Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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2

Svend besuchte in den Schulferien seine Großeltern auf dem alten Stammhof der Byges bei dem Städtchen Fjordby, dicht an der deutschen Grenze.

Es waren erst wenige Jahre seit dem Kriege mit Deutschland vergangen; die Haut, die über die Wunden gewachsen war, war noch dünn und empfindlich.

Sein Großvater, ein kleiner, gebückter Mann mit milden, blauen Augen, ging mit dem Knaben an der Hand durch das Gehölz, das den großen Obstgarten von den Wiesen trennte.

Hier blieb er bei den Weiden stehen, die über die Anpflanzung hinausragten, und erzählte dem Knaben von jenem Abend, als er von der Patrouille des Feindes ergriffen wurde, die ihn beschuldigte, den Kanonenbooten, die draußen im Fahrwasser kreuzten, signalisiert zu haben.

Während er so stand und auf den Belt hinausstarrte, bemerkte Svend, wie seine milden Augen hart wurden. Plötzlich legte sich eine dünne, klare Haut darüber, und eine Träne schlich sich über die tiefe Furche in der Wange.

Erst viele Jahre später verstand Svend, was sein Großvater empfunden hatte. Damals wunderte er sich nur über die Träne, denn es war das erstemal, daß er einen erwachsenen Mann weinen sah.

Eine halbe Meile von der Küste und dem Hauptgutshof entfernt – am Rande des Waldes – lag »das alte Haus«.

So wurde es genannt, weil sein Urgroßvater – »der mit dem vielen Geld«, wie Mamsell Andersen sagte, er hing im blauen Frack, mit Halskrause und großem Ordensband über Großvaters Schreibtisch – es als Wohnsitz für seine Witwe gebaut hatte. Urgroßmutter hatte dort bis zu ihrem Tode gewohnt, aber jetzt stand das Haus leer; und Großmutter wollte dort nicht wohnen, wenn sie Witwe würde, das hatte sie häufig erklärt.

Es war Svends größtes Vergnügen, mit dem Großknecht nach dem Moor zu fahren, dem äußersten Zubehör des Gutshofes.

Dort, auf der anderen Seite der Landstraße mit den tiefen, lehmigen Wagenspuren, lag »das alte Haus« in dem wildverwachsenen Garten.

Das Haus war unbewohnt, aber vollständig möbliert, alte, steile, gebrechliche, stumme Möbel, die alles gesehen und miterlebt zu haben schienen.

Das hohe Ziegeldach mit der weißen Giebelkante und den beiden verfallenen Schornsteinen hing tief über die niedrige Mauer mit den kleinen Fenstern herab. Es war, als ob ein schwerer Hut über Augen und Ohren herabgeglitten war.

Dicht an der Gartentür standen zwei alte Kastanienbäume. Sie reckten sich über die Schornsteine und ihre Zweige ruhten auf dem Dach. In beiden waren Starkästen, die auch so alt aussahen, als wären sie mit den Bäumen aufgewachsen.

Der Grasplatz mitten im Garten war von einem prächtigen Flor von Butterblumen überwachsen. Alte Kirsch- und Pflaumenbäume drängten sich, um ans Licht zu kommen.

Auf beiden Seiten des Grasplatzes lief ein Gartenweg, der so von Grün überwuchert war, daß man ihn nur sah, weil er tiefer lag als der Rand des Rasens.

Er schlängelte sich ganz bis zur Landstraße hin, mit einer wildwachsenden Buchsbaumhecke auf der rechten Seite. Zur Linken lag eine undurchdringliche Wildnis von Johannis- und Stachelbeerbüschen, deren Beeren klein und verkrüppelt waren.

Viele der Büsche waren vor Alter abgestorben, so daß der holzige Hauptstamm nackt in die Höhe ragte und seine armseligen Äste wie Totengebein mitten in der Fruchtbarkeit des Lebens durch die Wildnis streckte.

Der Sauerampfer, der einst das Stachelbeerbeet eingehegt hatte, war riesenhaft groß geworden, zu reinen Sträuchern, die sich über den ganzen Garten verbreitet hatten; wo man ging, watete man in Sauerampfer.

Oh, es war ein herrlicher, ein geradezu göttlicher Garten! Und etwas Ähnliches an Vogelgezwitscher konnte man lange suchen.

In diesem alten Garten ging Svend eines Sommernachmittags mit seinem Vater und seinem Großvater.

