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33

Sechs verwegene Subjekte, geführt von einem kleinen, dicken, rotgesichtigen Schotten: das war Macpherson mit seiner Mannschaft. Er hatte seine Leute von allen Ecken der Erde aufgelesen: einen Malaien, einen Portugiesen, einen Finnen, einen hünenhaften Goldküsten-Neger, einen Dänen und einen kleinen, schwarzäugigen Neapolitaner.

Man hätte in der ganzen Welt vergeblich nach einer zweiten derartigen Musterkollektion suchen können. Macpherson hatte aber mit der Wahl seiner Leute ganz bestimmte Zwecke verfolgt. Jeder von der Besatzung hatte genügend auf dem Kerbholz, daß er ihn in irgendeinem Hafen der Welt hätte aufhängen lassen können; und damit bot sich ihm eine Handhabe, sie seinem Willen gefügig zu machen. Denn wer würde sich gegen jemand auflehnen, der das Damoklesschwert in den Händen hält?

Diese Galgenvögel begrüßten die zur Brücke herankommende Karawane mit einem Jubelgeschrei.

»Mr. Macpherson?« rief Joseph Simon. »Wo ist Mr. Macpherson?«

»Lassen Sie das Gemister«, ließ sich der Seefahrer vernehmen. »Ich bin Kapitän Macpherson, wenn Sie diesen suchen sollten.«

»Kapitän, schicken Sie uns um Gottes willen Hilfe, um diese Traglasten an Bord Ihres Schiffes zu schaffen.«

»Ich werde meine kontraktlichen Verpflichtungen erfüllen«, versetzte Macpherson, wobei er die Traglasten mit kritischen Blicken musterte. Trotz ihrer Kleinheit waren sie offenbar recht schwer.

»Die Räuber sind uns auf den Fersen«, schrie Simon. »Dort kommen sie heran. Sie reiten wie der Teufel – und Teufel sind es auch. Sie würden uns alle ermorden!«

»Das glaube ich auch«, sagte der Kapitän, indem er seinen runden Hut etwas auf die Seite schob. »Das würden sie zweifellos tun, wenn wir sie nicht zuerst ermordeten. Aber in unserem Kontrakt war von keinem Kampf die Rede. Ich muß meine Forderung erhöhen.«

»Um wieviel?«

»Um das Doppelte.«

»Genehmigt – genehmigt – und außerdem noch fünftausend Dollar, wenn Sie uns alle sicher an Bord bringen und mit uns davondampfen.«

Macpherson erkannte, daß noch weit mehr aus seinem Auftraggeber herauszupressen gewesen wäre, wenn ihn seine Habgier nicht voreilig gemacht hätte. Er hätte das Fünffache – das Zehnfache bekommen können. Aber wenn ein Geschäft erst einmal abgeschlossen war, pflegte er sein Wort zu halten – wenigstens bis zu einer gewissen Grenze. Während die Peons nun die Maulesel auf der Landungsbrücke entlang trieben und die Bande Grenachos bereits durch die Stadt gesprengt kam, befahl Macpherson seiner Mannschaft kräftig zuzupacken und die Fracht an Bord zu schaffen.

»Laßt ja nichts über Bord fallen, ihr Schweine!« brüllte er. »Denn ich will verdammt sein, wenn der Inhalt eines dieser Beutelchen nicht mehr wert ist als zehn solche Mannschaften, wie ihr eine seid.«

In diesem Augenblick wurde sein Arm von einem eisenharten Griff erfaßt. Er wandte sich um und sah den Kid vor sich stehen.

»Wenn Sie ohne mich in See stechen sollten«, sagte der Kid ruhig, »dann bringen Sie diese Dame zu Herrn John Given sen. in New York. sie werden seinen Namen im Adreßbuch finden.«

»Soll ich das etwa um ihrer schönen Augen willen tun?« fragte Macpherson spöttisch.

»Mein Vater wird Ihnen zweimal soviel zahlen, wie Sie verlangen, wenn Sie ihm eine Nachricht von seinem Sohne überbringen.« Der Kapitän starrte ihn sprachlos an. »Führen Sie sie an Bord«, sagte der Kid. »Schließen Sie sie in einer Kabine ein, wo sie nichts von den Vorgängen auf der Landungsbrücke sehen kann. Verstehen Sie?«

Macpherson blinzelte mit den Augen, nickte und, sich umwendend, nahm er Alicias Arm flink in den seinen. Aufschreiend, suchte sie sich von ihm loszumachen. »John«, rief sie, »willst du mich verlassen?«

Aber John Given eilte bereits die Landungsbrücke hinunter und zog im Laufen seinen Revolver. Eine aufspringende Brise, die die Wellen draußen in der Bucht hoch auftürmte, riß ihm den Hut vom Kopfe. So stürmte er mit wild flatternden Haaren dem Kampfplatz entgegen.

