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30

Die Morgendämmerung brach herein, als Joseph Simon und seine Kavalkade die erste Bergkette kreuzten und das Blau des Ozeans erblickten. Das heißersehnte Ziel war immer noch weit entfernt, aber durch eine Lücke in der zweiten Bergkette konnten sie die schimmernden, blauen Wassermassen erkennen, denn die Luft war kristallklar. Sie sahen, wie sich die rosenfingrigen Strahlen der Morgenröte auf der Meeresoberfläche brachen. Bei diesem Anblick warf Joseph Simon die Hände empor und rief: »Denny, wir haben es endlich geschafft. Ulloa liegt hinter jener Bergkette!«

»Wir sind noch nicht darüber hinweg«, sagte Silas Denny ernst.

Er ließ seine Blicke über die lange Kette der dreißig Maultiere schweifen. Die Spitze der Karawane hatte bereits den Ausgang des Passes erreicht, während sich das Gros noch durch den Hohlweg hinaufschlängelte.

»Wir sind noch nicht darüber hinweg«, wiederholte er, »und wenn wir die nächste Bergkette wirklich überschritten haben, so müssen wir bis zur Landungsbrücke noch eine schöne Strecke über lockeren Sand zurücklegen. Und dabei sind diese Maulesel schon jetzt erschöpft.«

»Sie schwitzen doch gar nicht einmal übermäßig«, sagte Joseph Simon, indem er seinen Kopf zur Seite wandte und die Lasttiere ins Auge faßte. »Mein Pferd schwitzt mehr als sie.«

Denny warf ihm einen so verächtlichen Blick zu, als hielte er es nicht der Mühe wert, ihn über seine Unwissenheit aufzuklären. Aber schließlich sagte er: »Ein Pferd schwitzt äußerlich, ein Maulesel innerlich. Diese Tiere sind am Ende ihrer Kraft, sage ich Ihnen. Sehen Sie sich ihre Ohren und Augen an.«

Die Augen hatten in der Tat einen trüben Blick, und die langen Ohren wackelten schlaff auf und nieder.

»Diesen Augen sieht man nicht viel Bosheit an«, sagte Silas Denny, »und wenn ein Maulesel nicht mehr den Teufel im Leibe hat, so bedeutet das, daß es ungefähr mit ihm aus ist.«

»Und dennoch sind unsere Pferde noch verhältnismäßig frisch«, sagte Simon, »obgleich nicht einmal ein allzu großer Unterschied zwischen ihren Lasten und denen der Maultiere besteht.«

Si Denny zuckte seine massigen Schultern. »Es besteht ein gewaltiger Unterschied«, entgegnete er. »Die Pferde tragen ein lebendiges Gewicht; jene Traglasten aber sind ein totes Gewicht; es ruht auf einem Fleck und paßt sich den Bewegungen des Tieres nicht an. Das ist der Grund, weshalb die Maulesel mehr leisten müssen.«

Nun drang plötzlich ein scharfer spanischer Ruf von dem Ende der Maultierkarawane zu ihnen herüber. Jemand hatte Reiter gesichtet, die in voller Karriere hinter ihnen hergesprengt kamen.

Silas Denny wandte sein Pferd, ohne ein Wort zu sagen, und ritt an das Ende des Zuges. Vier Reiter waren aus dem bewaldeten Tal aufgetaucht und hielten direkt auf den Paß zu. Si Denny sann schnell darüber nach, welche Maßnahmen zu treffen seien. Joseph Simon war in einem Kampf nicht zu gebrauchen, und die meisten Maultiertreiber wußten nicht mit Gewehren umzugeben.

Aber Denny hatte während des langen nächtlichen Marsches zwei Männer ausfindig gemacht, die ihm zuverlässig zu sein schienen. Er hatte sie so weit in sein Vertrauen gezogen, daß er ihnen seine Befürchtungen, sie könnten verfolgt werden, mitgeteilt und sie gefragt hatte, ob sie gewillt seien, mit ihrem Leben für Simon und seine Gefährten einzutreten. Er war sogar noch weiter gegangen, indem er ihnen freimütig erzählte, was sie bereits vermutet hatten.

