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5

»Kennen Sie Mexiko?« fragte Joseph Simon.

»Ich habe Mexikaner gekannt«, antwortete der Kid.

»In den Staaten?«

»Ja.«

»Dann kennen Sie sie überhaupt nicht. In einem fremden Lande fühlen sich die Menschen genau so unbeholfen wie Fische auf dem Trockenen. Bei den Mexikanern trifft dies noch in weit erhöhtem Maße zu. Die englische Sprache liegt ihnen ganz und gar nicht. Sie müssen in einer biegsamen, flüssigen Sprache sprechen. Sie fühlen sich nur unter Leuten wohl, die nicht über Gesten und Gebärden lachen. Uebrigens gehören die meisten Mexikaner in den Staaten den dienenden Klassen an. Sie repräsentieren Mexiko ebensowenig wie normannische Bauern den Pariser. Aber wenngleich der Rio Grande nur ein schmutziger, wasserarmer Strom ist, so bildet er doch eine der bedeutsamsten Demarkationslinien zwischen zwei Welten. Das auf dem nördlichen Ufer liegende El Paso ist zum Beispiel in jeder Beziehung eine moderne amerikanische Stadt; das jenseits liegende Juarez aber erinnert fast noch an das dunkle Mittelalter. Ein armes, rückständiges Land, könnten Sie glauben. Doch Mexiko hat seine Reize. Sie sind etwas in der Geschichte bewandert, nehme ich an?« fragte er plötzlich unvermittelt.

»Ich habe ein wenig gelesen«, lautete die bescheidene Entgegnung des Kids.

»Wie stellen Sie sich eine mittelalterliche Stadt vor?«

»Ein um einen Berg herumliegendes Dorf und eine Burg, hoch oben auf diesem Berge, nehme ich an.«

»Stimmt genau! – Wie soll ich Sie übrigens nennen?«

Der Kid sann eine Weile nach, als ob diese einfache Frage von einschneidender Bedeutung wäre. Schließlich sagte er: »Sie können mich John Jones nennen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Ich sehe, Sie gehören zu einer großen und bekannten Familie, Mr. Jones«, sagte Simon und lächelte verschmitzt.

Der Kid oder vielmehr John Jones zuckte die Schultern und würdigte seinen Gefährten nicht einmal eines Blickes.

»Um auf die Geschichte zurückzukommen, Mr. Jones«, sagte der andere, »Ihr Bild von einer mittelalterlichen Stadt schwebt mir just im Geiste vor. So ähnlich sieht nämlich die mexikanische Stadt San Triste aus. Sie liegt inmitten eines fruchtbaren Distrikts und hat ungefähr zehn- bis zwölftausend Einwohner. Ihre ärmsten Bürger sind nicht wirklich arm im Vergleich zu denen anderer mexikanischer Städte, und da können Sie sich wohl einen Begriff machen, wie es erst um die wohlhabenden bestellt ist. Dort sind viele alte Familien spanischer Abkunft ansässig, aber sowohl diese als auch alle anderen Bevölkerungsklassen San Tristes huldigten in früheren Zeiten – sagen wir: vor zwölf Jahren – einer Familie mit Namen Vereal.«

Da sah John Jones scharf zu seinem Gefährten auf. Er begegnete einem ebensolchen forschenden Blick. Beide schwiegen geraume Zeit.

»Das ist ein merkwürdiger Name«, murmelte John Jones schließlich.

»Sehr merkwürdig«, bestätigte Simon. »Es war eine ganz alte Familie. Wie weit ihr Name in der Geschichte Spaniens zurückreicht, weiß ich nicht; es steht jedoch fest, daß er dort bereits vor der Entdeckung Amerikas in großem Ansehen stand. Ein Vereal kam im Gefolge Cortez' nach Mexiko. Er zeichnete sich im Dienste aus, besonders in den Kämpfen um die Stadt Mexiko. Damals gab es keinen tapfereren Mann im ganzen spanischen Heere als diesen Vereal. Natürlich wurde er ebenso wie alle anderen Konquistadoren belohnt. Aber er unterschied sich von diesen insofern, als er die ihm zugefallenen Reichtümer zu bewahren wußte und sie nicht wie jene nutzlos verpraßte. Er erwarb riesige Ländereien. Als schließlich ganz Mexiko unterworfen war, siedelte er nach San Triste über. Dort herrschten die Vereals länger als dreieinhalb Jahrhunderte wie unabhängige Fürsten. Sie bauten Kirchen, versorgten die Hungernden in Notzeiten mit Lebensmitteln, züchteten riesige Viehherden und gründeten ganze Dörfer, die ihnen hörig waren. Kurz, sie lebten wie jene Barone im finsteren Mittelalter.«

Er machte eine Pause, um eifrig an seiner Zigarre zu saugen, die fast ausgegangen war. Danach nahm er seine Erzählung wieder auf.