Grenacho erteilte mit Stentorstimme seine Befehle. Nachdem seine Leute von ihren Pferden gestiegen waren, formierten sie sich zu einer Sturmkolonne und stürzten auf die Brücke zu. Als der Kid in die Hütte trat, sah er, wie der riesige Si Denny mit seinem Gewehr sorgfältig und bedachtsam Ziel nahm, ohne daß ihn seine gewohnte Ruhe verließ.

Neben dem Amerikaner standen die beiden Peons. Sie zitterten vor Furcht, schienen indessen entschlossen zu sein, an diesem Tage ihren Mann zu stehen. Auch sie bedienten sich ihrer Gewehre, aber der Kid begnügte sich mit seinem Revolver. Mit dieser Waffe konnte er schneller schießen. In dem Halfter an seiner linken Hüfte steckte noch ein zweiter Revolver, der nach dem ersten an die Reihe kommen würde. Auf diese Entfernung konnte er mit einem Colt ebenso genau schießen wie mit einem Gewehr.

So begegneten sie dem ersten Angriff und schossen die Spitze der Sturmkolonne über den Haufen. Selbst Grenachos Mannen wichen vor solch einem mörderischen Feuer zurück. Sie versteckten sich hinter Kisten und Taurollen und nahmen von hier aus die Hütte aufs Korn, die sie mit Kugellöchern durchsiebten.

Gleich bei der ersten Salve fiel der eine der beiden Peons mit einem erstickten Aufschrei aufs Gesicht und blieb still liegen. Eine Kugel streifte die Wange Si Dennys. Einen Augenblick später sank der zweite Peon zusammen, und der Kid wurde am linken Arm verwundet.

Aber die beiden hielten dennoch geraume Zeit stand, bis sie zum Hinterfenster der Hütte hinausblickten und gewahrten, daß den Mauleseln die letzten Säckchen abgenommen und über die Reling des Schiffes geworfen wurden. Im selben Moment wurde auch die Vertäuung der Rachel gelöst und der Bug des kleinen Schiffes von den Wellen abgetrieben.

»Beim Allmächtigen!« schrie Si Denny. »Die Hunde lassen uns hier ruhig für ihr Gold abschlachten. Kid, wenn Sie schnell laufen können, versuchen Sie, mich einzuholen!«

Damit sprang er blitzschnell zur Tür hinaus. Aber wie schnell er auch laufen mochte, dem leichtfüßigen Kid war er nicht gewachsen. Der hatte ihn bereits überholt, als die Mexikaner die Hütte erreichten und nun mit teuflischem Gebrüll hinter ihnen herstürzten.

Bald hatte der Kid das Schiff erreicht und schwang sich über die Reling, während ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen. Aber die Rachel bewegte sich nicht vom Fleck.

Die Schraube des kleinen Schiffes peitschte zwar das Wasser auf, doch die schweren Wellen schlugen gegen den Bug des Fahrzeuges und trieben es zurück. Schließlich trieb es langsam voran, ohne jedoch von der Brücke loszukommen. Für die menschlichen Tiger Grenachos würde es eine Kleinigkeit sein, an Bord des Schiffes zu gelangen.

Sie schwenkten ihre Waffen über den Köpfen und kamen wie eine Sturmflut herangestürzt. Endlich winkte ihnen der Sieg, um den sie so lange und erbittert gerungen hatten. Mit einer für seine Jahre staunenswerten Behendigkeit lief Grenacho allen voran. Er näherte sich schon dem mit lang ausgreifenden Schritten dahineilenden Si Denny.

Der Kid konnte dies alles sehen, als er sich auf Deck der Rachel umblickte. Dann fiel Denny plötzlich aufs Gesicht. Eine Kugel hatte ihn niedergestreckt.

Er war jedoch nicht tot. Der Kid sah, wie er wieder auf die Beine sprang und mit einem Blick seine Chancen abzuwägen schien. Er befand sich zwar nicht mehr weit von der Rachel entfernt, die sich immer noch längsseit der Brücke bewegte und langsam in Fahrt kam, aber der Abstand bis zu den ersten Verfolgern war noch weit geringer. Der riesige Yankee schien jetzt jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben zu haben, denn als er sich nach dem Schiff umwandte, war es dem Kid, als wenn er ihm mit einem Arm zum Abschied zuwinkte. Aus Furcht, er könnte Denny treffen, wagte der Kid nicht zu schießen. Wie gelähmt starrte er zu dem Kampfplatz hinüber.