»Diese Maulesel sind mit Gold beladen«, hatte er gesagt. »Könnt ihr euch vorstellen, welche Belohnung euch zuteil werden wird, wenn der Transport durch euer tapferes Verhalten für uns gerettet werden sollte?«

Ihr Grinsen hatte ihn nicht im Zweifel gelassen, daß sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen würden, teils weil ihnen ihren Kameraden gegenüber der Vorzug gegeben war, teils weil sie ein frischfröhlicher Kampf ohnehin reizte. Da hatte er jedem ein Gewehr gegeben, an dem sie während des ganzen Marsches beständig umherfingerten. Jetzt fanden sie sich sofort bereit, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Wer diese vier Reiter auch immer sein mochten, ihren Angriff brauchte er nicht zu fürchten.

Er ließ den Mauleselzug ruhig weiterziehen, legte sich mit seinen beiden Gefährten an der engsten Stelle des Passes in Deckung und drückte sein Gewehr liebevoll gegen die Schulter. Aber er hatte kaum die erste Gestalt aufs Korn genommen, als einer der Peons sein Gewehr sinken ließ und rief: »Eine Frau!«

Er schien tatsächlich recht zu haben. Si Denny rieb sich die Augen und blickte dann angestrengt hinüber. Er sah, wie sie aus einer im Schatten liegenden Bodensenkung auftauchten und über eine von der Morgensonne beschienene Anhöhe dahinsprengten. Nun konnte er die Frau deutlich von den anderen unterscheiden. Sie ritt hinter den beiden ersten Reitern an der Seite ihres Mannes, dessen Pferd ihm bekannt vorkam; und im nächsten Augenblick wurde seine Vermutung auch schon durch einen zweiten Ausruf des scharfäugigen Peons bestätigt:

»El Vereal!«

Si Denny stieß einen leisen Fluch aus. »Ich wußte es doch! Marmont hatte recht!« murmelte er vor sich hin. »Ein Weib ist an all dem Unglück schuld. Möge der Teufel sämtliche Weiber holen! Das ist der Kid – und beim Himmel, Halsey und Marmont!«

Als sie ziemlich nahe herangekommen waren, riefen der Peon und Denny wie aus einem Munde: »Die Señorita Alvarado!«

›Verflucht und zugenäht‹, dachte Denny. ›Der Kid sucht sich die besten Bissen aus. Alicia Alvarado! Ganz San Triste wird in Raserei geraten, wenn diese Geschichte bekannt wird!‹

Doch nun zügelte die kleine Abteilung die Pferde und brachte sie dicht vor ihnen zum Stehen. Halsey sah mitgenommen und schmerzverzerrt aus, sein einer Arm ruhte in einer Binde; Marmont machte ein so finsteres Gesicht, als wenn er jemand umbringen wollte; Alicia und der Kid, alias John Jones, alias John Given, blickten dagegen so beglückt und zufrieden drein, als wären sie eben erst zu einem morgendlichen Spazierritt aufgebrochen.

»Das ist uns unterwegs in die Quere gelaufen!« sagte Marmont düster.

Dabei warf er Alicia einen so ingrimmigen Blick zu, daß Denny seinen Kopf schüttelte. Sie erinnerte ihn an ein gewisses junges Mädchen – wenngleich zwischen ihren beiden Gesichtern nicht viel Aehnlichkeit bestand –, von dem er vor langen Jahren in einem Dorfe in Neu-England Abschied genommen hatte, als er ausgezogen war, um in der Welt sein Glück zu versuchen.

Denny zog also respektvoll seinen Hut vor Alicia Alvarado.

»Señorita«, sagte er, »es freut mich, Sie zu sehen; aber ich bedaure sehr, Sie hier zu sehen!«

Sie lachte belustigt. »Wir haben die halbe Nacht ein sehr vergnügliches Spiel mit dem Feuer getrieben«, sagte sie. »Ich bin dem Feuer nur einmal etwas zu nahe gekommen, wie John sich auszudrücken beliebt!«

Sie hob den Saum ihrer Jacke auf und deutete auf ein kleines, rundes Loch. Es hatte genau die Größe, wie es eine Revolverkugel zu hinterlassen pflegt.