»Doch welche Familie kann während einer Dauer von dreihundertfünfzig bis vierhundert Jahren ununterbrochen vom Glück begünstigt werden? Das war nicht einmal den Vereals vergönnt. Jedesmal, wenn eine Revolution ausbrach, setzten sie sich für das alte Regime ein. In dem mexikanischen Freiheitskampf fochten sie auf Seiten der Spanier und büßten so einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens ein. So ging es allmählich bergab mit ihnen. Die Vereals waren stets tapfere, konservative Männer, aber sie verstanden nie, ihren Vorteil wahrzunehmen. Ihre großen Besitztümer schmolzen zusammen! Ihnen gehörten freilich immer noch Minen in den Bergen, Plantagen in den Niederungen, Ranchen in den Steppen. Außerdem hatten die Vereals trotz all der achtlos verschwendeten Millionen einen unvergänglichen Besitz erworben: sie hatten sich die Herzen der Einwohner von San Triste erobert.

Wenn das Haus eines armen Mannes abbrannte, ließen die Vereals seine notleidende Familie in ein neues Haus bringen und versahen sie mit Nahrungsmitteln und mit Kleidern. Der Vater wurde mit den erforderlichen Ausrüstungsgegenständen versehen, damit er wieder seinem Beruf nachgehen konnte. Dann ging die Mutter wohl zur Kirche, um dem Priester zu beichten, daß sie im Zweifel sei, ob sie Gott oder den Vereals danken solle.

Sie werden sich vielleicht wundern, wie es möglich war, daß das Haus der Vereals während vierhundert Jahren stets so gute und edelmütige Männer hervorbringen konnte. Aber ich will durchaus nicht behaupten, daß sie alle ohne Ausnahme gut und edelmütig gewesen sind. Als Motiv für ihre Handlungen dürfte vielfach auch der Umstand ausschlaggebend gewesen sein, daß sie das Wohl und Wehe San Tristes für eine ihrer Familie anvertraute göttliche Mission betrachteten: Die Straßen, auf denen sie wandelten, waren von einem ihrer Vorfahren gepflastert worden; die Kirche, in der sie beteten, war von einem anderen erbaut worden; die Bäume hatte ein dritter gepflanzt. Die Stadt hieß San Triste, ihr gütiger Geist aber Vereal.

Wie weit sich ihr Einfluß auf diese Stadt erstreckte, kann ich Ihnen nicht bis ins einzelnste erzählen. Ich will nur einige Beispiele anführen: Wenn den Vereals ein Kind geboren wurde, hißten alle Häuser die Nationalflaggen und gelb und grün gestreifte Banner, auf denen in der Mitte ein roter Tiger kauerte. Das war das Banner der Vereals. Aber wenn ein Vereal starb, legte die ganze Stadt Trauerkleidung an. Die Leute schlichen bedrückt durch die Straßen und sprachen nur in gedämpftem Tone miteinander. Sie werden nun verstehen können, warum man die Vereals als Wohltäter so verehrte, daß sie auch zugleich einen wichtigen Machtfaktor in der Geschichte der Stadt darstellten.

Einst brach in der Provinz eine Revolution aus. Ein Detachement Aufständiger kam nach San Triste hineinmarschiert. Ungefähr tausend Soldaten machten auf der Plaza Municipal halt, und ihre Führer hielten Reden und forderten das Volk auf, sich ihnen anzuschließen, da das neue Regime mit Bestimmtheit die Oberhand gewinnen werde. Diese Vorfälle kamen Señor Vereal zu Ohren – Diego Vereal hieß er. Er nahm seinen Handstock – denn er war ein sehr alter Mann – und humpelte nach der Plaza Municipal hinunter. Als er dort angekommen war, hob er den Stock empor, um sich Gehör zu verschaffen. Die ihm zunächst stehenden Bewohner fielen vor ihm auf die Knie, damit diejenigen, die weiter zurück standen, ihn besser sehen und verstehen könnten. Er sagte indes nur: »Diese Männer sind Toren. Hört nicht auf sie.« Dann ging er wieder davon, und in fünf Minuten hatte man den Soldaten die Gewehre aus den Händen gerissen, ihre Uniformen zerfetzt, ihre Führer eingesperrt. Schließlich wurden die Soldaten zur Stadt hinausgetrieben.«

»Well«, sagte John Jones, »das war genau so gut, als wenn er eine eigene Armee besessen hätte, eh?«

»Ganz gewiß. Sogar noch besser, weil er sich alles in allem billiger dabei stand. Aber da fällt mir noch ein Vorfall ein: Ein Bandit raubte einst den Sohn eines reichen Mannes. Dieser Mann ging zu Vereal und bat ihn um Hilfe. Am nächsten Sonntag stand Vereal in der Kirche auf und sagte zu dem Volke: »Einige von euch kennen den Räuber Grenacho. Er hat den Sohn eines Mannes in San Triste geraubt. Berichtet Grenacho, daß dieser Mann mein Freund ist, und daß mir dessen Sohn ebenso lieb ist wie mein eigener.« Dann setzte er sich wieder hin. – Sie müssen wissen, mein Freund, daß dieser Grenacho ein furchtbarer Mensch war. Er war blutgierig wie ein Tiger. Ja, das ist er heute noch. Er hat Menschen um eine Kupfermünze getötet. Er hat sie getötet, weil sie ihn durch ihr Sprechen im Schlaf störten. Er hat sie zum Vergnügen getötet, wenn er sich langweilte. Solch ein Mann war dieser Grenacho. Um sich hatte er eine starke Räuberbande geschart, die seinen Befehlen bedingungslos gehorchte.