Dann spielte sich ein seltsamer Vorgang vor seinen Augen ab: Als hätte er eine Kinderschar vor sich, stürzte sich Denny mit hocherhobenen Händen auf die heranstürmenden Banditen und brachte sie zum Stehen.

Das konnte der Kid nicht länger ruhig mitansehen. »Mut, Denny!« schrie er. »Ich komme!«

Er stürzte auf die Reling zu, erreichte sie jedoch nicht. Denn ein betäubender Schlag traf ihn gegen den Kopf und streckte ihn zu Boden. Aufblickend, sah er die gedrungene Gestalt Macphersons über sich.

»Drüben wird schon genügend Blut vergossen«, sagte der Kapitän. »Es ist nicht nötig, daß sich auch noch ein junger Narr dazwischenmischt. Beim Allmächtigen, einen regelrechten Kampf lasse ich mir wohl gefallen, aber Morden verabscheue ich! Sie werden schön hierbleiben, mein Jungchen!«

Stöhnend richtete sich der Kid auf die Knie. Er sah Si Denny inmitten eines wüsten Menschenknäuels. Die Banditen stürmten von allen Seiten auf ihn zu. Seine großen, grobknochigen Fäuste schlugen wie Schmiedehämmer zu, und unter jedem Schlag sank ein Mann zu Boden.

Messer blitzten auf, und Gewehrkolben wurden hoch in die Luft geschwungen, um ihm den Garaus zu machen, aber wunderbarerweise hielt er immer noch stand. Zweimal schwankte er unter dem lawinenartigen Ansturm der Feinde. Einmal sank er auf die Knie, und der Kid glaubte schon, daß sein furchtbares Schicksal besiegelt sei. Doch Si Dennys löwenherziger Mut war noch lange nicht gebrochen.

Als er sich wieder erhob, hatte er einen Mann bei den Beinen gepackt. Er schwang ihn um seinen Köpf und schleuderte ihn mit voller Wucht in die dichtgedrängte Schar der Feinde. Das verschaffte ihm eine geringe Atempause. Ohne jedoch an einen Rückzug zu denken, ging er zu einem erneuten Angriff vor.

Bei diesem Anblick geriet John Given so in Wut, daß er wieder zu der Reling zu gelangen suchte. Es war jedoch zu spät. Die Rachel war endlich von der Landungsbrücke losgekommen und reagierte auf das Steuer. Schnell entfernte sie sich aus dem Bereich der Gefahr. Zehn Fuß offenes Wasser trennte sie bereits von der Brücke, und der Abstand vergrößerte sich schnell.

Dem Kid blieb also nichts anderes übrig, als ruhig stehenzubleiben und verwundert nach dem Kampfplatz hinüberzustarren. Denn Denny lebte immer noch, und die sich wie wild gebärdende Schar drang immer noch von allen Seiten auf ihn ein. Schließlich wurde er niedergezerrt. Eine aufblitzende Messerschneide vergrub sich bis ans Heft in seinen Körper. So endete der letzte der furchtlosen Abenteurer. Erschüttert wandte sich der Kid ab.

Die Mexikaner gebärdeten sich wie die Wahnsinnigen, als sie das Schiff mit ihrer Beute davondampfen sahen, und überschütteten es mit einem Kugelhagel. Aber die kleine Rachel war in der Tat ein so flinkes Fahrzeug, daß sie bald außer Schußweite kam. Das Stampfen der Maschinen erschütterte das Schiff in allen Fugen, als es unter Volldampf durch die Wellen strich.

Doch der Kid achtete weder auf die Fahrt noch auf die Kugeln der Bande Grenachos. Er starrte verwundert auf ein seltsames Bild, das sich seinen Augen darbot: An Deck kniete Joseph Simon inmitten der mit Gold gefüllten Säckchen. Endlich hatte er sein Eigentum in Sicherheit gebracht. Tränen strömten ihm über die Wangen, während er die Augen beglückt zum Himmel aufschlug.

»Der Wille Gottes ist geschehen«, sagte Joseph Simon.

Der Kid konnte kein Wort über die Lippen bringen, er dachte an die drei Männer, die um des Goldes willen gefallen waren.


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