»Ich weiß, es war nicht recht von mir«, sagte der Kid demütig.

»Sie wissen es!« höhnte Denny. »Beim Himmel, sie solch einer Gefahr auszusetzen!«

»Genug davon!« warf Marmont ein. »Sie ist nun einmal hier. Daran läßt sich nichts ändern. Denny, das Gold befindet sich doch bereits an Bord des Schiffes? Hast du hier nach uns Ausschau gehalten, wie es sich für einen guten Kameraden geziemt?«

»Die Maulesel sind drüben im Tal auf dem Wege zu der nächsten Bergkette«, erwiderte Denny. »Es liegt noch eine schöne Strecke bis zu der Landungsbrücke vor uns. Und wenn wir am Ziel angelangt sind, wird es immer noch eine geraume Zeit dauern, bis das Umladen bewerkstelligt ist.«

Marmont warf die Hände empor und schrie wütend: »Idiot!«

»Maultiere haben keine Flügel«, versetzte Denny mürrisch. »Wir haben sie so schnell wie möglich vorangetrieben.«

»Sie sind uns hart auf den Fersen«, ließ sich Halsey vernehmen, indem er sich seufzend umblickte.

»Wer sind sie?« fragte Denny.

»Halb San Triste. Wie viele es sind, weiß ich nicht, aber du kannst Gift darauf nehmen, daß die besten Reiter unter ihnen nicht mehr weit entfernt sind. Um dir reinen Wein einzuschenken, Denny, will ich dir nur sagen, daß uns der junge Vereal und Cabrillo entkommen sind.«

»Zehntausend Teufel!«

»Eine Million Teufel, könntest du sagen. Wie sie es fertigbrachten, weiß ich nicht. Sie waren nur eine halbe Minute allein beisammen, während ich Marmont zu überreden suchte, ihnen nicht die Kehlen abzuschneiden, um uns keine Ungelegenheiten zu bereiten. Doch wir waren uns noch nicht handelseinig geworden, als die beiden sich schon ihrer Fesseln entledigt hatten. Wir kamen kaum mit dem nackten Leben davon. Wir ritten in der Richtung nach Ulloa davon, während die Gefangenen Hals über Kopf nach San Triste eilten. Dort angekommen, überzeugten sie Alvarado von der Identität des echten Vereal, wiegelten die ganze Stadt auf und würden den Kid überrumpelt haben, wenn ihn die Señorita, die treue Seele, nicht gewarnt hätte.

Von einer Schar heulender Teufel verfolgt, ritten sie davon und holten uns bald ein. Während der nächsten Stunde ließ sich ein ununterbrochenes, wolfsähnliches Geheul hinter uns vernehmen, das uns verriet, daß Grenacho mit seiner raubgierigen Bande die Verfolger anführte.«

Denny lauschte dieser Unheilsbotschaft mit sehr gemischten Gefühlen; aber als er alles vernommen hatte, zuckte er nur die Achseln und sprach mit ruhiger Stimme: »Sie werden die Maulesel mit ihren Lasten erwischen, bevor wir sie über die nächste Bergkette bringen können. Vielleicht werden sie uns ebenfalls erwischen. Der alte Simon wird jedenfalls an gebrochenem Herzen sterben, wenn er wieder um sein Geld kommt. – Hallo, Jones!«

Der Kid wandte ihnen sein lächelndes Gesicht zu.

»Wie können wir die Teufelsbande aufhalten, um sicher zu dem Schiff zu gelangen?«

Der Kid wandte sich dem Mädchen zu. »Alicia«, sagte er, »reite geradeswegs über den Paß und folge der Straße. In dem Tal wirst du den Maultierzug antreffen. Wir werden bald nachkommen.«

»Und du?« murmelte sie zögernd.

»Ich werde mich weiter auf mein Glück verlassen«, antwortete er. So winkte sie ihm denn mit der Hand zu, sprengte auf ihrem müden Pferde durch den Paß davon und war bald außer Sicht,


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