Sie werden sich vielleicht fragen, welchen Einfluß Vereal auf solch einen Mann haben konnte. Es gibt nur einen Grund: Grenacho war in San Triste geboren, und folglich durfte er sich nicht respektwidrig gegen einen Vereal verhalten. Eine Woche später wurde der junge Mann nach San Triste zurückgeschickt. Er hieß Francisco Cabrero. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem er bleich und abgezehrt in der Stadt ankam. Er suchte sofort den alten Don Diego auf und fiel vor ihm auf die Knie.

»Mein Kind«, sagte der alte Mann, »danke nicht mir, sondern deinem Vater.«

Der Umstand, daß Don Francisco heil und gesund zurückkehrte, kam Grenacho später sehr zustatten. Im nächsten Jahre wurde er nämlich gefangengenommen und nach San Triste gebracht, wo man ihm den Prozeß machte und ihn zum Tode verurteilte.

An dem Tage, an dem er hingerichtet werden sollte, riet man ihm, sich an Vereal zu wenden und ihn daran zu erinnern, daß er seiner Familie einst einen Gefallen getan habe. Es gelang ihm auch, einen Boten für sich zu gewinnen, der sein Anliegen vorbringen sollte. Der alte Don Diego war gestorben, aber sein Sohn, Pedro, nahm jetzt seine Stellung ein. Er war erst kürzlich von Paris zurückgekehrt, und ich entsinne mich noch an alle Einzelheiten, wie der Bote zu ihm hereingebracht wurde. Der arme Bursche war bestochen worden, um den Auftrag Grenachos auszuführen. Er blieb verlegen an der Zimmertür stehen und wagte nicht emporzublicken. Seine Worte hörten sich wie ein Murmeln an, so daß sie ein Diener wiederholen mußte. Als Don Pedro die Nachricht vernommen hatte, fragte er: »Stimmt das? Hat mir Grenacho einen Dienst erwiesen?«

»Jawohl«, sagte der Diener. »Im letzten Jahre hat er Ihrem Vater eine kleine Gefälligkeit erwiesen.«

»Das genügt«, sagte Don Pedro.

Er ließ seine Equipage anspannen und fuhr nach dem Gefängnis, wo das Urteil vollstreckt werden sollte. Er kam nur bis zur Tür eines großen Raumes, in dem sich mehrere Polizeibeamte befanden, und sprach nicht mehr als diesen einen Satz: »Ich wünsche, daß dieser Mann, Grenacho, in Freiheit gesetzt wird.«

Sie werden vielleicht denken, daß dies Verlangen selbst die Kompetenzen eines Vereal überschritt. Aber glauben Sie mir, Mr. John Jones, innerhalb fünf Minuten befand sich Grenacho in Freiheit. Man gab ihm noch obendrein ein Pferd und eine anständige Kleidung mit auf den Weg. Er begab sich zu dem Hause der Vereals und erschien vor dem jungen Don Pedro. Ich befand mich gerade in demselben Zimmer und werde den Anblick niemals vergessen.

Dieser Grenacho ist ein riesiger Mann mit einem langen, dünnen Schnurrbart. Er erinnerte mich an einen raubgierigen, mächtigen Berglöwen. Seine Haltung war stolz und selbstbewußt. Er stand mit über der Brust gekreuzten Armen da und schickte sich an, Don Pedro für die Rettung seines Lebens zu danken. Aber Don Pedro wollte ihn nicht anhören. Er hob eine Hand und ließ ihn gar nicht zu Worte kommen. Dann sprach er: »Man erzählt mir, daß du ein großer Schurke bist, Grenacho. Ich höre, daß du viel auf dem Kerbholz hast, und daß du unter anderem Männer aus San Triste ermordet hast. – Antworte nicht! Du lebst, und das genügt. Aber jetzt mach dich davon und laß dich nie wieder in dem Distrikt von San Triste blicken. Geh!«

Ich erwartete nun nichts anderes, als daß Grenacho seinen Revolver ziehen und Don Pedro ermorden würde. Statt dessen verbeugte er sich jedoch fast bis zum Fußboden und wich langsam zur Tür hinaus. Seit der Zeit hat er sich niemals näher als zwanzig Meilen an die Stadt herangewagt.«


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