Herzen lief er die bekannten Treppen hinauf und läutete.

Ein Herr, der im Begriff stand, fortzugehen, öffnete ihm die Tür. Es war eine hohe, ziemlich starke und recht elegante Erscheinung. Es lag eine gewisse respekteinflößende Selbstsicherheit über dieser Persönlichkeit mit dem energischen Blick.

Sie maßen einander einen Augenblick. Svend erriet, daß es der Pensionär sei, der sein altes Zimmer bekommen hatte. Ein instinktiver Unwillen gegen diesen Fremden bemächtigte sich seiner sofort, und als ob der andere durch eine Gedankenübertragung ebenfalls klar darüber geworden sei, wen er vor sich hatte, richtete er sich unwillkürlich höher auf, griff nachlässig an den Hut und ließ Svend an sich vorbeigehen.

Im selben Augenblick kam Frau Jensen aus der Küche. Als sie Svend erkannte, schlug sie in aufrichtiger Freude die Hände zusammen.

»Nein, sieh nur einer an, Herr Byge!«

Indem Svend die Flurtür schloß, nachdem er Frau Jensen die Hand gedrückt hatte, sah er, daß der Fremde auf dem Treppenabsatz stehen geblieben war, wahrscheinlich um seinen Namen zu hören und Zeuge der Begrüßung zu sein.

»Wer war der Herr?« fragte Svend.

»Das ist der Herr, der Ihr Zimmer bekommen hat und das von Herrn Graulund auch, der ausgezogen ist. Ein reizender Mensch, Holzhändler – Herr Christensen – und sehr gut situiert!« fügte Frau Jensen mit einem respektvollen Ausdruck in ihren runden Augen hinzu.

Als sie den Unwillen in Svends Gesicht sah, beeilte sie sich hinzuzufügen:

»Wie ich immer zu Frau Grönvold sage: Herr Christensen ist ein reizender Mensch, sage ich immer, gebildet und so – aber mit Herrn Byge kann er es nicht aufnehmen.«

Während sie ihm unter wortreichem Geplauder beim Abnehmen behilflich war, dachte Svend nur an das eine, ob Agnete zu Hause sei und wie sie ihn empfangen würde.

Frau Jensen wußte sofort, wo seine Gedanken weilten.

»Wir haben Sie alle sehr entbehrt, das können Sie mir glauben. Frau Grönvold wollte Sie sogar von der Bahn abholen, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, an welchem Tag Sie kommen wollten. Wir meinten alle, Sie würden erst morgen kommen.«

Svend ging es wie ein Stich durchs Herz.

»Ist Frau Grönvold zu Hause?« fragte er.

»Ja, freilich! – Sie wissen doch, Herr Byge, daß Frau Grönvold kein Frühaufsteher ist,« – Frau Jensen dämpfte die Stimme –, »ich glaube, sie schläft noch.«

»Sie ist gestern abend wohl spät nach Hause gekommen?« fragte er und versuchte im Halbdunkel des Entrees in Frau Jensens Zügen zu lesen.

Die gutmütige, kugelrunde Dame versuchte ebenfalls in seinen Augen zu lesen. Sie machte einen eiligen Überschlag, was sie wohl sagen dürfe. Er bekam es ja doch zu wissen; es schadete also nichts, wenn er etwas vorbereitet war.

»Lassen Sie mal sehen!« sagte sie und drückte ihre fette Hand nachdenklich gegen das Ohr – »ja, richtig, Frau Grönvold und Herr Christensen waren gestern abend zusammen aus.«

Dann beeilte sie sich ihre Worte abzuschwächen:

»Eine alleinstehende Dame kann ja ohne Begleitung nirgends hingehen. Gott, sollte man nicht ein wenig ausgehen und sich amüsieren, solange man jung ist! Und so war es ja auch zu Herrn Byges Zeiten.«

Svend antwortete nicht.

»Ja, sie waren im Theater,« fuhr Frau Jensen fort, »und wenn man hinterher noch etwas zu Abend ißt, dann wird es ja leicht spät; das kennen Sie ja auch, nicht, Herr Byge?«

Oh, ja – das kannte er auch, das war ebenso wie zu seiner Zeit. Nichts hatte sich verändert – nur der Name und die Stellung. Früher war es ein armer Student, der begleitete, jetzt ein gutsituierter Kaufmann, der einlud.

Wie der Gedanke schmerzte! Svend sah die hohe, selbstbewußte Gestalt vor sich und konnte nicht umhin, sich mit ihr zu vergleichen.

Frau Jensen wollte ihm durchaus gleich ein Frühstück bereiten. Er müsse ja nach der durchreisten Nacht ganz ausgehungert sein. Es half nichts, daß er protestierte, er mußte sich im Eßzimmer niederlassen.

»Entschuldigen Sie mich nur einen Augenblick, Herr Byge, das Mädchen ist krank, und ich will nur eben zur nächsten Ecke zum Krämer laufen.«

Sie band die Schürze ab und setzte den Morgenhut auf. »Sie sind wohl so freundlich und machen die Tür auf, wenn inzwischen jemand klingelt,« sagte sie und war aus der Tür.