Von dem Grasplatz unter den halbwilden Obstbäumen zeigte Großvater durch das offene Fenster in die alte Stube hinein.

»Kannst du das Bild dort in dem vergoldeten Rahmen sehen?« fragte er.

Svend konnte einen Mann mit gebogener Nase, blauen Augen, einem roten Uniformfrack und einem breiten, blauen Seidenband über der Brust erkennen.

»Das ist der König – der alte König! Dieses Bild hat dein Urgroßvater von ihm selbst geschenkt bekommen, weil er ihm Geld geliehen hatte, damit er dafür Schiffe bauen konnte, als das Land in Not war.«

Svends Herz schwoll. Er trat ans Fenster, um den vornehmen Mann genau zu betrachten.

»Weshalb hängt er nicht zu Hause im Wohnzimmer?« fragte er.

»Weil Urgroßmutter wollte, daß er in Urgroßvaters Zimmer hängen bleiben sollte.«

»Ist dies denn Urgroßvaters Zimmer?« fragte Svend und sah durch das Fenster zu der alten Schatulle und den zierlichen Stühlen mit den steifen Beinen hinein.

»Ja, so sah es aus, als er starb.«

Svends Phantasie arbeitete. Wahrend Großvater mit seinem Vater von dem Dach sprach, das ausgebessert werden mußte, dachte er an Urgroßvaters Bild zu Hause an der Wohnzimmerwand. Er nahm ihn aus dem Rahmen und führte ihn zum Bilde des Königs. Er ließ sie sich voreinander verneigen, wie er es auf einem Bilde von zwei alten Herren mit Perücken und Kniehosen gesehen hatte. Er ließ sie sich die Hand geben, und der König bot Urgroßvater eine Prise aus seiner Schnupftabakdose an, klopfte ihm auf die Schulter und sprach vom Vaterland.

»Woran denkst du, Svend?« fragte Großvater.

»An Urgroßvater!« sagte Svend und nahm seine Hand.

»Ja, ja, er war einer der besten Söhne des Vaterlandes.«

Großvater wurden die Augen feucht, und er richtete den Blick fest geradeaus, wie es seine Gewohnheit war. »Mögest du ihm einst ähnlich werden und deinem Vaterlande Dienste leisten wie er es tat!«

Und dann begann Großvater zu erzählen.

Er sprach still wie zu sich selbst vom Urgroßvater und wieder von dessen Vater – was dieser gesagt und was jener getan habe. Er sprach, wie alte Leute zu sprechen pflegen, die von alten Erinnerungen plaudern, wobei die eine immer die andere ablöst.

Svends Vater ging vor ihnen her in seinem weißen Sommeranzug und sah zum Dach hinauf, bald von der einen und bald von der anderen Seite.

Hin und wieder sah er sich mit seinem scharfen Blick zu dem Alten und dem Knaben um; es schimmerte wie ein Lächeln in seinem Bart.

Dann blieb er vor dem Giebel stehen, wo sich einige Mauersteine gelöst hatten.

»Gibt es hier eine Leiter?« fragte er.

Nun mußte Großvater sich unterbrechen, um über die Leiter nachzudenken.

Er seufzte dabei und versuchte so schnell wie möglich zu den alten Zeiten zurückzukehren.

Svends Vater aber sagte erst, während er die Leiter anlegte:

»Ich glaube, man soll sich hüten, Kinder zu fest an das Geschlecht zu knüpfen. Knaben müssen vor allen Dingen lernen, auf sich selbst zu stehen.«

Svend bekam einen roten Kopf vor Widerspruchslust. Er verstand sehr wohl, daß Großvater ihm nicht so viele alte Geschichten erzählen sollte. Aber er wagte nichts zu sagen. Als Großvater sich aber mit der flachen Hand über die Stirn strich, nickte und, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, sagte: »Ja, ja, du magst recht haben; ich bin ja noch aus der alten Zeit, als das Wohl des Geschlechtes dem der Persönlichkeit voranging,« – da nahm Svend seine Hand, zog ihn mit sich über den Rasen, wo Vater ihn nicht hören konnte, und flüsterte ihm zu:

»Die alte Zeit war viel besser!«

Großvater sah zu ihm herab und lächelte mit all seinen Runzeln. Dann strich er ihm mit der Hand übers Haar, wurde wieder ernst und sagte:

»Ja, Gott segne dich, mein Junge!«


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