 

Svend wußte, daß die Pensionäre zu dieser Zeit fortgegangen und Frau Jensens Sohn schon lange im Geschäft war. Er und Agnete waren also allein in der Wohnung.

Er überlegte einen Augenblick. Dann ging er an ihre Tür und lauschte. Es war ganz still drinnen.

Er klopfte an. Als nicht geantwortet wurde, öffnete er die Tür und trat ein.

Die dunklen Gardinen waren vorgezogen, so daß nur ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer fiel. Das bekannte Parfüm, daß ihm entgegenschlug, machte sofort alle Erinnerungen in ihm lebendig.

Da lag sie in der Stellung, die er so gut kannte, ihre Wange ruhte auf ihrem rechten Unterarm. Die vollen roten Lippen zitterten im Schlaf. Das rotblonde Haar breitete sich in wirrer Fülle über Hals und Schultern.

Das war der schöne, kräftige Kopf, den er so oft zwischen seinen Händen gehalten, die weichen Lippen, die so oft den seinen entgegengebebt hatten.

Er wollte sie gerade beim Namen rufen, als sein Blick auf einen Zettel fiel, der auf der Tischdecke lag. Mit Bleistift war in großen, kräftigen Zügen etwas darauf geschrieben. Er beugte sich herab, um es zu lesen.

»Hol' mich im Geschäft ab, dann essen wir irgendwo draußen zu Mittag. Hast du Lust?«

Wie tat das weh! Er sank fast dabei in die Knie.

Dann schoß ihm das Blut gewaltsam in die Wangen. Er sah sie an, wie sie dalag und schlief. Und er erinnerte sich, was sie einmal von der günstigen Wohnung gesagt hatte. Er hatte es für Scherz genommen, es war aber im Ernst so gekommen. So war sie also.

Wie er sie dort in tiefem Schlaf nach einer Liebesnacht liegen sah, wurde ihm klar, daß er es war, der nicht hatte verstehen können oder wollen.

Hatte sie ihm nicht gleich am ersten Abend gesagt, daß sie glücklich sei, durch die Scheidung ihre Freiheit wiedergewonnen zu haben? Hatte sie ihn nicht immer zurückgewiesen, wenn er von der Zukunft sprach, hatte sie ihn nicht beständig dazu aufgefordert, den Augenblick zu genießen?

Wenn sie nun erwachte, was würde sie dann sagen? Würde sie ihm alles freiwillig erzählen? Würde sie sich mit seiner Abwesenheit entschuldigen? Würde sie anbieten, zu ihm zurückzukehren?

Und er selbst – was sollte er sagen? Er hatte kein Recht, ihr etwas vorzuwerfen. Sie hatte ihm ja nie etwas versprochen und darum auch kein Versprechen gebrochen.

Eine plötzliche Angst vor einer Aussprache mit ihr überwältigte ihn – er fürchtete, daß er die Herrschaft über sich selbst verlieren könnte, oder daß er, von den Erinnerungen überwältigt, die Gewißheit für einen Augenblick vergessen und sie in seine Arme nehmen, daß sie ihm aus Mitleid Liebkosungen schenken würde, die ihm nicht mehr gehörten und nicht in ihrer Seele wurzelten.

Nein, er wollte fort. Am liebsten gar keine Worte über etwas verlieren, was ja doch weder Worte noch Liebkosungen verwischen konnten.

Indem er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf die Tür zu seinem alten Zimmer – die Tür, durch die sie so oft gegangen waren. Er wollte Gewißheit haben. Er schlich sich um den Tisch zur Tür. Dort blieb er einen Augenblick stehen und hielt den Atem an, dann faßte er nach der Türklinke. Ja, die Tür war unverschlossen.

Er wandte sich noch einmal um und sah sie an. Und wie er dort auf dem heimlichen Wege ihrer Liebe stand, wich seine Bitterkeit plötzlich einem unbeherrschten Zorn.

Er ging eiligst in sein altes Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Dort stand er und lauschte mit klopfendem Herzen.

Nein – er konnte jetzt nicht mit Frau Jensen sprechen; er konnte es nicht ertragen, ihre neugierigen Augen auf sich gerichtet zu fühlen.

Sie war zurückgekommen; er hörte sie in der Küche hantieren; noch war es Zeit sich fortzuschleichen.

In einer Sekunde hatte er die Tür erreicht und war draußen im Entree. In der bekannten Umgebung fand er ohne weiteres seinen Hut und Paletot.

Er öffnete die Etagentür, hörte Frau Jensens Schritte in der Küche, schlüpfte hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

So schnell seine Beine ihn tragen wollten, stürmte er die Treppe hinunter. Als er zum letzten Absatz gekommen war, hörte er, wie oben die Etagentür geöffnet wurde. Er drückte sich gegen die Wand, damit sie ihn nicht über das Geländer erspähen konnte.

Im nächsten Augenblick stand er auf der Straße und beeilte sich, hart an der Häuserreihe entlang die nächste Ecke zu erreichen.

Er war fest entschlossen, seine Füße nie wieder in dies Haus zu setzen; er wollte alles und jedes vermeiden, das ihn an die Zeit, die er dort verbracht hatte, erinnern konnte.


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